Der neue Sonnenwinkel Box 11 – Familienroman. Michaela Dornberg
Jeder Mensch gerät in seinem Leben in Situationen, die ihm den Boden unter den Füßen wegreißen, die alles auf den Kopf stellen. Besonders schlimm sind Krankheit und Tod. Aber auch wenn ich mich nehme: Ich hatte mich auf ein Leben mit Stella und den Kindern eingestellt, ich war glücklich, und ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Stella mich verlassen würde, nicht nur das, sondern dass sie mit einem anderen Mann und den Kindern nach Belo Horizonte gehen würde. Es war grauenvoll, ich war verletzt, unglücklich, fühlte mich wie ein Blatt im Wind …, ich habe es überlebt, Charlotte ist auf meinen Weg gekommen, und heute ist es so, dass ich glücklich darüber bin, dass es so gekommen ist, denn ich weiß, dass ich Stella niemals hätte heiraten dürfen, sie passte überhaupt nicht zu mir. Wir haben irgendwie funktioniert, mehr nicht. Es war eine Schnapsidee, sie zu heiraten, nachdem Ricky Fabian, den Bruder, geheiratet hatte. Bei denen war es Liebe, bei uns …, ich weiß nicht mehr, was es war. Doch es hätte funktionieren können, weil ich es nicht anders kannte. Erst das Zusammenleben mit Charlotte hat mir die Augen geöffnet, mir bewusst gemacht, dass es noch etwas ganz anderes gibt im Leben …, was ich allerdings niemals verwinden werde, das ist der Verlust meiner Kinder.«
»Ach, Jörg, du weißt überhaupt nicht, wie oft ich an sie denke, wie oft ich mich frage, wie es ihnen wohl geht.«
»Mama, das weiß ich auch nicht mehr, und das zerreißt mich fast. Ich kann nur froh sein, Sven und unsere kleine Lena in meinem Leben zu haben, die lenken mich ab, ein Ersatz für das, was ich verloren habe, können sie aber nicht sein.«
»Vielleicht hättest du Stella doch nicht das alleinige Sorgerecht übertragen dürfen.«
»Mama, Stella ist mit den Kindern ausgewandert, sie ist, dank des Erbes ihrer Tante, wie du weißt, finanziell unabhängig. Sie hätte auch hier das Sorgerecht bekommen, weil sie sich um die Kinder kümmern kann, und bei den Gerichten wird in erster Linie das Kindeswohl in den Vordergrund gebracht, und da hat eine Mutter immer die besseren Karten. Ich hätte meinen Job nicht aufgeben können, denn dann wären meine Einnahmen eingebrochen, ich hätte die Kinder fremdem Personal überlassen müssen. Ach, Mama, es ist müßig, darüber zu reden. Man kann über Stella sagen, was man will, eines nicht, dass sie eine schlechte Mutter ist. Die Kinder waren ihr immer das Wichtigste in ihrem Leben, und so wird es auch geblieben sein. Wenn wir miteinander in Verbindung waren, machten die Kinder einen glücklichen, fröhlichen, zufriedenen Eindruck. Sie waren sehr schnell in ihrem neuen Leben angekommen, und wenn sie mit mir redeten, wurden sie immer verkrampfter, und es kam sogar vor, dass sie abbrachen, weil sie etwas anderes vorhatten, was ihnen mehr Spaß machte.«
»Jörg, du sprichst immerzu in der Vergangenheit. Wie ist es denn jetzt?«
Er zögerte mit der Antwort, trank langsam von seinem Kaffee, aß ein, zwei Kekse.
»Mama, ich weiß es nicht, denn unsere Verbindung ist seit geraumer Zeit abgebrochen, zuletzt hörte ich von ihnen, dass es ihnen gut ginge, dass ich mir keine Sorgen machen solle, dass sie mit Mama wegziehen würden und dass sie sich darauf sehr freuten.«
Inge fiel die Kaffeetasse aus der Hand, zerbrach, sie musste aufspringen, um den Kaffee vom Tisch zu wischen, dabei zitterte ihre Hand so sehr, dass sie das Tuch kaum halten konnte, und ihre Gedanken überschlugen sich.
Was hatte Jörg da gerade gesagt?
Als sie bemerkte, dass sie noch immer auf dem Tisch herumwischte, obwohl da nichts mehr zu wischen war, brachte sie das Tuch weg, setzte sich, starrte ihren Sohn an und erkundigte sich mit tonloser Stimme: »Du weißt nicht, wo die Kinder sind? Was ist da geschehen?«
Er hätte es besser seiner Mutter nicht erzählen sollen, er kannte sie doch, deswegen hatte er ja auch bislang geschwiegen, und das hätte er weiterhin tun sollen. Für diese Einsicht war es jedoch zu spät.
»Mama, ich habe Nachforschungen angestellt, und dabei ist herausgekommen, dass Stella diesen anderen Mann verlassen hat. Und sie hat alles in trockene Tücher gebracht, ehe sie Brasilien verlassen hat, sie hat das deutsche Jugendamt informiert, das für unsere Belange, weil wir ja Deutsche sind, zuständig ist. Sie hat ihre Vermögensverhältnisse dargelegt, und da müssen wir uns keine Sorgen machen, sie hat von diesem Mann wohl eine ordentliche Abfindung erhalten, sie hat Gesundheitsgutachten und psychologische Gutachten über sich und die Kinder beigefügt, sie hat über die Trennung berichtet und dass sie Brasilien verlassen würden, wohin sie gehen wollten, hat sie offen gelassen. Sie hat all ihre Spuren verwischt, und sie hat niemandem etwas gesagt, auch nicht Fabian, ihrem Bruder, mit dem sie doch so eng war. Zu dem und dessen Familie hat sie ja, wie du weißt, längst schon den Kontakt abgebrochen.« Inge wollte etwas sagen, doch Jörg hinderte sie daran. »Mama, was immer du jetzt vorbringen möchtest, lass es bleiben. Es ist ganz schrecklich, dass mein eigen Fleisch und Blut nun ganz aus meinem Leben verschwunden ist, doch damit muss ich mich abfinden, das müssen wir alle. Es besteht nur noch die Hoffnung, dass die Kinder oder eines von ihnen irgendwann den Kontakt zu mir aufnimmt. Mit der Volljährigkeit erlischt das Sorgerecht der Mutter. Der Kontakt zu den Kindern war immer gut, sie wissen, dass ich sie liebe, dass meine Tür jederzeit für sie offen ist. Ich weiß nicht, was Stella da abzieht, ich habe keine Ahnung, warum sie diesen Mann verlassen hat, ohne den sie doch nicht mehr leben wollte. Doch eines weiß ich, bei all ihrer Unzulänglichkeit, was vieles in ihrem Leben betrifft, sie ist eine Löwenmutter und wird sich immer vor die Kinder stellen.«
»Aber was das alles in deren Seelen anrichtet, das weißt du nicht, mein Junge.«
»Mama, nichts ist perfekt, und auch in einem scheinbar harmonischen Elternhaus gibt es große Mängel.«
»Was willst du damit sagen, Jörg«, kam es wie aus der Pistole geschossen, dabei wusste sie doch, was er andeuten wollte.
Jörg blickte seine Mutter an, und Inge bereute auch sofort ihre unbedachte Äußerung, denn sie spürte, was kommen würde, und richtig, Jörg legte auch sofort los: »Mama, bei uns herrschte doch auch nicht eitel Sonnenschein.«
Sofort glaubte Inge, ihren Werner verteidigen zu müssen, denn auf den waren Jörgs Worte abgezielt, ohne dass er es ausgesprochen hatte.
»Papa hat euch immer geliebt, liebt euch, und er hat dafür gesorgt, dass es euch an nichts mangelte. Interessierten euch teure Hobbys, wurden sie bezahlt, und ihr konntet, wenn ihr wolltet, auch ohne euch Sorgen machen zu müssen, studieren. Und wenn du bedenkst …«
Jörg unterbrach seine Mutter.
»Mama, mach dir und mir nichts vor, ja, es ist richtig, dass wir ein privilegiertes Leben führen durften, doch Geld, teure Hobbys, teure Fahrräder oder was auch immer, das ist nicht alles. Ich beispielsweise wäre mit meinem Vater gern mal zu einem Fußballspiel gegangen, hätte mich gern mal mit ihm unterhalten, nicht nur am Frühstücks-, am Mittags- oder am Abendbrottisch. Ich hätte ihm gern erzählt, wer ich wirklich bin, wie es in mir aussieht. Zu so etwas ist es nie gekommen, und ehrlich mal, im Grunde genommen war Papa für uns als Kinder und Heranwachsende nichts mehr als ein seltener Besuch, der Geschenke mitbringt. Wobei ich nicht einmal weiß, ob du ihm vorher nicht gesteckt hast, dass er und was er uns mitbringen soll.«
»Jörg, Papa hat aber …«
Wieder unterbrach Jörg seine Mutter, weil er aus vielen Gesprächen in der Vergangenheit wusste, dass es nichts brachte, dass sie sich im Kreise drehten.
»Mama, es ist vorbei, wir akzeptieren mittlerweile Papa alle so, wie er ist. Er hat ja auch seine guten Seiten, und wenn du so willst, hätte es uns schlimmer treffen können. Aber so, wie wir alle dich lieben, kann es mit Papa nicht mehr werden. Wenn man etwas ernten möchte, muss man es zuerst säen, sorgsam pflegen und gießen, dann kann man ernten. Wenn Papa jetzt sein Leben um die Ohren fliegt, dann hält sich mein Mitleid in Grenzen. Außerdem habe ich, ehrlich gesagt, auch überhaupt keine Lust, über Papa zu reden und das, was wir geworden sind. Dank dir, liebe Mama, sind wir Menschen, die ihren Weg gehen, die wissen, was sie tun. Ricky hat sich für Familie und Kinder entschieden, ist glücklich. Ich rechne ihr hoch an, dass sie ihre persönlichen Interessen zurückgestellt hat, als ihr in den Sinn gekommen war, doch zu studieren und sie merken musste, dass die Kinder und Fabian darunter leiden würden. Hannes ist ein großartiger junger Mann, der genau weiß, was er will, und er hat so viele Talente. Er hat