Das Erbe sind wir. Michael Meyen
zusammenbringt. Poerschke hat damals selbst einen Bericht geschrieben. Nützliches Kennenlernen und hoffnungsvoller Auftakt. Erstes Leipziger Seminar zur akademischen Journalistenausbildung.42
Dieses erste Seminar war zugleich das letzte, und selbst ohne das Wissen von heute muss man nicht den kompletten Kassettensatz durchhören, um den jüngeren Hans Poerschke als einsamen Rufer in der Wüste zu enttarnen. Ost und West reden aneinander vorbei. Sie müssen aneinander vorbeireden, weil politisch und theoretisch Welten zwischen diesen beiden deutschen Wissenschaftskulturen liegen. Die einen insistieren, dass es ohne ihren Marx nicht gehen wird, und die anderen wissen, was aus denen geworden ist, die genauso dachten. Wir haben den Marxismus »mühsam ausgerottet bei uns«, sagt Günther Rager, Professor für Journalistik an der TU Dortmund, erkennbar ironisch mit Blick auf seine Kolleginnen und Kollegen aus München, Göttingen, Eichstätt. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir uns das jetzt über den ›Umweg DDR‹ zurückholen wollen?«43 Rager wird ein gutes halbes Jahr später mit Hans Poerschke und meinem Kommilitonen Uwe Madel bei Minister Meyer sitzen und ihn überzeugen, das Kapitel ›Medienausbildung in Leipzig‹ nicht zuzuschlagen. Es ist ein kalter Dezembertag kurz vor Weihnachten, viel kälter als heute, mit Schnee und allem, was damals noch zum Winter gehörte. Beate Schneider und Klaus Schönbach aus Hannover haben kurz vorher abgesagt. Der weite Weg, die schlechte Bahnverbindung, das Wetter. Da scheint es »wenig sinnvoll, auf gut Glück und ohne Konzept zu einem kurzen Treffen beim Minister zu erscheinen«.44 In diesem Moment ist die Leipziger Journalistik mausetot. Seit dem Abwicklungsbeschluss vom 11. Dezember hat es überhaupt nur drei Proteste aus dem Westen gegeben. Zumindest liegt nicht mehr im Universitätsarchiv. Ein Telegramm aus Hannover, auch im Namen von Schneider und Schönbach, ein Schreiben von der IG Medien direkt an Kurt Biedenkopf und eins aus Dortmund, mit der Unterschrift von Rager neben der seiner sieben Professorenkollegen.45 Wir Studenten sind uns genauso einig wie die Leipziger Dozenten, dass der Gründungsdekan nur Günther Rager heißen kann, wenn er denn schon aus dem Westen kommen muss.
Ich werde später in diesem Buch ausführlich über Ende und Neustart berichten und auch über das Ost-West-Seminar, das Hans Poerschke im Mai 1990 auf Magnettonband festgehalten hat. An dieser Stelle nur so viel: Was in der Bundesrepublik unter den Namen Publizistik- oder Kommunikationswissenschaft gewachsen war, hatte wenig bis gar nichts mit dem zu tun, was Sigrid Hoyer und die meisten anderen umtrieb, mit denen ich als Student in Leipzig zu tun hatte. Auch hier wieder mit meinen Worten: Diese Dozenten wollten aus mir einen guten Journalisten machen. Dazu sollte ich verstehen, welche Aufgabe ein Journalist in der Gesellschaft hat, wie der Alltag in einer Redaktion abläuft, wie ich für das, was ich meinem Publikum sagen will oder sagen soll, die passende Form finde, und wie ich die Botschaft nicht nur fehlerfrei formuliere, sondern möglichst originell. Die Forschung war diesem Ziel untergeordnet. Untersucht wurde alles, was helfen konnte, die Ausbildung effektiver zu machen. In der Bundesrepublik interessiert das niemanden (zumindest keinen Hochschullehrer) – bis heute nicht. In München und Münster, in Mainz und Hannover ging und geht es um die Wirkung von Medien, egal ob man Journalisten interviewt, Artikel vermessen lässt oder Nutzer befragt. Was dort mit viel Aufwand erforscht wird, hat man in der DDR vorausgesetzt. Jeder Revolutionär wusste, dass man Zeitungen braucht und die Rundfunksender besetzen muss. Medien wirken, was sonst.
Es ist kein Zufall, dass Horst Pöttker heute Abend auf dem Podium sitzt, jemand, der von sich selbst sagt, dass er »sowohl Journalist als auch Wissenschaftler« sei, und der sich Mitte der 1990er-Jahre für Dortmund entschied, als ihm in Leipzig ein Lehrstuhl für Journalistik angeboten wurde. Es wird in der Diskussion dann nicht ganz klar, wie genau die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen beiden Standorten sind. Wer war zuerst da, wer hat was von wem übernommen? In Dortmund gab es ab 1976 einen Modellversuch und 1980 dann auch ganz offiziell einen Studiengang Journalistik. Von dem Namensvetter in Leipzig haben sich Ulrich Pätzold und Gerd G. Kopper, beide lange dort auf einer Professur, noch 2010 vehement abgegrenzt.46 Wolfgang R. Langenbucher, der parallel zu den Dortmundern zusammen mit der Deutschen Journalistenschule in München etwas ähnliches gestartet hat und auf den Kassetten vom Mai 1990 zumindest in meinen Ohren der angenehmste Gast aus dem Westen ist, erinnert sich, dass »ein Diplom für Journalisten« in den 1970er-Jahren »eine Absurdität« war. Leipzig, die »rote Kaderschmiede«.47 Im Zeitgeschichtlichen Forum wird sich nachher Steffen Grimberg melden, 1968 im Ruhrgebiet geboren, 1989 in Dortmund Diplomstudent, 2009 ausgezeichnet mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem wichtigsten Preis für Medienpublizistik, und sagen, dass der Dortmunder Studiengang »ja nach dem ›Leipziger Modell‹ aufgezogen war«. Praxis und Wissenschaft sehr eng verzahnen: »Das ging klar aufs Leipziger Konto, was damals keiner wissen durfte«.
Was die Leipziger relativ früh wussten: Drüben war man neidisch auf das, was im Hochhaus am Karl-Marx-Platz möglich war. Elisabeth Noelle-Neumann, Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach und eine Art Übermutter der westdeutschen Fachgemeinschaft, war vor allem vom ›Übungssystem‹ begeistert, als sie 1973 oder 1974 für eine Tagung in die Stadt kam (sie war zweimal da und es ist nicht ganz klar, wann sie das gesagt hat) und von Stilistik-Professor Werner Michaelis jeden Tag mit dem Trabant vom Hotel abgeholt wurde. »Sie meinte, so etwas würde sie in Mainz auch gern machen. Ihr würden aber die Lehrkräfte fehlen«. Michaelis wurde zu einem Gegenbesuch in den Westen eingeladen, von Noelle-Neumann »sehr zuvorkommend in ihrer Wohnung empfangen« (»sie hatte Pasteten gebacken«) und 1978 bei einer Tagung in Warschau von ihr verteidigt, als ihm der Diskussionsleiter aus Polen das Wort abschneiden wollte. Werner Michaelis erinnert sich auch an einen Kollegen aus Münster, der bei ihm »Lehrmaterial abgeholt« hat,48 und als ich im April 1990 zum ersten Mal in der Dortmunder Institutsbibliothek stand, lagen dort auch die Lehrhefte aus Leipzig.
Werner Michaelis hat es sogar in die Autobiografie von Elisabeth Noelle-Neumann geschafft, allerdings ohne Trabant und ohne Pasteten. Wenn man es genau nimmt: Eigentlich kommt er in diesem Buch von 2006 nur als Echo vor und steht nicht einmal im Personenregister. In der Episode, die Noelle-Neumann dort aus den Tagen der Studentenbewegung schildert, fragt sie »ganz unschuldig in die Runde« ihrer Mainzer Vorlesung, ob denn »der Professor Michaelis« damals schon in Leipzig gewesen sei – und »das halbe Auditorium« ›weiß‹ die Antwort (»Nein, der kam erst später«). Das Wort ›weiß‹ habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil die Geschichte vorne und hinten nicht stimmt, denn Werner Michaelis hat schon 1953 angefangen, künftigen Journalisten Deutsch beizubringen, ein Jahr vor der Gründung der Leipziger Fakultät. Noelle-Neumann geht es aber ohnehin nicht um historische Wahrheit, sondern um eine Pointe, einen Beleg für ihre Dauerfehde mit Marxisten und einen Beweis für ihre porentief reine antikommunistische Gesinnung. Der Name Michaelis muss für die These herhalten, dass die Proteste der Mainzer Studenten gegen Noelle-Neumann, die in einer Institutsbesetzung gipfelten, aus der DDR gesteuert waren, von eingeschleusten Provokateuren. Erkannt hat sie das »kurioserweise immer an ihrem Haarschnitt«. Lange Haare als Markenzeichen der Westlinken und ein kurzer Schnitt, »wenn sie von ihren Besuchen in der DDR zurückkamen«.49
Warum ich das hier erzähle? Elisabeth Noelle-Neumann war sehr dagegen, dass es mit der Leipziger Journalistik nach der Abwicklung weitergeht, und sie war, das habe ich erwähnt, nicht irgendwer in diesem wissenschaftlichen Feld. Steffen Grimberg, der Absolvent aus Dortmund, kann im Zeitgeschichtlichen Forum als Zeitzeuge sprechen, weil er im März 1990 nach Leipzig kam, um eine Studienarbeit zu schreiben über den Wandel an der Sektion Journalistik und in den DDR-Medien überhaupt. Er kann sich »erinnern, dass uns der letzte Parteisekretär die Schulungshefte übergab, mit den schönen Worten: Bitte betreiben sie keine Leichenfledderei«. Er weiß auch, dass es bei der Neugründung »tatsächlich auch um Machtfragen« ging und warum Günther Rager, sein Professor daheim im Pott, nie und nimmer als Leipziger Dekan in Frage kam, obwohl Dortmund »der geborene Partner« gewesen sei, »auch für die Evaluation in Leipzig«. Die Wahlen, sagt Steffen Grimberg. Erst die Volkskammer am 18. März und dann der sächsische Landtag am 14. Oktober 1990. Schwarz, ohne Wenn und Aber und damit auch ohne Günther Rager aus dem ›roten Dortmund‹ (Steffen Grimberg sagt die Anführungszeichen in Leipzig sicherheitshalber mit) und aus einem Bundesland mit SPD-Regierung. »Dann kam eben Reimers von der HFF in München«.50
An der Hochschule für Fernsehen und