Der neue Sonnenwinkel Box 11 – Familienroman. Michaela Dornberg
Ach, was sollte es. Sie kannte hier niemanden, und es würde sie gewiss kein Mensch fragen, in welcher Zeit sie einen Marathon lief oder wenigstens einen halben. Außerdem war es nicht nur eine Strecke für Marathonläufer, sie hatte auch Frauen entdeckt, die fröhlich schwatzend mit ihren Stöcken auf der Strecke waren.
Sie begann sich auf ihr Abenteuer zu freuen, wollte gerade das Haus verlassen, als ihr Telefon klingelte.
Nina?
Mit ihrer Freundin würde sie auf jeden Fall reden, weil sie Nina nämlich überreden wollte, bei ihr das Wochenende oder ein paar freie Tage zu verbringen. Nina fehlte ihr.
Rasch lief sie zum Telefon, meldete sich und rief: »Da hast du aber Glück, ich wollte gerade das Haus verlassen. Willst du mir sagen, dass du kommen wirst?«
Es kam keine Antwort, und das war bei Nina ungewöhnlich, denn die plapperte sofort los.
Ulrike kam ein Verdacht, es war zwar richtig, dass nur Nina ihre neue Telefonnummer besaß, doch Sebastian hatte sie sich, wie auch immer, ebenfalls beschafft.
»Ich würde sehr gern kommen, Uli«, sagte er sofort, noch ehe sie sich wieder gefasst hatte. »Du fehlst mir, wir müssen reden, alles ist ein ganz furchtbares Missverständnis.«
Das schlug jetzt wirklich dem Fass den Boden aus.
»Sebastian, ich habe dir gesagt, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben möchte. Daran hat sich nichts geändert, und was, bitte schön, soll ein Missverständnis sein? Du hast mich belogen, und während du mir etwas von Liebe vorgesäuselt hast, von einer gemeinsamen Zukunft, weil mit deiner Frau doch alles so furchtbar ist, hast du alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mit ihr ein weiteres Kind zu bekommen, und wenn …«, sie brach ihren Satz ab, »es ist müßig, ein weiteres Wort darüber zu verlieren, lass mich endlich in Ruhe. Wenn du noch einmal bei mir anrufst oder gar hier auftauchst, dann mache ich meine Drohung wahr und lasse eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken, dass du dich mir nicht mehr nähern darfst.«
»Uli, ich weiß ja, dass ich dich verletzt habe, ich war nicht ganz aufrichtig, doch eines stimmt, und das musst du mir wirklich glauben, ich liebe dich über alles, und wir …«
»Sebastian, fang jetzt nicht damit an, wie wunderbar wir zusammengearbeitet haben«, unterbrach sie ihn. »Du siehst deine Fälle davonschwimmen, und wenn du das heraufbeschwörst, was zugegebenermaßen wirklich mal schön war, dann geht es dir doch um nichts weiter als den Profit, den du mit meinen Manuskripten machen kannst, um sonst überhaupt nichts. Also lass die Herumsülzerei, begreife endlich, dass es mit unserer Zusammenarbeit vorbei ist, wie mit uns privat. Übrigens kannst du mir auch nicht mehr damit drohen, dass ich verpflichtet bin, weiterhin für deinen Verlag zu arbeiten, weil mir sonst eine hohe Konventionalstrafe droht. Stimmt nicht. Das war mir vorher schon klar, doch jetzt habe ich es mir von einem Rechtsanwalt bestätigen lassen. Es besteht keinerlei vertragliche Verpflichtung. Übrigens, ich denke, dass es dich interessieren wird. Ich habe Kontakt zum Spektrum-Verlag aufgenommen, und dort sind sie vor lauter Begeisterung fast auf den Tisch gesprungen, als ich ihnen in Aussicht stellte, ihnen mein neues Manuskript zu schicken.«
Jetzt war es am anderen Ende der Leitung mucksmäuschenstill, und Ulrike wusste auch warum. Der Spektrum-Verlag war Sebastians größter Konkurrent, und wenn sein allerbestes Pferd im Stall ausgerechnet dorthin überwechseln wollte, dann musste das bei dem guten Sebastian eine Schnappatmung verursachen.
Es war ein Schuss ins Leere gewesen. Ulrike hatte sich überhaupt noch keine Gedanken darüber gemacht, welchem Verlag sie künftighin ihre Arbeiten anbieten würde. Aber das mit dem Spektrum-Verlag würde ihm schlaflose Nächte bereiten. Sollte es doch, sie hatte seinetwegen viele schlaflose Nächte gehabt und sich beinahe die Seele aus dem Leib geweint.
»Das kannst du nicht tun, Uli«, ächzte er schließlich mit bebender Stimme.
Ulrike wunderte sich, dass sie so ruhig sein konnte, als sie nun sagte: »Doch, ich kann, Sebastian. Du hast mir vorgemacht, was man alles tun kann. Doch ich möchte jetzt davon aufhören, weil ich nämlich keine Lust habe, auch noch ein einziges Wort mit dir zu reden. Ich habe eine Verabredung, zu der ich nicht zu spät kommen möchte …, äh …, mit einem sehr charmanten Herrn. Das nur nebenbei, und zum Abschluss noch einmal, rufe mich nicht mehr an, wage es nicht, hier vorbeizukommen. Nimm ernst, was ich dir gesagt habe, denn sonst musst du mit den angekündigten Konsequenzen rechnen.«
Nach diesen Worten wartete sie keine Antwort mehr ab, sondern legte einfach auf. Sie hatte sich töricht verhalten, es war unnötig gewesen, das mit der Verabredung zu erwähnen, so etwas machten Teenies, um jemandem etwas heimzuzahlen, keine erwachsenen Frauen. Sie befand sich halt noch immer in einem Ausnahmezustand und war nicht in der Lage, sachlich zu argumentieren. Dazu war sie noch viel zu verletzt. Sie hatte diesen Mann geliebt, hatte seinen Versprechungen geglaubt, auf ein gemeinsames Leben gehofft. Gefühle ließen sich nicht einfach abstellen.
Sie war so gut drauf gewesen, als sie sich entschlossen hatte, die Laufschuhe und das entsprechende Outfit anzuziehen, jetzt würde sie sich am liebsten wieder ausziehen, und dann?
Nein!
Jetzt war sie nicht mehr in der Lage zu arbeiten, jetzt würde sie sich nur noch auf ihr Sofa oder in einen Sessel setzen und Trübsal blasen. Und das wollte sie nicht, denn dann hätte er ja wieder gewonnen.
Man konnte seinen Problemen nicht davonlaufen, aber den Kopf freibekommen, das konnte man schon, und das war schließlich auch ihre ursprüngliche Idee gewesen. Außerdem war das Wetter schön, nicht zu kalt, nicht zu warm, es regnete nicht.
Ulrike verließ das Haus und fuhr mit ihrem Auto zu dieser Laufstrecke. Als sie dort ankam, entdeckte sie auf dem Parkplatz erstaunlich viele Autos, die Strecke schien beliebt zu sein. Sie sah Männer und Frauen, die entweder gingen oder kamen. Die ihr Pensum hinter sich hatten, machten professionelle Dehnübungen, von denen Ulrike keine Ahnung hatte. Wozu auch? Eines wusste sie, nämlich, dass aus ihr niemals eine verbissene Sportlerin werden würde. Und Marathon? Sie wusste nicht, was in ihrem Leben noch so alles passieren würde, doch eines wusste sie ganz gewiss, Sport, egal welcher Art, würde ihr Leben niemals dominieren. Befände sie sich jetzt noch an ihrem früheren Wohnort, dann würde sie sich mit ihrer Freundin Nina treffen, und sie würde gemeinsam mit ihr allenfalls einen gemütlichen Spaziergang durch den Stadtpark machen, um kein schlechtes Gewissen zu haben, weil man sich doch viel bewegen sollte. Das hörte und las man jetzt überall.
Nun, sie würde jetzt dieser Aufforderung Folge leisten. Ulrike steckte den Autoschlüssel in die Tasche ihrer Sweatjacke, und dann rannte sie einfach los, mit ziemlichen Tempo, weil sie nicht die geringste Ahnung davon hatte, was der richtige Laufschritt war. Der nette Verkäufer in dem Sportgeschäft hatte zwar versucht, ihr da ein paar Regeln beizubringen, doch sie war, ehrlich gesagt, nicht interessiert gewesen. Was sollte das, schließlich war sie schon während ihrer Schulzeit gelaufen, auch wenn es ihr nicht viel Spaß gemacht hatte und sie nicht unbedingt eine Sportskanone gewesen war. Aber verändert hatte sich ja wohl in den Jahren nichts.
Ulrike wusste selbst nicht, warum sie jetzt dieses Tempo vorlegte, sie nahm doch nicht an einem Wettlauf teil und musste als Erste das Ziel erreichen. Und die Leute ringsum, die nahmen sie nicht wahr. Wer hier auf die Strecke ging, wollte seinen Sport machen, sonst nichts.
Sie wäre besser zum See gegangen, dort ein Stückchen gelaufen. Hier hatte sie das Gefühl, unter einem Zugzwang zu stehen, weil alle, egal ob Männer oder Frauen, eine so unglaubliche Leichtigkeit hatten, wenn sie an ihr vorbeiliefen.
Ulrike wurde nicht nur nervös, sondern sie wurde schneller, ihr Atem ging stoßweise, und das konnte es doch wirklich nicht sein. Laufen war nicht ihr Ding, sie wollte umdrehen, machte eine unbedachte Bewegung, stolperte, ruderte mit ihren Armen herum und wäre hingestürzt, hätte einer der Läufer nicht gestoppt und sie aufgefangen.
Sie konnte sich nicht sofort bedanken, denn sie japste, musste erst einmal ihren Atem beruhigen. Endlich konnte sie ein mühsames »danke« hervorstoßen, dann sah sie ihren Retter an. Es war ein sehr sympathisch wirkender Mann mit einem durchtrainierten Körper, und im Gegensatz zu ihr hatte er keine Atemprobleme.
»Schon