Das Erbe sind wir. Michael Meyen
Die Kommunikationswissenschaft ist ein Erbe der Gründungsgeschichte. Otto B. Roegele, im Hauptamt Professor an der LMU München, war von der Landesregierung als erster Präsident der Hochschule auserkoren worden und brauchte irgendeinen Anker, um das nach außen verkaufen zu können. Den HFF-Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft bekam 1975 Karl Friedrich Reimers, der sich vorher als Filmforscher einen Namen gemacht hatte. In München ›passte‹ das, wie der Bayer so schön sagt. Von der ›Mainzer Schule‹ aber, die (Elisabeth Noelle-Neumann sei Dank) den großen Rest der Kommunikationswissenschaft infiltriert hatte, war Karl Friedrich Reimers genauso weit entfernt wie von der Leipziger Journalistik.
Vorn auf dem Podium im Zeitgeschichtlichen Forum wird das, was Steffen Grimberg »Machtfragen« genannt hat, heute nicht viel konkreter. Michael Haller, der letzte Chef von Sigrid Hoyer, spricht von einer »eher neoliberal geprägten Wissenschaftscommunity mit einer ausgeprägten Abwehr gegenüber allem, was aus der ehemaligen DDR kam«, und Horst Pöttker, halb Journalist, halb Wissenschaftler, von einer »konservativen und wenig liberalen Riege«. Beide haben vor 20 Jahren ein kleines Beben ausgelöst in dieser Riege, mit einem Beitrag über die NS-Vergangenheit der Kommunikationswissenschaft, erschienen im Aviso, dem Mitteilungsblatt der ›Wissenschaftscommunity‹, Pöttker als Autor und Haller als Redakteur. Überschrift: Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht. Eine Attacke gegen Elisabeth Noelle-Neumann, die 1937 mit einem DAAD-Stipendium in die USA fuhr, 1940 in Berlin promovierte und dann für Das Reich schrieb, das Wochenblatt von Goebbels.51 Pöttker im O-Ton von 2001: eine »Schreibtischtäterin« (von mir gegendert, sorry), die »markante Teile der NS-Ideologie« an Zeitungsleser vermittelte, später als Professorin in der Bundesrepublik »eine konsequente Personalpolitik im Sinne ihrer Positionen betrieb« und das »eigene Mitmachen« in »Distanz, ja Widerstand« umdeutete.52
Ich habe das selbst erlebt, an einem heißen Frühsommertag 1999 in Allensbach, wo ich Elisabeth Noelle-Neumann, längst über 80, zur Umfrageforschung in den 1950ern interviewen wollte.53 Bevor wir zur Sache kommen konnten, hat sie sich eine halbe Stunde von Vorwürfen entlastet, die mich, ein Kind der DDR und immer noch nicht vertraut mit den westdeutschen Kämpfen, bis dahin gar erreicht hatten. Selbst im Grab lässt dieses Thema Noelle-Neumann nicht ruhen. Ihre Wahlverwandten haben eine Biografie vom Markt geklagt, die Gobbels, Allensbach und Mainz in einer fulminanten Erzählung zusammenführte, und dabei auch Rezensionen löschen lassen und Jörg Becker, den Autor, persönlich angegriffen – einen Mann, der als »Kommunistenfreund« galt und auch deshalb nie auf eine Professur berufen worden war.54
Pöttker und Haller haben viel Prügel einstecken müssen für die Attacke von 2001.55 Vielleicht verzichten sie deshalb heute Abend darauf, auf dem Podium Ross und Reiter zu nennen. Der Name Noelle-Neumann fällt überhaupt nur einmal, in die Runde geworfen von Manfred Knoche, Medienökonom aus Salzburg, Jahrgang 1941, der sich immer noch sicher ist, dass er Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig einen Lehrstuhl verdient gehabt hätte und dafür seine Studienzeit in Mainz ins Feld führt, direkt an der Quelle der Macht. Man muss dazu wissen, dass Knoche an diesem Institut einer der Köpfe der Studentenbewegung war (damals wie heute mit langen Haaren, Selbstbild: »antiautoritärer Idealist«), 1972 an die FU Berlin floh und dort zum Jünger von Karl Marx wurde.56 Sein Groll gilt nicht nur Noelle-Neumann und ihrer ›Riege‹, sondern auch Karl Friedrich Reimers, dem Gründungsdekan aus München, aus dem Knoche im Zeitgeschichtlichen Forum eine Art Alleinherrscher macht, der in Leipzig nur deshalb keine Professur für Medienökonomie schuf, weil er ganz genau wusste, dass dafür nur einer in Frage gekommen wäre – er, der Marxist Manfred Knoche. »Ein ganz eigenartiger Typ, der mit Publizistik- und Kommunikationswissenschaft überhaupt nichts zu tun hatte. Seine einzige Qualität war, dass er aus Bayern kam und konservativ war, und zwar erzkonservativ«.
Es ist »viel Blödsinn« geredet worden bei dieser Veranstaltung, wird mir Karl Friedrich Reimers ein paar Wochen später am Telefon sagen. Das Video ist da schon auf YouTube, aber ich bin mir nicht sicher, ob Reimers sich damit auskennt. Man kann ihn nach wie vor nur per Brief erreichen oder eben anrufen. Jemand wie Reimers muss sich ohnehin nicht zwei Stunden Amateur-Film antun, bei dem man Sprecher und Kulisse nur mit Mühe erkennt. Wer einen Riesenladen wie das Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft aus dem Boden stampft, hat auch ein Vierteljahrhundert später genug loyale Zeugen vor Ort. Reimers geht es auch gar nicht um Manfred Knoche. Wer weiß, ob er davon überhaupt schon gehört hat. Er will über die sprechen, die auf dem Podium saßen, und über den Titel der Veranstaltung. Punkt 1: Man sei »auf den Hauptverantwortlichen« (also auf ihn) nicht zugegangen. Man habe sich nicht getraut. Punkt 2 und vermutlich der Grund für diesen »Skandal«: »Abriss« und »Verwestlichung«. Von wegen. Er persönlich habe die drei Kollegen für die Evaluierung ausgesucht, und zwar »nach Charakter«. Kurt Koszyk, Manfred Rühl, Dieter Roß. »Abwägende Köpfe, die mir am ehesten geeignet schienen, DDR-Leistungen im Gespräch einzuschätzen«. Reimers hätte auch sagen können: niemand aus der ›Mainzer Schule‹ von Elisabeth Noelle-Neumann. Er dreht das aber lieber positiv: Was er sich für Leipzig ausgedacht hatte, Kommunikations- und Medienwissenschaft, das habe es im Westen seinerzeit überhaupt nicht gegeben. Von Verwestlichung also keine Spur.57
Das stimmt, mein lieber Karl Friedrich Reimers, und stimmt doch nicht. Das klitzekleine Puzzleteil der deutschen Einheit, um das es hier geht, zeigt wie in einem Brennglas, dass selbst beste Absichten wenig auszurichten vermögen gegen gesellschaftliche Strukturen. Uwe Schimank, ein Soziologe, erklärt, warum nirgendwo das herauskommen kann, was ein Einzelner anstrebt. Immer handeln viele gleichzeitig und wollen jeweils etwas anderes. Sie beobachten sich dabei, reden miteinander, senden Signale. Dazu kommt das, was Schimank Erwartungsund Deutungsstrukturen nennt. Wie sehen wir die Welt, was erwarten andere von uns, was nehmen wir davon wie wahr und was macht das alles mit unseren Plänen, mit unserer Strategie, mit unserer Taktik?58
Karl Friedrich Reimers erzählt mir von der Aggressivität, auf die seinerzeit die Entscheidung stieß, die Sektion Journalistik irgendwie weiterleben zu lassen – nicht nur bei den Gefolgsleuten von Elisabeth Noelle-Neumann oder in der Bild-Zeitung, die ihn als Retter des ›roten Poerschke‹ verunglimpfte, sondern auch an der Universität Leipzig. Selbst einige Journalistikstudenten hätten gegen ihre alten Professoren gehetzt. Ich könnte hier Bürgerbewegte wie Reinhard Bohse ergänzen und all das ganz folgerichtig nennen, was es heute an diesem Standort gibt – ein großes Institut mit Medienpädagogik und Buchwissenschaft, mit Forschungsmethoden und PR. Man kann dort sogar einen ›Master of Science‹ belegen, der Journalismus heißt, aber der Name ist eine Mogelpackung. Gebacken wird hier ein ganz neuer Typ Medienforscher. Die Zutaten: an der Universität ein Drittel Informatik, ein Drittel Sozialwissenschaft und ein Drittel Praxis sowie ein Volontariat, am besten in der Region. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen, die sich das ausgedacht haben. Der Journalismus ist den meisten von ihnen egal. Sie brauchen Studenten, mit denen sie forschen können, und zwar so, dass man die Befunde in den USA präsentieren kann, wo die Medienforschung fest in der Hand von Menschen ist, die die Naturwissenschaften für das Nonplusultra halten.59 Messen, zählen, rechnen. Deshalb die Informatik, deshalb viel zu Erhebungsverfahren und Datenanalyse.
Kein Zweifel: Karl Friedrich Reimers hat in Leipzig mit aller Macht versucht, etwas zu schaffen, was er persönlich für innovativ halten musste.60 Kein Aufguss der ›Mainzer Schule‹, sondern ein ganz neues Haus, in dem alle leben können, die irgendwie zu Medien forschen, und in dem für ein paar Jahre sogar Platz war für Menschen, die etwas machten, was manche Mitbewohner für museumsreif hielten. Andreas Rook, der mit mir 1988 als Student nach Leipzig kam, Anfang 1990 mit Sigrid Hoyer in der »Alternativgruppe« an einem Studienprogramm schrieb und schließlich ›unser‹ Mann in der Gründungskommission wurde, erinnert sich, wie Reimers bei Berufungen an den Stellschrauben gedreht hat. Wenn jemand »aus dem Stall von Noelle-Neumann« kam, dann sei das klar benannt worden. Zugleich habe der Gründungsdekan wieder und wieder darauf gedrängt, nicht die Publikationsliste zum wichtigsten Kriterium zu machen. »Dann haben die DDR-Wissenschaftler keine Chance«.61
Wenn sich Karl Friedrich Reimers heute an seine Spaziergänge mit Hans Poerschke erinnert, dann sagt er immer noch »unsere Pläne« zu dem,