Das Erbe sind wir. Michael Meyen
da 30 Jahre nach dem Studium, aber von Sigrid Hoyers Veranstaltungen zur ›Idee‹ habe ich später immer wieder erzählt, angemessen belustigt, damit meine Gesprächspartner mich nicht für verrückt hielten, aber auch mit dem Wissen, wie sehr mir das geholfen hat. Ja, eine ›Idee‹ lässt sich nicht erzwingen. Aber du kannst viel dafür tun, dass der Sprung von der Quantität (Recherche) zur Qualität (Originalität) wahrscheinlicher wird. Lesen vor allem, immer wieder lesen.
In der akademischen Journalistenausbildung gibt es nichts mehr, was an Sigrid Hoyer erinnert. Um eine Theorie oder eine bestimmte Art zu lehren und zu forschen dauerhaft an der Universität zu verankern, braucht man eine Professur. Ohne eine Professur hat man keine Schülerinnen und Schüler, die das in ihre Texte aufnehmen (müssen) und später weitertragen und feiern, was man selbst gedacht hat, und auch keine Ressourcen, die eigenen Gedanken aus dem Seminarraum hinauszutragen. Sigrid Hoyer hatte ihre Dissertation B fertig, als die Mauer fiel.23 Alles zwischen zwei Buchdeckeln, was sie zur ›Idee‹ im Journalismus zu sagen hatte, gestützt auf »Dutzende Jahres- und Diplomarbeiten«, auf unendlich viele Werkstattgespräche in den Redaktionen und auf das, was sich außerhalb der Journalistik zum Thema finden ließ.24 Werner Gilde zum Beispiel, Direktor des Instituts für Schweißtechnik (!) in Halle, ein Patentjäger, der wissenschaftliche Durchbrüche für planbar hielt.25 Hans-Georg und Gerlinde Mehlhorn, zwei Bildungsforscher, die dann Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig ein Kreativitätszentrum gegründet haben, das mir und meiner Tochter Juliane viele Nachmittage und Abende versüßt hat. Und vor allem Franz Loeser, Ethik-Professor an der Humboldt-Universität, der Sigrid Hoyer in zwei Punkten bestärkte. Grundlagenforschung muss nicht anwendbar sein. Und: Es ist nicht nur möglich, Kreativität und Schöpfertum auf die Spur zu kommen, sondern mehr als wünschenswert. Eine ›Krönung‹ wissenschaftlicher Arbeit. Sigrid Hoyer hat ihre Dissertation B im August 1989 abgegeben. Das Verfahren wurde am 8. November eröffnet. Am nächsten Tag war nichts mehr wie vorher.
Sigrid Hoyer hat den Brief noch, den Karl-Heinz Röhr im Januar 1990 an das Dekanat schickte, um eine Kollegin zu retten, die auch sein Schützling war. »Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien«, schon jetzt, fast ein Jahr vor dem Abwicklungsbeschluss. Sigrid Hoyer konnte ihre Arbeit nicht umschreiben. Sie wollte das auch nicht. Was sie sich bis heute wünscht: dass man ihr erlaubt hätte, die Arbeit zu verteidigen. Lasst uns doch schauen, ob das einen ›wissenschaftlichen Wert‹ hat, ganz unabhängig von allen politischen Systemen. »In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert«, sagt sie heute. »Gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt«. Günther Wartenberg, ein Theologe, drei Jahre jünger als Sigrid Hoyer, wie sie in den 1960ern in Leipzig Student und ab 1991 Prorektor für Forschung und Lehre, hat da nur mit den Schultern gezuckt. An dieser Universität, eine solche Arbeit?
Man kann es sich leicht machen und sagen: So war das eben damals. Wenn Melanie Malczok, die heute Abend als Moderatorin zwischen Michael Haller und Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker sitzt, nachher zum ersten Mal ins Publikum schaut, wird der Finger von Reinhard Bohse nach oben schnellen, nicht viel anders als im ersten Nachwendejahrzehnt, in dem Bohse Pressesprecher der Stadt war und allgegenwärtig, wenn es um die Vergangenheit ging. »Eine Sauerei«, wird Bohse heute sagen. Die Stasi. Dieses brutale System, dass die Massen »hinweggefegt« haben. Die Leute, »die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben«. Reinhard Bohse weiß den hegemonialen DDR-Diskurs hinter sich. Er war 1989 dabei, als in Leipzig das Neue Forum gegründet wurde, und gehört seitdem zu den Guten. Mein Herz wird wie immer schneller schlagen, wenn ich diese Mauer aus Moral und Selbstgerechtigkeit sehe, an der meine Biografie zerschellt. In den nächsten Tagen, wieder mit Normalpuls, werde ich allen zustimmen, die Bohse loben – vor allem denen, die zu jung sind, um schon erlebt zu haben, wie Ostdeutsche um die Vergangenheit kämpfen. Ja, ohne diesen Beitrag wäre diese Veranstaltung nicht rund gewesen. Ohne diesen Beitrag kann man nicht verstehen, warum Sigrid Hoyer mit ihrer Dissertation B nicht einmal durchfallen durfte.
Über die Evaluierung mag Sigrid Hoyer nicht wirklich sprechen. Zu viele schlechte Erinnerungen, obwohl das für sie gut ausgegangen ist, auf den ersten Blick zumindest. Die Wunden sieht man nicht. Kolleginnen und Kollegen, die hinter dem Rücken tuscheln. Die Gründungskommission, na klar. Da weiß doch jeder, warum sie bleiben darf. Die Ungewissheit, die schon der Papierberg mit sich bringt, der jetzt beweisen soll, dass man überhaupt für den Job geeignet ist, für den man seit zweieinhalb Jahrzehnten bezahlt wird. Publikationen, Mitgliedschaften und Funktionen, Auszeichnungen, Stasi-Erklärung. Auf Karl Friedrich Reimers, den Gründungsdekan aus München, lässt Sigrid Hoyer nicht viel kommen, wie auch all die anderen nicht, die ich nach ihm gefragt habe. Ehrlich, verständnisvoll, zugewandt. Und doch. »Es bleibt eine Geste der Sieger, wenn sich der andere deutsche Staat anmaßt, über uns und unser Leben zu urteilen. Sie entschieden nach ihren Regeln, wer von uns integrierbar ist«. Sigrid Hoyer wurde gefragt, wofür sie die Leibniz-Medaille bekommen hat, keine ganz kleine Ehrung, vergeben von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. In der Liste der Preisträger steht Hans Joachim Meyer (2007), der Abwicklungs-Minister, neben Ruth Bahls (1975), meiner Englischlehrerin in Göhren auf Rügen, ›Frollein Bahls‹, eine Kapitänstochter, die wie Sigrid Hoyer ihre Reifeprüfung auf der Hansaschule in Stralsund bestanden hat (1929), dann Europa bereiste, was uns DDR-Kindern Ehrfurcht einflößte, und noch mit Mitte 70 vor der Klasse stand, obwohl sie nicht viel mehr gesehen haben dürfte als die erste Reihe. Es gab sonst an der Schule niemanden, der Englisch unterrichten konnte. Meine Eltern gehen jeden Tag an den Museen vorbei, die Ruth Bahls, Ehrenbürgerin von Göhren, dem Ort hinterlassen hat.26 Sigrid Hoyer: »Sollte ich mich rechtfertigen, weil ich die Medaille für wissenschaftliche Arbeiten bekommen habe, die nun auf den Prüfstand der Geschichte geraten würden?«
Es ist nicht schwer, von hier in die 1990er-Jahre zu spulen, in ein Institut, das von Professoren regiert wurde, die auf der richtigen Seite der Geschichte geboren wurden. Michael Haller wird nachher auf dem Podium ausdrücklich die »Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« loben, »die wir aus der DDR-Journalistik haben behalten können«, aber zugleich das abwerten, was zum Beispiel Sigrid Hoyer als Wissenschaftlerin geleistet hat. Beide sind längst im Ruhestand, aber so ein Mikrofon verführt dazu, der Welt zu sagen, wie sehr man Recht hatte. Der Journalist »in einem demokratischen Rechtsstaat«: Das sei nun mal ganz anders. »Es hat keinen Sinn, museale Arbeit zu machen«. Haller verwendet diese Formulierung gleich zweimal, damit jeder weiß, wo die DDR-Journalistik hingehört. Ins Museum, vielleicht zu Ruth Bahls nach Göhren auf Rügen, wo man sich anschauen kann, wie die Fischer früher gelebt haben, ohne auf den Gedanken zu kommen, es ihnen heute gleichtun zu wollen. Für alle, die das nicht verstehen wollen, wird Michael Haller erzählen, welchen Journalismus er damals nach Leipzig bringen wollte. »Kritik und Kontrolle. Eine aufgeklärte, ausgeglichene, ausgewogene Berichterstattung. All das, was für uns seit den 1960er-Jahren selbstverständlich geworden war« – »von uns, von meiner Generation über Jahrzehnte erstritten« und jetzt in Geschenkverpackung mit dabei für die Brüder und Schwestern im Osten.
Die Journalistik ist ein kleines Beispiel und vermutlich sogar ein schlechtes, weil die »Institution, die dafür da war, Propaganda zu erzeugen«, immer noch Menschen wie Reinhard Bohse aufregt, die neben der Gnade des richtigen Lebenslaufs viele gute Argumente haben.27 Man kann aber auch an diesem Beispiel die Konstellation studieren, die die Ostdeutschen degradiert hat und damit den Keim des Zweifels an dem säte, was die Westdeutschen Demokratie nannten. Ich denke dabei natürlich an Hans Poerschke und Karl-Heinz Röhr, die mit einer Geldspritze sediert werden sollten, oder an Wulf Skaun, der vom »Hoffnungsträger« der DDR-Journalistik zum Lokalreporter der Leipziger Volkszeitung in Wurzen wurde28 und heute schon vor dem Zeitgeschichtlichen Forum stand, bevor die Tür aufgeschlossen worden ist, vor allem aber denke ich an Menschen wie Sigrid Hoyer, die da weitermachen durften, wo sie vorher gearbeitet hatten, hier sogar in der akademischen Ausbildung, sich aber trotzdem allenfalls geduldet fühlen konnten. Mit ihrer Dissertation B war Sigrid Hoyer auf dem Weg zur Hochschullehrerin. Das heißt: Seminare, Vorlesungen, Prüfungsthemen anbieten können, ohne jemanden fragen zu müssen.