17. Mike Müller-Reschreiter
ergießt sich aus mir. Dann peitschen Schüsse, Fleisch reißt auseinander. Ihre Köpfe zerplatzen. Augenpaare, die entsetzt erstarren und aus ihren Höhlen zu Boden fallen. Blut über Blut mischt sich mit dem schlammig klumpigen Erdreich. Kopflose Körper sinken auf diesen Platz, der sich nun blutrot färbt.
Ein Schatten erfasst mich, hüllt meine schmächtige Statur bedrohlich ein, streckt mir seinen langen, knochigen Arm entgegen. Mein Hals zieht sich zusammen, ich bekomme keine Luft mehr, röchele, und zappele mit Armen und Beinen. Worte dringen mir entgegen, die ich nicht verstehen kann, sehe nur das dunkelrote Fleisch, das sich von dieser obskuren Gestalt ablöst.
Dann offenbart sich mir diese Figur endlich. Ein Mann, den ich wiedererkenne. Er kennt auch mich. Es ist noch nicht so lange her. Damals, als ich mit meinem Vater dort war, da sah ich ihn.
Mir stockt der Atem, meine Stimme will nicht tönen, so laut ich auch schreie, sie bleibt ohne Ton in diesem Bild hängen, das sich auf einmal verklärt. Diese hämmernde Stimme. Da ist sie wieder, sie klingt jetzt vertraut, nicht wie zuvor obskur. Sie wird dabei immer greller, wie das Pfeifen eines Kessels, wenn er überkocht.
Der blutüberströmte Mann hält mich mit seiner knochigen Hand fest. Kein Entrinnen, so sehr ich mich auch bemühe. Plötzlich zerreißt sich der Leib des Mannes in unzählige kleine Fetzen. Ich bin jetzt frei.
Aus dem Regen taucht mein Vater auf. Er steht vor mir und winkt mir lächelnd zu. Alles scheint mit einmal vergessen, die Gesichter, das Blut, die Angst, der Regen, welcher immer noch unaufhörlich zu Boden prasselt. Aber als ich mich meinem Vater an die Brust werfen will, trifft mich etwas. Völlig unerwartet! Als wäre ich mit voller Wucht gegen eine Wand gerannt. Es schmettert mich hart zu Boden und Dunkelheit umschlingt mich wieder.
Als ich wieder zu mir komme, durchzucken Lichtfetzen die bedrohlich wirkende Umgebung. Kalkweise Gesichter, die verschwommen vor mir hin und her tanzen. Ein Panoptikum, das mich bis tief ins Mark erschüttert. Ich will mich bewegen, kann mich aber keinen Millimeter rühren.
Die Luft bleibt mir wieder weg und ich reiße meine Augen auf. Da bemerke ich, wie Heinz mir den Mund zudrückt und deutet, dass ich still sein soll. Alles um mich dreht sich im Kreis. Heinz lässt von mir ab und Luft strömt in meine Lungen zurück. Hastig sauge ich sie ein und blase sie erleichtert wieder heraus. Als ich mich aufrichte, stemmt Heinz sein ganzes Gewicht dagegen.
„Was soll das?“, fahre ich ihn verärgert an.
„Pst“, gibt er von sich. Dann sehe ich, wie sich alle hinter ihre Waffen gelegt haben und in die Dunkelheit starren. „Nimm deine Waffe, Harry, und sei jetzt still!“. Meine Waffe liegt neben mir, ich schiebe sie langsam zu mir herauf, ziehe den Bolzen vorsichtig nach hinten, bis es klackt. Noch benommen kauere ich hinter einem Erdwall. Meine Hände zittern, der Traum steckt mir noch lebhaft in den Knochen. Dieser durch Mark und Bein dringende Traum! Jener, der mich in letzter Zeit ständig aufs Neue quält.
Knacken durchfährt die unwirkliche Stille, gefolgt von Rascheln, das sich unüberhörbar dazu mengt. Unerwartet beginnt das Maschinengewehr rechts ab von uns an zu rattern. Die Feuerspur spritzt in die Dunkelheit, die sich jetzt gleißend wie ein eruptierender Vulkan aufbricht. Leuchtpistolen werden abgefeuert. Das grelle Licht sinkt zischend und gleißend zu Boden. Ganze Areale versinken im Licht, entblößen die Figuren, die sich gerade eben noch unbemerkt an uns heranschleichen wollten. Zahlreich werfen sie uns ihre Schatten entgegen. Man hat jetzt nur wenige Sekunden, um einen Blick auf sie werfen zu können, bis sie wieder von der Schwärze verschluckt werden. Blitze zucken auf, gefolgt vom Surren der Geschosse, die uns jetzt wieder auferlegt werden.
Ich ziehe den Abzug durch. Augen zu und Feuer frei! Der Rückschlag zwingt mich, wieder die Augen zu öffnen. Wer schießt denn schon blind in einem Krieg? Also lade ich neu und versuche gezielt zu feuern. Ich kann aber beim besten Willen nicht sehen, auf was ich schießen soll. Aber ich drücke ab. Wie ein Feuerwerk zu Silvester platzt alles auseinander. Schreie tönen laut ins Gemenge, die sich mit den wirren Sätzen und Worten verschmelzen, welche die Angst zeugt und der Tod dann kaltschnäuzig schluckt. Die Leuchtspurgarben streuen weit in den Wald hinein, zerspringen in Tausenden von Funken, die glühend niedergehen.
Ich versuche meinen Blick zu schärfen, damit ich noch besser zielen kann, aber diese verfluchte Angst befüllt mir nur die Augen. Granaten zersprengen die Deckungen wie Kartenhäuser mit Mann und Maus. Unsere Schützenreihe lichtet sich. Das gegnerische Feuer wirkt demoralisierend, es ist dem unseren weit überlegen.
Immer dichter kommen sie an uns heran, die Mündungsfeuer gleißen näher, die Explosionen sitzen präziser, der Geschosshagel wird flächendeckender. Wir sitzen in der Falle. Hocken inmitten eines massierten Auflaufes feindlicher Verbände, die unablässig auf uns zustürmen.
Neben mir wirbelt es mit einem Donnerschlag den Dietrich in die Luft. Mit einem kurzen Schrei knallt er scheppernd wieder zu Boden. Ich lasse mein Gewehr fallen und mache einen Satz zu ihm rüber. Neben ihm dreht sich sein Helm noch, eher ein Eiern, da er sich verformt hat. Eingerissen und durchlöchert hat er sich durch die Druckwelle vom Kopf meines Kameraden gerissen. Ich möchte mich übergeben. Der Würgreflex schmerzt stark. Doch es kommt nichts heraus. Mir bleibt lediglich die Luft weg. Ich berühre ihn. Aber er regt sich nicht mehr.
Ich fahre zusammen, stoße einen Schrei aus, weiche zurück und wische mir das Blut an der Hose ab. Wieder packt mich der Brechreiz. Einen Bruchteil an Sekunden nur, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Doch ich kann nichts mehr tun. Dietrich ist tot. Aus, Amen!
Ich nehme wieder meine Waffe und bin bereit zum Sprung. Da erhellt es sich hinter mir. Eine mächtige Druckwelle erfasst mich. Sie drückt mir das Kreuz durch und schleudert mich einige Meter ins Unterholz. Zweige bohren sich in mein Gesicht, wetzen mir das rechte Augenlid auf. Die Suppe läuft mir quer über das Gesicht und rinnt mir süßlich schmeckend in den Mund. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzt. Ich muss zurück. Zurück? Ich bin ja noch mittendrin.
Die Feuergarben klatschen in die feuchten Erdlöcher und wirbeln Schlammfontänen hoch. Ich finde mich beim besten Willen nicht mehr zurecht. Meine Waffe ist auch nicht mehr auffindbar, ist zersprengt, niedergetrampelt oder entwendet? Wie auch immer, ich bin am Arsch! Einige 42iger rattern noch, ununterbrochen sägen sie sich in die Reihen der herumstolpernden Figuren, die regelrecht Mühe haben, nicht über die Haufen aus Gefallenen zu stürzen, bevor sie selbst fallen.
Es fällt mir schwer, etwas oder jemanden zu erkennen, Helme wackeln hin und her, unsere? Oder der Feind? Es sind scheinbar nur wenige Meter bis zur Stellung, in dem eines der Maschinengewehre positioniert ist, dorthin will ich. So robbe ich flach am Boden, um nicht in den Kugelhagel zu geraten. Äste krachen zu Boden, Erde streut sich über mir nieder, begleitet von dumpfen und ruppigen Detonationen, welche die Nacht zum Tage machen.
Auf einmal saust etwas über mich hinweg. Ein Schwirren, eher schon ein Pfeifen, das Bäume durchschlagend in einem ohrenbetäubenden Knall auseinanderplatzt. Die Explosion ist so grell, dass man für eine Millisekunde keine Konturen mehr erkennen kann. Ich drücke mein Gesicht in den Morast, presse die Hände auf meinen Helm und spüre die Hitze deutlich. Wieder pfeift dieses Ding surrend über mich hinweg, wieder erfolgt dieser Knall, der unter mir deutlich die Erde zum Beben bringt.
Motorengeräusche sind zu hören, noch sehr leise und wie durch eine Dunstglocke, aber sie sind real. ‘Panzer?’, spekuliere ich. Aber ja! Es waren eindeutig Panzergeschosse. Mussten welche sein! Jetzt drehe ich mich vorsichtig auf den Rücken und versuche, im Schutz eines Erdwalles zu erkennen, was um mich herum geschieht.
Der Gefechtslärm hat sich etwas abgeschwächt, vereinzelt platzen noch Schüsse, leuchtet hier und da Mündungsfeuer auf. Wieder kracht es, als wäre eine Urgewalt über uns gekommen. Es rieselt schaufelweise Dreck runter. Das Maschinengewehr ist nicht mehr auszumachen. An dessen Feuerspur habe ich mich orientiert. Aber nicht die geringste Spur mehr davon. Der Boden vor mir glüht, man hat ihm schrecklich zugesetzt, überall aufgerissen, zerpflügt, zertrampelt, zerschossen. Die Natur ächzt unter ihren Wunden, wie so viele, die zerstreut auf ihr liegen und sich in den Tod wimmern.
Es sind Stimmen zu hören, Stimmen, die mir nicht bekannt sind, dessen Sprache ich nicht verstehe. Stimmen, die zum letzten Mal in dieser schrecklichen