Das Erbe sind wir. Michael Meyen
in unserem Kollektiv haben mir geholfen, die gegenwärtige Situation richtig zu verstehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Deshalb möchte ich mich mit Hilfe eines guten Genossen im Verlauf des ersten Studienjahres auf den Eintritt in die Partei vorbereiten«.
Das Ganze hat sich dann doch ein bisschen gezogen, bis 1965, bis zur letzten Versammlung vor dem Diplom. Dazwischen lagen gute Zeiten und schlechte Zeiten. In unserem Interview nimmt das mehr Platz ein, was genervt hat. Das Zeitungsstudium unter Aufsicht, vor allem nach Parteitagen oder Plenartagungen der SED-Spitze. Die Dokumente durcharbeiten, das Wichtigste unterstreichen, diskutieren. Eine FDJ-Versammlung, noch im Herbst 1961, bei der eine Studentin zur Rede gestellt wurde, die sich ihre Pfennigabsätze bei der Großmutter in Westberlin hatte reparieren lassen. »Sie hatte Blinddarmbeschwerden und krümmte sich vor Schmerzen«. Ein Seminar im Wilhelm-Wolf-Haus in der Tieckstraße, auch im ersten Studienjahr, alle um einen langen Tisch, »jeder konnte jedem in die Augen sehen, eigentlich wunderbar für Diskussionen«. Der Seminarleiter zielte aber auf ein Bekenntnis: Warum wollt ihr Journalisten werden? »Ich glaube, wir haben alle Ähnliches geantwortet. Land und Leute kennenlernen, Interviews führen, beobachten, schreiben. Er war fassungslos, weil niemand gesagt hat, er wolle Parteijournalist werden«.
Die Studentin Sigrid Mahlow ist einmal auch selbst in die Schusslinie der Erzieher geraten, sehr öffentlich, im Forum, einem Wochenblatt der FDJ, »Zeitung der Studenten und der jungen Intelligenz«. Der Artikel heißt Experiment mit Sigrid, eine ganze Seite am 22. März 1962. Das ›Experiment‹: Man hat Sigrid Mahlow in die FDJ-Leitung gewählt und sie, so schreibt es Frank Wimmer, der Vorsitzende, auf diese Weise zum »Vorbild für die gesamte Gruppe« gemacht. Fast noch erhellender ist das, was dieser kleine Funktionär über die Atmosphäre an der Fakultät für Journalistik berichtet. »Zuspätkommen« (vor allem bei den beiden »wöchentlichen Argumentationen«, registriert über eine Strichliste), »Stipendienabzug« für zwei notorische »Bummelanten«, »ewige Schweiger« wie Sigrid Mahlow und Hans-Dieter Hoyer, ihr späterer Ehemann, »Betrug in den Seminaren« (Russischnacherzählungen einfach vom Blatt abgelesen) und, man höre und staune, »ein Freund«, der »sein FDJ-Dokument« verloren hat.33 Es war selbst dann nicht leicht, bis zum Diplom durchzuhalten, wenn man die DDR mochte und der Westen keine Option war.
Sigrid Hoyer ist sogar an der Fakultät in Leipzig geblieben, als das Studium vorbei war, eine Art persönliches Experiment, das sie heute auch mit der Frauenquote erklärt und mit einem Praktikum in der Wirtschaftsredaktion bei der Ostsee-Zeitung in Rostock, wo sie unter einem »dogmatischen Abteilungsleiter« litt und unter den »vielen Vorgaben«. »Dort keimte vielleicht erstmals der Gedanke, es möge mir erspart bleiben, nach dem Studium in so eine Redaktion delegiert zu werden«. So ähnlich wird es auch mir viele Jahre später gehen. Vom ersten Studientag an haben wir überlegt, was die Redakteure denken mögen, die 1990 verkünden werden, dass das Wohnungsbauprogramm erfüllt ist. Jedem eine Wohnung, warm, trocken, sicher: So hatte es der VIII. Parteitag der SED 1971 versprochen. Im Herbst 1988 musste man blind durch Leipzig laufen, um daran noch zu glauben. Warum also nicht länger an der Universität bleiben, zumal die Medienblase im ganzen Land von Glasnost und Perestroika blubberte und schwer vorstellbar schien, dass all die aufgeregten Geister um mich herum alles beim Alten lassen würden, wenn sie erst ausgeschwärmt waren in die Schreibstuben von Wolgast bis Suhl.
Karl-Heinz Röhr, der Sigrid Hoyer bei ihrem Aufstieg zur Dozentur immer ein wenig schubste, wenn sie sich selbst noch nicht bereit fühlte, stützt den Eindruck, dass die Brutstätte für Journalistinnen und Journalisten in Leipzig in gewisser Weise vogelfrei war, wenn es denn so etwas in der DDR überhaupt geben konnte. »Die politische Linie der Partei«, na klar, die hatte jeder »im Kopf«, der dort lehrte. Dekan und Direktor wurden Politiker, nicht herausragende Wissenschaftler. Emil Dusiska, der Röhr als Parteisekretär sehen wollte, hatte im Apparat Karriere gemacht, bevor er mit Anfang 50 zum Akademiker mutierte, ohne Abitur oder sonst einen höheren Abschluss. Es gab in Leipzig Professoren wie Wolfgang Wittenbecher, noch so jemand ohne nennenswerte Publikation, die darauf drängten, »dass zu jedem Seminar Literatur von Marx und Lenin angegeben« wird, was schon deshalb schwierig war, weil sich die beiden Klassiker »nicht zu jeder Frage geäußert« hatten, zur Recherche zum Beispiel nicht oder dazu, »wie man eine Nachricht schreibt«. Karl-Heinz Röhr hat das alles erlebt und war selbst »einer der Privilegierten«, die hin und wieder zum Zentralkomitee der Partei fuhren. »Ich habe nie irgendwelche Anweisungen bekommen«, sagt er. »Die politische Atmosphäre war bei uns besser und freier als in den Redaktionen. Dort gab es viel mehr Druck aus den Bezirksleitungen und aus der Abteilung Agitation. Bei uns schaute kein Mensch außer uns selbst richtig hin, und unsere Studenten waren junge Menschen, die viele Fragen hatten und sich nicht alles gefallen ließen«.34
Sigrid Hoyer mag das nicht ganz so stehen lassen. »Karl-Heinz wollte das auch so sehen«, sagt sie. »Ich habe ihn als Familienmenschen erlebt, der uns alle gern an einem großen Tisch versammelte. Ihm war der ehrliche Gedankenaustausch wichtig. Eine offene Gesprächsatmosphäre«.35 Es ist unklar, ob sich das auf den Parteisekretär Karl-Heinz Röhr bezieht oder auf den Professor für journalistische Methodik. Wahrscheinlich auf beide. Röhr hat überall versucht, sein »Sozialismusbild zu praktizieren«. Miteinander reden, auf die Menschen achten. »Bei mir gab es keine Parteiverfahren oder irgendwelche Strafen. Vorher war das gang und gäbe«.36 Sigrid Hoyer erinnert sich »an manche ratlose, ja quälende Diskussion«, vor allem kurz vor Schluss. »Dieses ewige Zwischen-den-Zeilen-Lesen«, diese Suche nach dem »kleinsten Ansatz einer Erklärung«. Nach der Wende hat sie gehört, dass »auch in diesem Raum Wanzen hingen«. Die »familiäre Atmosphäre«, die ihr Mentor Karl-Heinz Röhr bis heute beschwört und in seinen Veteranenrunden lebt: Sigrid Hoyer vermutet, dass dieser Wunsch in den 1960er-Jahren wurzelt, in der Idylle der Villa, in der die Fakultät untergebracht war, bevor das Hochhaus am Karl-Marx-Platz gebaut wurde, »ein wenig abgeschirmt vom Rest der Universität«. Ja: Dort gab es diese Strichlisten und übereifrige FDJ-Gruppenleiter, aber sonst war »alles sehr unakademisch«, freimütig, ohne die üblichen Hierarchien. Die Lehrer kaum älter als die Studenten und alle zusammen dabei, eine Journalistikwissenschaft zu erfinden, die Reinhard Bohse, der Mann vom Neuen Forum, heute für einen gar nicht so kleinen Teil des großen Übels hält.
Was hier nicht vergessen werden soll: Sigrid Hoyer ist auch deshalb dabeigeblieben, weil sie als Studentin auf Texte und auf Menschen gestoßen ist, die sie bis heute faszinieren. Willy Walther, der 1963 zur Genreforschung promoviert hat.37 »Als ich das gelesen hatte, spürte ich: So kann man journalistisches Tun durchschaubar, nach und nach handhabbar und damit auch lehrbar machen. Ein verführerischer Gedanke«. Ende 1962 eine Konferenz zum »Q in der journalistischen Arbeit«, ein Buchstabe, der im DDR-Deutsch für Qualität stand.38 »Dort wurden Fragen diskutiert, die mich sehr interessierten: Was Sprache alles mit Inhalten machen kann, wie originelle Blickwinkel einen Stoff zum Leuchten bringen und dem Leser Genuss bereiten«. Und ein Aufsatz von Dietrich Schmidt, erschienen 1961 in der Zeitschrift für Journalistik und auch noch Ende der 1990er-Jahre in den Seminarplänen von Sigrid Hoyer, obwohl die Überschrift eher Reinhard Bohse weckt (Journalistische Genres als Gestaltungs- und als Kampfformen) und der Autor schon auf der ersten Seite keinen Zweifel daran lässt, dass Genres für ihn nicht nur »Ausdrucksformen« sind, sondern auch »Waffen politischer Institutionen«.39 Wer weiterliest, merkt schnell, dass Dietrich Schmidt trotzdem nicht den Sprachrohr-Journalismus predigt, der die Massen im Herbst 1989 auf die Straße trieb. Sein Credo: Die Wirklichkeit dokumentieren, dabei eng an den Tatsachen bleiben, aktuell sein, verständlich, manchmal sogar sinnlich. Diese Denkschule hat Hans Poerschke geprägt, der heute Abend der Hauptredner sein wird,40 und Sigrid Hoyer zunächst alles geliefert, was sie für ihre Diplomarbeit brauchte,41 um sie dann fast ein halbes Jahrhundert in Forschung und Lehre zu begleiten.
WARUM AM ENDE ALLES ANDERS KAM, ALS ES DER GRÜNDUNGSDEKAN WOLLTE
Hans Poerschke war heute zum ersten Mal beim Inder. Ein Student hat ihn mit dem Auto daheim in Holzweißig abgeholt, knapp 50 Kilometer Fahrt, Abendessen inklusive. Für mich hat er einen Stapel Kassetten dabei. »Auf dem Dachboden gefunden«, sagt er. »Wenn ich noch Studenten hätte, würde ich