Das Erbe sind wir. Michael Meyen
den Menschen nur die Welt zeigten, die die »damals Herrschenden« dort sehen wollten?13
Karl-Heinz Röhr hat seinen Frieden auf dem Land gefunden, in einem Häuschen, das er Datsche nennt und das ihn, den gelernten Bergmaschinenmann, noch einmal zum Handwerker werden ließ. Heute wohnt er wieder in Leipzig, nicht weit weg von den beiden Kindern und ihren Familien. Wenn der Computer streikt, kommt ein Enkel. Dass ich das hier erwähne, sagt viel über den deutschen Osten. Meine Tochter arbeitet in Stuttgart und mein Sohn in München. Wie oft sehen sie da ihre Großeltern auf Rügen und in Flöha? Wie oft würde die Omi an der Ostsee etwas von ihrem Enkel hören ohne WhatsApp, wo er ihr das schickt, was er für den Zündfunk macht, ein Radiomagazin beim Bayerischen Rundfunk, obwohl er weiß, dass sie so eine Datei ohne ihn nur mit Mühe öffnen kann? Wer alt ist, hat überall auf der Welt »viel Vergangenheit und wenig Zukunft«.14 In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen aber wird das eine (die Vergangenheit) noch größer und das andere (die Zukunft) noch kleiner, weil die, die trösten könnten, oft weit weg sind. Im Westen. Da, wo die Arbeit ist.
WAS VOR 30 JAHREN VERLOREN GEGANGEN IST
Wenn man so will, ist Karl-Heinz Röhr heute die ›Spinne im Netz‹. Er hält gleich zwei Veteranenrunden zusammen: die Leipziger Journalisten und die, die mit ihm an der Sektion Journalistik gearbeitet haben. Gastvorträge, die Weihnachtsfeier, Beerdigungen. Einer muss dafür sorgen, dass die anderen Bescheid wissen und dann auch erscheinen, obwohl die Lust, die Wohnung zu verlassen, mit dem Alter nicht größer wird. Karl-Heinz Röhr hat auch an diesem Abend dafür gesorgt, dass viele der Ehemaligen gekommen sind, um Hans Poerschke zu hören. Selbst Sigrid Hoyer ist da, die solche Begegnungen sonst meidet, weil sie den Neid nicht mag, den sie in den Gesichtern einiger Kollegen von früher zu sehen glaubt, und weil sie nicht vergessen hat, was manche gesagt haben, als sie bleiben durfte und andere nicht. »Karl-Heinz zuliebe«, sagt sie, »und auch wegen Hans«.
Sigrid Hoyer hätte heute Abend durchaus vorn sitzen können, neben Michael Haller, einem Professor aus Hamburg, der gut ein Jahrzehnt ihr Chef war, neben Horst Pöttker, den die evangelische Kirche Anfang der 1990er-Jahre für ein paar Jahre nach Leipzig geschickt hat, der dann aber einen Lehrstuhl in Dortmund vorzog, und neben Heike Schüler, im Herbst 1989 immatrikuliert und heute Reporterin der Abendschau beim RBB. Eine Frau mehr auf dem Podium, dazu noch jemand, der nicht Professorin war und beide Systeme kennt: Das hätte vielleicht auch die beruhigt, die schon vorher wussten, dass heute Abend nur das herauskommen kann, was immer rauskommt, wenn man die sprechen lässt, die auch sonst das Sagen haben. Westdeutsche, Männer, Professoren.
Sigrid Hoyer war in der Gründungskommission der Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft, gewählt von den Kolleginnen und Kollegen, und damit sozusagen live dabei, als Karl Friedrich Reimers das Realität werden ließ, was er sich in München zurechtgelegt hatte. Sie hat selbst einen Reformplan ausgearbeitet, sehr früh schon, im Januar 1990, in einer ›Alternativgruppe‹, ohne Professoren, aber mit Uwe Madel und Andreas Rook, die mit mir im Herbst 1988 zum Studium nach Leipzig gekommen waren. Dieses Papier wirkt auch nach 30 Jahren taufrisch. Gleich auf der ersten Seite stehen die Wörter ›Chance‹ und ›Hoffnung‹. Wann, wenn nicht jetzt. »Nach einer neuen, sozial und ökologisch progressiven Lebensweise« suchen, »die weniger extensiv Ressourcen beansprucht und mehr wirklichen Raum für die freie, universelle Entwicklung der Individuen schafft«. Die DDR erneuern (okay, das hat sich inzwischen erledigt) und sich dabei beteiligen an der »globalen Suche nach einer neuen Entwicklungslogik der menschlichen Gesellschaft«.15
Die Diagnose könnte ich immer noch unterschreiben, aber die Euphorie von damals ist weg. Man muss in die Archive gehen und in die Details, um zu verstehen, was verloren gegangen ist in einem Prozess, der von Westdeutschen gestaltet wurde, die sich gerade eingerichtet hatten in ihrer Bundesrepublik und sich nicht viel mehr vorstellen konnten als das, was ihnen ohnehin schon ganz gut gefiel. Ein bisschen Kosmetik vielleicht oder, das hat Karl Friedrich Reimers mit der Leipziger Journalistik gemacht, etwas ausprobieren, was ›drüben‹ nicht ging, weil gewachsene Strukturen wehrhaft sind. Die ›Alternativgruppe‹ um Hoyer, Madel, Rook hat größer gedacht. ›Out of the box‹, würde man heute sagen. Ihr Papier fordert eine »umfassende demokratische Öffentlichkeit« und schlägt vor, damit am besten gleich an der Universität anzufangen. Studenten, die ihr Studium selbst organisieren, dabei nur einen minimalen ›Pflichtanteil‹ haben, von Anfang an gleichberechtigt in die Forschung einbezogen werden und in den journalistischen Übungen »druckfähige Manuskripte« produzieren.16 Bekommen haben wir Bologna. Stunden- und Semesterpläne, Klausuren mit Antwortvorgaben und Kästchen zum Ankreuzen, Hausarbeiten, bei denen die Plagiatssoftware wichtiger ist als die Dozentin. Wenig Selbstbestimmung und viel Schule.
Auch wenn das kurz wegführt von Sigrid Hoyer, Hans Poerschke und dem Leipziger Podium: Christoph Links, in der DDR Journalist und seit Dezember 1989 Verleger, hat gerade einen Schatz ausgegraben – mehr als 30 Gespräche mit ostdeutschen Liedermachern und Kabarettisten, geführt in den frühen 1990ern und jetzt gedruckt. Man sieht dort, dass das, was wir heute diskutieren, schon lange gärt und nur verschüttet war, vielleicht vom Erfolgsrausch, in den sich der Kapitalismus 1989/90 hineingetaumelt hat, vielleicht von dem Stress, den all das den Deutschen beschert hat, auf jeden Fall aber durch das Verstummen der Stimmen, die in diesen frühen Einheitsjahren noch kräftig sind. In den Interviews geht es um den Rechtsruck im Osten und um Neonazis, um Umwelt und Klima, um »die ungeheuer große Ausbeutung« des globalen Südens (bei Gerd Eggers und Udo Magister noch die »dritte Welt«) und um eine Gesellschaft, die auch deshalb auf den Abgrund zurast, weil ihre Logik will, »dass einer etwas für sich auf Kosten der anderen erreicht« (Norbert Bischoff).17 Alles schon da vor 30 Jahren. Alles als Problem erkannt – von Menschen allerdings, die gerade ihre privilegierte Sprecherposition verloren hatten und in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit nie wieder so prominent sein werden wie in der DDR.
Gerhard Gundermann zum Beispiel, Jahrgang 1955, wieder aus der Versenkung geholt von Filmregisseur Andreas Dresen,18 ahnte schon im April 1990, dass seine »Generation ein wenig übersprungen wird«. In der DDR von den Alten ausgebremst und jetzt ohne Chance gegen die Jungen (Unbelasteten) aus dem Osten und die Etablierten aus dem Westen. Noch ein wenig weiter im O-Ton dieses großen Künstlers: »Ich denke, irgendwann werden wir die bürgerliche Demokratie als Volk durchexerziert haben – als Kurzlehrgang. Es muss ja irgendwie weitergehen, und die Fragen, die die Welt heute stellt, sind nicht mehr alleine mit bürgerlicher Demokratie zu lösen«.19
Dresens Film über Gundermann erzählt, welchen Fragen er sich schon bald danach zu stellen hatte. Die Stasi. Überhaupt die DDR. Auch davon sprechen die Interviews in diesem Buch. Vom »Schuldsyndrom« (Stefan Körbel). Vom »Gefühl, sozusagen alles falsch gemacht zu haben. Das wird uns ja auch unentwegt signalisiert, und zwar von den Westdeutschen« (Edgar Harter). Von der Frage, warum man nicht ausgereist sei. Annekathrin Bürger spricht im September 1992 über die »vielen Kollegen«, die genau gewusst hätten, welche Chancen und welchen Film sie im Westen bekommen, wenn sie die DDR verlassen, und die jetzt so tun würden, als seien sie »politisch verfolgt« worden. Sie selbst werde sich deshalb nicht dafür entschuldigen, dass »ich nicht gegangen bin«.20 Diese Debatten werden die Deutschen jahrelang beschäftigen und gleich auch im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig wieder hochkochen.
Auf der Strecke geblieben sind neben den meisten Menschen, die in diesem Christoph-Links-Buch sprechen, Potenzial und viele der »tausend möglichen Antworten« (Gundermann21), die Wissenschaftler und Künstler der Gesellschaft vorschlagen. Man kann das leicht auf die Leipziger Journalistik übertragen, auf Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke, aber auch auf Sigrid Hoyer, die sich der Evaluation gestellt hat (»vielleicht war es Trotz, ich wollte mich nicht ducken«22), die Universität dann kurz verließ, obwohl sie grünes Licht bekam, aber zurückkehrte und noch gut anderthalb Jahrzehnte lehrte, gar nicht so viel anders als vorher in der DDR. Ihr Feld waren die Formen, die mehr sind als das Schwarzbrot, das die Zeitung nährt. Kolumne und Reportage, Essay, Feuilleton. Was sie in ihren Seminaren versucht hat, gleicht der Quadratur des Kreises. In meinen Worten: das kreative Element im Journalismus in eine Systematik pressen und damit