17. Mike Müller-Reschreiter
nicht so’n Mist, keiner schießt auf uns!“
Ich sehe vermutlich ziemlich blöde aus, wie ich in der Kuhle liege, von oben bis unten mit Schlamm besudelt. Ich bin verwirrt. War es doch bloß das Unwetter?
„Ja spinne ich denn? Habe ich schon Halluzinationen?“, versuche ich zu reflektieren.
„Harry, beruhige dich, da ist doch bloß ein Blitz in den Wald gedonnert! Mensch, schau dich mal an, wie du aussiehst“, stichelt Heinz mokant.
Durch den Regen zwängt sich ein Umriss zu uns. Heinz wirft sich sichtlich erschrocken gegen den Erdwall und legt sofort die Waffe an.
„Halt, wer da?“, brüllt er, und ich vernehme zum ersten Mal Angst in dessen Stimme mitschwingen.
„Ich bin es! Werner! Ihr Pfeifen!“ Werner rutscht zu uns ins Loch und geht fast darin unter. „Was schreit ihr denn so herum, Mensch?“
„Harry dachte, wir werden beschossen“, gab Heinz dem verdutzen Werner zu verstehen.
„Wenn ihr weiter so einen Lärm veranstaltet, kann das durchaus geschehen!“
„Was willst'n eigentlich hier?“, will Heinz wissen, und dabei pfeift es ihm durch die Zähne, als er würde er aus einem Fahrradreifen Luft ablassen.
„Der Alte schickt mich zu allen Vorposten! Wir sollen uns sammeln, es geht mal wieder los!“
„Los geht’s? Und wohin geht es diesmal?“, raunzt Heinz. Ich steige nur wortlos darauf ein und pliere Werner an, der jedoch nur lässig mit den Schultern zuckt.
„Bin ich Hellseher oder was? Packt euer Zeug zusammen“, weist uns Werner zackig an, ohne weitere Worte der Erklärung zu verlieren. Was hätte er auch sagen können, wird ja sicher selbst im Dunkeln stehen. „Sammeln in einer halben Stunde auf der Lichtung da hinten!“
Ich sehe Werner weiter fragend an. Doch der zieht sich nur aus dem Loch und verschwindet wieder im Regen. Wir kratzen also unser pitschnasses Zeug zusammen und stopfen es in unsere Beutel. Da unsere Klamotten sich mit Wasser vollgesogen haben, ist der kurze Weg zur Lichtung der reinste Kraftakt. Gruber faucht schon von weitem.
„Zackiger, meine Herren!“, herrscht er uns entgegen. Eine müde und abgemagerte Gruppe schart sich wenige Augenblicke später um ihn herum. Aus der Ferne betrachtet sehen wir vermutlich wie eine Trauergemeinde aus, die sich labil gekrümmt um das noch offenstehende Grab drängt.
Wir sind natürlich die Letzten, die auf der von Regen durchnässten Lichtung eintreffen, was uns einen saftigen Anschiss vom Alten einbringt. Nachdem er uns zusammen gebrüllt und kurz frisch angewiesen hatte, ziehen wir weiter. Wohin genau? Das weiß keiner von uns so recht, nur dass wir immer Richtung Westen marschieren. Das liegt auf der Hand. Oder darunter? Dazwischen?
Heinz grübelt fortwährend, was wohl der Zweck unserer Wanderung sei? Weil wir uns ja eher als eine illustre Wandergruppe betrachten, die von einem Baum zum nächsten flaniert. Wir ahnen noch nicht, dass wir uns in einer Art Schlauch bewegen, welcher stündlich enger werden sollte! Später erwies es sich als bestätigt, dass sich die Heeresgruppe Mitte unter General Wenk über die Elbe schob, um sich den Amerikanern zu ergeben.
„Ich glaube, unser Feldwebel hat keinen blassen Dunst und läuft einfach nur der Nase nach“, gebe ich zum besten. Wir marschieren von Uhsmannsdorf zur Bahnverbindung bei Horka / Kodersdorf, die noch völlig intakt ist. Man hat hier auf eine Sprengung verzichtet, da uns die Zeit im Nacken sitzt.
Wir lassen Nieski rechts von uns und beziehen in dem kleinen Ort Jänkendorf Stellung. Bautzen liegt nicht weit weg. Ein wenig kenne ich mich schon aus, was die Geographie des Reiches anbelangt, daher vermute ich, dass der Alte die Elbe ansteuern will. Letzten Informationen zufolge halten viele Kampfverbände auf diese Linie zu, um der russischen Gefangenschaft zu entgehen. Ist der Ami schon dort? Offiziell zugegeben wird das mitnichten. Der Führer hat an alle Gefechtsstände den Befehl herausgegeben, dass jede eigenmächtige Frontverlegung mit der Erschießung des Verantwortlichen geahndet werden solle. Deserteure wurden und werden standrechtlich erschossen. Auch, wenn wir noch Pimpfe sind, so können wir doch zählen. Und es sieht nicht gut aus.
In jeder Ortschaft, in die wir kommen, bieten sich uns Bilder der Auflösung. Die Bewohner sind auf und davon. Die Eingangstüren und Fenster stehen sperrangelweit offen. Auf den Straßen säumen sich Habseligkeiten, von der Stoffpuppe eines Kindes bis zum Gebiss des Großvaters, welches er in seiner Hast verloren hat, aufgerissene Koffer, aus denen die Kleider quellen. Es ist wie leergefegt überall und ich frage mich, wohin die denn alle sind? Kolonnen von Flüchtlingen, die sich durch die Wälder schieben mit Oma, Opa, Mutter, Vater und Kindern, mit Sack und Pack, mit dem was sie zu tragen vermögen. Wir machen es ja nicht anders. Nur sind wir keine Zivilisten, und wenn man dem Feldwebel auf die Schliche kommen würde, stünden wir postwendend an der Wand. Heinz hat versucht, mit dem Alten über dessen Beweggründe zu sprechen, doch der hat ihn nur angeschrien und Heinz als Nachhut abgestellt.
Gegen Abend des 13. April 1945 erreichen wir das Dörfchen Jänkendorf an der Schwarzen Schöps. Die Dämmerung ist im Ausklingen und die Nacht wirft ihren Schatten auf die Gemäuer, aus denen kein Licht mehr dringt. Es wird stockdunkel. Gespenstisch still, fast unwirklich, wie die Hauswände bei unserem Einmarsch an uns vorüberziehen. Die Straßenlaternen haben eine neue, schreckliche Funktion aufgebürdet bekommen. Sie dienen als Galgen. Gott sei Dank hat sich die Nacht über diesen Anblick gelegt.
Feldwebel Gruber lässt die Truppe antanzen. In der Ortsmitte beziehen wir dann Freiluft-Quartier. Wachen werden eingeteilt und müssen sofort an den Ortseingängen Stellungen ausheben.
„Wachablöse alle zwei Stunden!“ Heinz und ich haben das große Los gezogen und dürfen jetzt für zwei Stunden die Beine lang machen. Uns knurrt der Magen so laut, dass man meinen könnte, ein Panzerregiment sei im Anrollen.
„Hier muss es doch was Essbares zu holen geben?“, flüstere ich Heinz zu. Doch der ist bereits weggeratzt. Mich will der Schlaf nicht holen, ich habe Hunger, friere mir den Arsch blau und stelle mir immer mehr Fragen, auf die ich keine Antwort finden soll. So schaue ich in den Nachthimmel, der aber nur mit Schwärze glänzt. Kein Stern zeigt sich in dieser Nacht. Nur der Mond blitzt ab und zu durch den Riss einer Wolke. Ist denn noch Krieg? Der Gedanke jagt mich. So still und friedlich, wie es war, kann man sich nur schwer vorstellen, dass just in diesem Augenblick nicht weit von uns die Nacht lichterloh brennt. Es dringt aber nicht der kleinste Hall des Schlachtens zu uns herüber.
Mir kamen sie wie ein paar Minuten vor. Augenblicklich sind die zwei Stunden Pennerei vorbei, als mich jemand derbe an der Schulter rüttelt und mich so aus meinem Traum reißt.
„Los, Hebrank, Wachablöse! Mensch, dein Schnarchen ist ja bis Berlin zu hören. Der Alte wollte dich schon in den Wald schaffen.“
Ich erhebe mich mit einer abfällig eindeutigen Geste. Heinz steht vor mir und legt sich sein Koppelzeug an.
„Na, dann wollen wir mal!“
„Von Wollen kann keine Rede sein“, verwünsche ich flüsternd und verfluche seinen beschissenen Elan.
Als wir am Ortsausgang ankommen, staunen wir nicht schlecht, was unsere Kameraden da fabriziert haben. Die Wachpostenstellung ist einen Meter tief ausgehoben worden und sogar überdacht. Das Maschinengewehr haben sie auf eine drehbare Lafette montiert, was ein breiteres Schussfeld ermöglicht. An dieser Stelle des Ortsausganges hat man weite Einsicht in das angrenzende Gelände, welches aus brachliegenden Feldern sowie einigen kleineren Hainen besteht. Wenige Hütten querab, die wie Maulwurfshügel aus der silbernen Serenade herausstechen.
Gekrümmt lehnt Gruber an der Wand, die Regenplane hängt ihm ins Gesicht. Seine Feldlampe hat er zwischen Koppel und Bluse geklemmt. Sie wirft ihr mattes Licht auf zerwühlt vergilbtes Papier. Mit wachsamem Auge beobachtet er seine Männer, blickt sich ständig um, während er in sein kleines Buch schreibt. Der Bleistift in seiner zerfurchten Hand ist das Spiegelbild seiner äußeren und innerlichen Verfassung, abgenutzt und zerrieben. Unser Feldwebel scheint vorerst etwas zwielichtig. Ich habe keinerlei Menschenkenntnis bisher erwerben können, daher fällt mein Urteil