17. Mike Müller-Reschreiter

17 - Mike Müller-Reschreiter


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doch überall unbeschädigte Telegraphenmasten herum, da muss man doch noch irgendeine Leitung anzapfen können“, flucht der Feldwebel so laut, dass es selbst Churchill noch gehört haben muss. Die Enttäuschung ist nicht zu überbieten. Kurz darauf schmeißt uns der Alte mit einem seiner berühmt-berüchtigten Worte-Stakkato wieder hinaus.

      „Was nun?“

      „Was soll schon sein? Schiet! Wie der Seemann sagen würde: Verirrt auf Odyssee“, resümiere ich sarkastisch und zucke mit den Schultern. Das Gebäude, welches hinter der Kirche steht, finde ich doch viel interessanter als jene Tatsache, dass wir als Geistergruppe durchs Hinterland irren. „Du bleibst hier, Heinz“, flüstere ich und schaue zu den Kameraden hinüber, die sich unter ihren Wolldecken hin und her wälzen.

      „Was hast du vor, Harry?“, will Heinz wissen.

      „Bleib einfach hier. Ich besorge uns was zum Beißen.“

      „Verdammt, Harry, mach ja keinen Blödsinn.“ Ich fege seine Warnung weg. „Wenn der Alte dich erwischt, dann stellt der dich an die Wand. Das ist unerlaubtes Entfernen von der Truppe, du Idiot!“ „Erzähle es nur jedem!“, blaffe ich zurück. Heinz wendet sich dem Postgebäude zu.

      „Gut, ich bleibe hier stehen, aber was ist, wenn der Alte rauskommt und mich fragt, wo du bist?“

      „Sag ihm, dass ich schlafe, der schaut doch nicht unter jede Decke.“ Heinz ist es anzumerken, dass er Schiss hat. Es ist das erste Mal, dass ich ihn so demontiert ertappe. Dann mache ich mich dünne, schleiche mich geräuschlos an der Kirchenwand vorbei zu dem erspähten Gebäude. Es ist immer noch so finster wie in einem Bärenarsch. Ich finde nirgends eine Stelle, durch die man ins Innere gelangen könnte. Also gebe ich dann doch mein Vorhaben lieber wieder auf, bevor sie mir auf die Schliche kommen können. Enttäuscht latsche ich zurück.

      Der Hunger hängt mir schon in den Kniekehlen.

      Am 19. März 1945 hat Hitler den Befehl Verbrannte Erde herausgegeben. Das war der finale Auftakt zur Einebnung sämtlicher Industrie- und Versorgungsanlagen im Reichsgebiet. Doch es beschränkt sich nicht nur auf diese Bereiche, die ohnehin schon fast alle in Schutt und Asche liegen. Zersprengte SS-Einheiten zünden ganze Dörfer an, nachdem sie die fliehende Bevölkerung zuvor gepeinigt haben. Männer, die nicht gleich freiwillig Männchen machten und mit der Waffe in den Heldentot rennen wollten, wurden als Vaterlandsverräter abgeurteilt und aufgehängt. Wer sich verdrückte oder nur schief schaute, konnte augenblicklich an der Straßenlaterne baumeln. „Seele baumeln lassen“, nennen das diese selbsternannten Volkstribune im grünen Gummibepack.

      Man hörte jedoch nur davon. Glauben konnten, wollten wir das nicht, bis wir es mit unseren eigenen Augen sehen müssen, wie sie an den Strommasten und Laternen hängen. Die Kettenhunde! Sie sind zu Hunderten unterwegs, um den Verrat aufzuspüren, wo immer er sich verborgen hat. Sie riechen jeden Dunst von Angst kilometerweit gegen den Wind. Und sie scheinen hierbei niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Nicht einmal ein General scheint es zu vermögen, ihrem grausamen Fanatismus Einhalt zu gebieten. Des Teufels Vasallen treiben ihr Unwesen.

      Unzählige fallen ihnen zum Opfer. Wir haben bisher Glück, die Kettenhunde kreuzen unseren Weg nicht.

      Wir hoffen deshalb, dass es auch so bleibt.

      Heinz steht wie angewurzelt da, starrt auf den Hauseingang des Postamtes. Er fährt zusammen, als ich auf einmal wieder neben ihm stehe. Kurz darauf erlischt das Licht im Gebäude und der Alte kommt zusammen mit Gerald heraus.

      „Was machen Sie denn noch hier? Hauen Sie sich lieber aufs Ohr!“

      „Gestatten, Herr Feldwebel, eine Frage?“ Heinz wird bleich im Gesicht.

      „Was gibt’s denn?“, knarzt der Alte widerwillig, als hätte er ein altes Weib vor sich, die ihm ihr selbstangebautes Gemüse andrehen möchte. Ich habe mir diese Frage schon dutzende Male selbst gestellt. Sie soll nur eines zum Inhalt haben: die Notlage unserer Verpflegung.

      „Herr Feldwebel haben sicher das Defizit unserer Verpflegung bemerkt, daher will ich nur die Frage stellen, was dagegen zu unternehmen sei?“ Der Feldwebel mustert mich. In seinem Gesicht steht pure Zerrissenheit. Sollte er mich jetzt zur Sau machen oder einfach nur lachen?

      „Sie sollten Politiker werden, Hebrank! Nein, besser noch, Komiker!“ Mir schlägt es eine verbale Keule mitten ins Gesicht. Komiker? Jetzt nur keine Miene verziehen! Schön Männchen machen und die Klappe halten!

      „Na ja, Sie haben ja recht mit ihrer Frage. Sieht wohl danach aus, dass wir unsere Gürtel enger schnallen müssen!“ Noch enger? „Ich kann Sie aber beruhigen, in ein paar Stunden sollte es Nachschub geben, bis dahin dürfen Sie die eisernen Rationen anreißen, welche Zeitzler in Beschlag hat. Sagen Sie Zeitzler, dass ich das befohlen habe! Das ist alles, wegtreten!“ Heinz und ich heben unsere Flossen an den Helm und strecken uns brav durch. Jetzt ab durch die Mitte!

      Zeitzler wird wohl wenig begeistert sein, so penibel, wie er über die eisernen Rationen wacht. Ich bekomme wieder Luft in meine Lungen und bringe mich an die Kandare. Der Alte dreht auf dem Absatz kehrt und verschwindet wieder im Inneren des Postamtes.

      „Das wird für Gerald eine schlaflose Nacht werden“, meint Heinz mitleidig. „Mensch, manchmal könnte ich dich erwürgen, Harry.“ Heinz ist angefressen auf mich, zu Recht. Aber ein Draufgänger wie er sollte besser nicht zu nah am Wasser gebaut sein. Danach legen wir uns zu den anderen und öfnen unsere von Zeitzler zugeteilten Notrationen. Zwieback, Knäckebrot, trockener scheiß Fraß, aber er stopft das Loch unserer knurrenden Mägen.

      Ich habe mich in meine zerschlissene Decke gewickelt und diese sowie meinen feuchten Mantel bis über beide Ohren gezogen, um sicher zu gehen, dass mein Sägewerk etwas abgedämpft würde. Ich schlafe diesmal sofort ein. Lange währt mein Schlaf nicht, da der anbrechende Morgen einen unangenehmen Begleiter mit sich führt, der mir eisig unter die Decke pfeift.

      Wirbelnd tanzt der sich durch das Dorf, lässt die Fensterläden auf und zu knallen, drückt Baumkronen nach unten und bläst einigen von uns die Utensilien durch die Beine. Der Tag begrüßt uns mit einem matten Grau, das sich mit schwarzen Tupfen vermischt und in abstrakten Formen über uns hinweg zieht. Mit einem Fetzen versucht Heinz, die Dose über dem Kocher festzuhalten, damit sie nicht weggeweht wird.

      „Ist der letzte Kaffee. Ersatzkaffee.“ Er hätte es nicht zu laut sagen sollen, denn binnen Sekunden stehen sie Schlange mit ihren Bechern. Die Zuteilung erfolgt unerbittlich. Heinz faucht und schüttet jedem nur einen winzigen Schluck ein, den man begierig hinunter kippt. Für uns bleibt nur der Kaffeesatz von Ersatz. Braune Sandpampe!

      Nichts wird verschwendet, wir essen ihn, kauen und mahlen den braunen Batzen zwischen unseren Zähnen. Von der Straße drängt sich ein immer lauter werdendes Scheppern zu uns herauf. Wir erheben uns und sehen den Kameraden Bahlke. Sein Koppelzeug wirft sich hin und her, macht einen Mordskrach, während er wie ein Irrer zu uns heraufgerannt kommt. Er fuchtelt mit seinen Armen herum und hätte fast das Gewehr dabei fallen gelassen. Keiner weiß, was das zu bedeuten hat, doch wir ahnen nichts Gutes. Ohne dass wir ihn bemerkt hätten, steht mit einmal der Alte hinter uns.

      „Was starrt ihr hier herum? Gefechtsbereit machen, marsch, marsch! Gefechtsformation!“ Der Alte hat eine Stimme, dass jeder Tenor vor Neid erblassen und ins Kloster gehen müsste.

      Es bricht ein heilloses Durcheinander aus. Wie aufgescheuchte Hühner flattern wir umher und greifen unser Zeug auf.

      „Los, los, nach vorne!“, schnautzt der Feldwebel. „Krahl, Friedrich, holt mir die hintere Wache und sichert mir die Straße mit dem 42er! Alle anderen folgen mir!“ Krahl und Friedrich flitzen zur hinteren Seite des Dorfes, wo die zweite Wache liegt.

      Der Rest rennt hinter dem Feldwebel her wie eine Horde Welpen hinter ihrer Mutter. Es sind eindeutig Motorengeräusche gepanzerter Fahrzeuge zu vernehmen. Sie scheinen sehr schnell näher zu kommen. Der Alte muss nun entscheiden: entweder sich der anrollenden Gefahr stellen oder sich zurückziehen.

      Um die Gesamtlage zu beurteilen, bedarf es keiner Expertenmeinung. Wir alle sind uns ziemlich klar


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