Das Erbe sind wir. Michael Meyen

Das Erbe sind wir - Michael Meyen


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da 30 Jahre nach dem Studium, aber von Sigrid Hoyers Veranstaltungen zur ›Idee‹ habe ich später immer wieder erzählt, angemessen belustigt, damit meine Gesprächspartner mich nicht für verrückt hielten, aber auch mit dem Wissen, wie sehr mir das geholfen hat. Ja, eine ›Idee‹ lässt sich nicht erzwingen. Aber du kannst viel dafür tun, dass der Sprung von der Quantität (Recherche) zur Qualität (Originalität) wahrscheinlicher wird. Lesen vor allem, immer wieder lesen.

      Sigrid Hoyer hat den Brief noch, den Karl-Heinz Röhr im Januar 1990 an das Dekanat schickte, um eine Kollegin zu retten, die auch sein Schützling war. »Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien«, schon jetzt, fast ein Jahr vor dem Abwicklungsbeschluss. Sigrid Hoyer konnte ihre Arbeit nicht umschreiben. Sie wollte das auch nicht. Was sie sich bis heute wünscht: dass man ihr erlaubt hätte, die Arbeit zu verteidigen. Lasst uns doch schauen, ob das einen ›wissenschaftlichen Wert‹ hat, ganz unabhängig von allen politischen Systemen. »In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert«, sagt sie heute. »Gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt«. Günther Wartenberg, ein Theologe, drei Jahre jünger als Sigrid Hoyer, wie sie in den 1960ern in Leipzig Student und ab 1991 Prorektor für Forschung und Lehre, hat da nur mit den Schultern gezuckt. An dieser Universität, eine solche Arbeit?

      Man kann es sich leicht machen und sagen: So war das eben damals. Wenn Melanie Malczok, die heute Abend als Moderatorin zwischen Michael Haller und Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker sitzt, nachher zum ersten Mal ins Publikum schaut, wird der Finger von Reinhard Bohse nach oben schnellen, nicht viel anders als im ersten Nachwendejahrzehnt, in dem Bohse Pressesprecher der Stadt war und allgegenwärtig, wenn es um die Vergangenheit ging. »Eine Sauerei«, wird Bohse heute sagen. Die Stasi. Dieses brutale System, dass die Massen »hinweggefegt« haben. Die Leute, »die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben«. Reinhard Bohse weiß den hegemonialen DDR-Diskurs hinter sich. Er war 1989 dabei, als in Leipzig das Neue Forum gegründet wurde, und gehört seitdem zu den Guten. Mein Herz wird wie immer schneller schlagen, wenn ich diese Mauer aus Moral und Selbstgerechtigkeit sehe, an der meine Biografie zerschellt. In den nächsten Tagen, wieder mit Normalpuls, werde ich allen zustimmen, die Bohse loben – vor allem denen, die zu jung sind, um schon erlebt zu haben, wie Ostdeutsche um die Vergangenheit kämpfen. Ja, ohne diesen Beitrag wäre diese Veranstaltung nicht rund gewesen. Ohne diesen Beitrag kann man nicht verstehen, warum Sigrid Hoyer mit ihrer Dissertation B nicht einmal durchfallen durfte.

      Es ist nicht schwer, von hier in die 1990er-Jahre zu spulen, in ein Institut, das von Professoren regiert wurde, die auf der richtigen Seite der Geschichte geboren wurden. Michael Haller wird nachher auf dem Podium ausdrücklich die »Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« loben, »die wir aus der DDR-Journalistik haben behalten können«, aber zugleich das abwerten, was zum Beispiel Sigrid Hoyer als Wissenschaftlerin geleistet hat. Beide sind längst im Ruhestand, aber so ein Mikrofon verführt dazu, der Welt zu sagen, wie sehr man Recht hatte. Der Journalist »in einem demokratischen Rechtsstaat«: Das sei nun mal ganz anders. »Es hat keinen Sinn, museale Arbeit zu machen«. Haller verwendet diese Formulierung gleich zweimal, damit jeder weiß, wo die DDR-Journalistik hingehört. Ins Museum, vielleicht zu Ruth Bahls nach Göhren auf Rügen, wo man sich anschauen kann, wie die Fischer früher gelebt haben, ohne auf den Gedanken zu kommen, es ihnen heute gleichtun zu wollen. Für alle, die das nicht verstehen wollen, wird Michael Haller erzählen, welchen Journalismus er damals nach Leipzig bringen wollte. »Kritik und Kontrolle. Eine aufgeklärte, ausgeglichene, ausgewogene Berichterstattung. All das, was für uns seit den 1960er-Jahren selbstverständlich geworden war« – »von uns, von meiner Generation über Jahrzehnte erstritten« und jetzt in Geschenkverpackung mit dabei für die Brüder und Schwestern im Osten.


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