17. Mike Müller-Reschreiter
hat. Wer dann? Flusen im Kopf! Dieses Rätsel nimmt meinen Kopf in Beschlag, schützt mich vor dem Durchdrehen.
Das Feindfeuer nimmt immer mehr zu. Drückt uns nieder und es wird höchste Zeit, auch aus dieser Stellung zu verschwinden. Heinz feuert, was das MG hergibt, er stemmt sich mit aller Kraft dagegen, damit ihm das ratternde Ding nicht aus den Händen gleitet. „Harry, los, Rohrwechsel, schnell!“ Das Ersatzrohr liegt in Griffweite. Das heiße Rohr rutscht raus und rollt sich dampfend zu mir runter. Das Ersatzrohr reiche ich Heinz. Der platziert es in Sekundenschnelle geschickt, als hätte er die letzten Jahre nie etwas anderes getan. „Was zum Teufel?“
„Wir müssen den Lauf kühl halten, sonst überhitzt das Rohr hier auch gleich wieder! Los, Harry, schnell! Nimm deine Feldflasche und kipp da was rüber, wenn ich es dir sage!“ Ich schraube die Feldflasche auf, kippe mit zitternder Hand das Wasser übers Rohr. „Jetzt doch nicht“, zischt mich Heinz an. Das Maschinengewehr spuckt seine totbringenden Kugeln ins Gelände und ich kann diesen Anblick einfach nicht in mein Hirn bekommen. „Gurtwechsel! Neue Munition, in der Kiste hinter mir, los!“, brüllt Heinz. So schnell ich kann reagiere ich. Die Motorik funktioniert noch. Jedoch agiere ich wie in Trance. Erstaunlich, was der Körper im Stande ist zu leisten, trotz vollgeschissener Hosen.
Die erwähnte Munitionskiste liegt umgekippt in einer Bodensenke. Aus dieser quillt der Geschossgurt, der das Bild in mir erweckt, er wäre eine Schlange, die sich klammheimlich davon zu schleichen sucht. Ich nehme den Gurt, schmeiße mich samt diesem neben Heinz nieder und wir beginnen damit, die Spritze wieder feuerbereit zu machen.
Kugeln streuen über unsere Köpfe, klacken hinter uns ins Erdreich. Heinz verlagert das Feuer, streut nun den Bereich aus, aus dem uns das meiste Feuer entgegen rasselt. Was war passiert? Was ist denn aus meinem Freund, dem Heinz geworden? So wie er jetzt hinter dem Maschinengewehr auf den Feind ballert, kann ich es nicht glauben, dass der mein alter Freund aus Kindertagen sein soll?
Vor uns sackt der Feind einer nach dem anderen nieder. Solange das Maschinengewehr funktioniert, kann scheinbar keiner an uns ran. Ich befürchte aber, dass uns das Glück nicht mehr lange hold sein wird.
„Heinz, lass uns doch endlich hier verschwinden! Heinz? Mach doch schon, Mensch!“ Nix!
Der feuert nur stoisch weiter.
Ein gewaltiger Stoß reißt uns nach hinten. Erde rieselt auf unsere Gesichter. Da war es wieder, das Klingeln in den Ohren. Ich rappel mich auf und finde den Soldaten, der mit uns in der Stellung lag, auf seinem Rücken liegend. Ich hatte den völlig vergessen. Der war ja auch noch da.
„Mist!“ Der zappelt nur noch und röchelt, vielleicht noch für ein paar Sekunden? „Was passiert hier?“, brülle ich, schockiert in diese Szenerie aus unglaublich irrsinnigem Wahnsinn! „Der stirbt! Heinz, der kratzt ab!“, schreie ich wie bekloppt geworden! „Heinz!?“
„Ich bin unversehrt, Harry!“ Ich sehe zur Seite, sehe, wie Heinz das zerstörte Geschütz schockiert begafft. Sein Kopfschütteln verheißt nichts Gutes. Durchgedreht? Wieder schlägt eine Granate ein, etwa zehn Meter neben uns, begleitet von Gewehrfeuer, das uns aufs Korn nimmt. Wir werfen uns instinktiv flach auf den Boden, ganze Chöre von Geschosssalven zischen über uns hinweg.
„Harry, nimm deine Stabgranate raus! Wenn ich ‘jetzt’ sage, machst du sie scharf, dann auf Drei, verstanden?“, brüllt Heinz und versucht dabei, stark zu klingen.
„Bist du verrückt?“, entgegne ich verstört.
„Jetzt mach schon, Harry! Bleibt uns doch nix über! Einen guten Wurf, dann Rumms und ab durch die Mitte“, fügt Heinz hinzu und will dabei komisch zu wirken. Das jedoch war mein Resort. Also gut! Ein „Einverstanden“ quäle ich mir ab. Behutsam versuche ich die bei jeder Bewegung störende Granate aus meinem Gürtel herauszuziehen, drehe mich, ohne höher als nötig vom Boden aufzukommen und presse sie fest auf meine Brust. Sachte drehe ich den Stift heraus.
„Bist du soweit?“, will Heinz wissen und laviert verstohlen nach rechts. Nach einem kurzen Moment fragt Heinz nochmals: „Bist du soweit?“. Seine Stimme zittert dabei, als würde sie auf einem wild bespielten Piano hin und her hüpfen. Ich aber bringe keinen Ton heraus. Stattdessen klopfe ich mir dreimal auf meinen Helm. Jetzt aber weg mit der Ladung! Mit einem Satz springt Heinz auf und schleudert seine Stabgranate weit von sich weg. Ich bin nicht so schnell, klebe immer noch am Boden.
„Mensch, Harry, komm hoch“, entsetzt sich Heinz und zieht mich mit seinen riesigen Händen hoch, als wäre ich nur eine Stoffpuppe. Weit von mir im hohen Bogen werfe ich die Stabgranate. Soweit es mir eben möglich ist.
Die Granate von Heinz zerplatzt. Danach auch meine. Man hört nur ein Rummsen. Ein paar erwischt? Verfehlt? Wurscht!
„Los! Weg hier!“, rufe ich und renne, was meine Beine hergeben. Es besteht aber die Gefahr, in die falsche Richtung zu rennen, denn man wird leicht zur Zielscheibe der eigenen Kameraden in diesem Durcheinander. Eine weitere Schützenlinie soll nicht weit von uns liegen, die steuern wir jetzt an. Laut schreiend sprinten wir auf sie zu, ihre Gesichter leuchten zwischen all dem Dreck blass durch die provisorische Tarnung. „Nicht schießen, nicht schießen!“ Wir brüllen immer lauter, hoffen nicht von unseren Kameraden durchlöchert zu werden.
„Waffen runter!“, höre ich eine mir bekannte Stimme schreien. Dann haben wir es geschafft, vorerst. Atemlos klatschen wir auf den Waldboden, keuchen, husten, japsen und versuchen uns irgendwie zu sammeln.
„Der ... der ... der Russe ist direkt hinter uns“, stottert Heinz. Ich erkenne die gebogene Visage von Unterscharführer Meinele. Der beugt sich über uns, glotzt uns mit seinen Schweineaugen an und will wissen, was mit den anderen geschehen ist. Diese Frage kann weder Heinz noch ich beantworten. Wir schütteln nur unsere Köppe und stammeln irgendwas zusammen, woran wir uns zu erinnern glauben. Der Unterscharführer winkt nur nervös ab. Meinele hat ohnehin keine Zeit mehr, die Antwort auf seine Frage zu finden, denn der Feind lässt nicht locker.
Wieder kracht eine Granate dicht neben uns nieder. Wir suchen Deckung, quetschen uns zwischen die Kameraden, die scheinbar planlos um sich ballern. Wir sind verloren! Aus! Vorbei! Adieu! Ohne unsere Waffen können wir nur so daliegen und hoffen, dass es schnell vorbei ist.
Kurze Zeit später aber ebbt mit einmal das Gefecht abrupt ab. Feuerpause? Ist dem Feind der Saft ausgegangen? Augenblicke später stakst Meinele noch mal auf uns zu. Was will der denn? Achselzucken!
Wir erzählen ihm also, dass der Feind uns fast überrollt hätte, dass alles so schnell gegangen sei. „Mensch, was will der Pfeifenwichs denn hören?“ Das war unser, mein erstes Gefecht! Mir ist immer noch speiübel, aber da kommt und kommt nichts hoch. Nichts! Die Anspannung versteift mich derart, als wäre ich aus gehärtetem Beton.
Jetzt beginne ich mich zu fragen, was mit mir los ist. Sind wir nach heute noch die Selbigen wie Gestern? Vor wenigen Stunden noch hatte ich meinen neuesten Witz zum Besten gegeben und jetzt?
Der Unterscharführer gibt sich schließlich damit zufrieden, was wir so hervorbringen, schweren Herzens, aber was bleibt ihm schon anderes übrig.
Langsam schiebt sich die Dämmerung wie eine Kapuze über unsere Köpfe. Die Nacht würde Gnadenloses mit sich führen, das kann man sich an seinen fünf Fingern abzählen. Der Feind hat vermutlich seine Verbände zurückgeführt und konzentriert sich an anderer Stelle auf einen neuen Durchbruchsversuch. Vermutungen, raten, man hat keinen blassen Dunst.
Das Wäldchen uns gegenüber birgt die zerschossen Leiber unserer Toten und die des Feindes. Zig Tote müssen da herum liegen. Das Todesgejammer dringt zu uns rüber. Grauenvoller Totengesang! Wir stopfen uns Dreck in die Ohren.
„Kann man denn denen nicht helfen?“
„Was willst du denen denn noch helfen?“, motzt einer, dessen Namen ich nicht kenne. Aber er hat recht. Unsere Verwundeten sind schon ins nächste Feldlazarett verbracht worden. Die verwundeten Polen und Russen aber werden sich selbst überlassen und die kommende Nacht würde die meisten der armen Schweine schon zum Schweigen bringen. In mir wühlt es heftig, ich habe mit den Tränen zu kämpfen, die sich aber Gott sei Dank nicht ergießen