Knallhart durchgezogen. Rudolf Szabo

Knallhart durchgezogen - Rudolf Szabo


Скачать книгу
musste die vierte Klasse wiederholen.

      Nach dieser Ehrenrunde kam ich zum ersten Mal mit meiner späteren Leidenschaft in Berührung: dem Militär. In der Ostschweiz gehören die 5. und die 6. Klasse noch zur Primarschule, erst danach folgt die weiterführende Schule. Unser Lehrer Emil Steiger war ein ehemaliger Offizier der Armee. Das merkten wir vor allem beim Turnen. Dort mussten wir in Viererkolonnen im Gleichschritt zu Marschmusik marschieren. Heute mag das eine ulkige Vorstellung sein, doch uns machte das damals großen Spaß. »Richtuuuuuuung, links!«, brüllte Herr Steiger über unsere Köpfe. Wir bogen brav links ab, während wir versuchten, einigermaßen mit den Füßen im Takt zu bleiben. Es folgten Turnübungen und Ballspiele.

      Herr Steiger war ein guter Pädagoge und er förderte mich sehr. Er merkte, dass ich gute Aufsätze schrieb, mich in Mathematik aber nach wie vor schwertat. Statt nun ständig auf meinen Schwächen herumzureiten, lobte er mich in den Bereichen, in denen ich gut war. Beispielsweise holte er mich nach einem guten Aufsatz nach vorne und lobte mich vor der ganzen Klasse. »Schaut mal, diesen Abschnitt hat der Ruedi besonders einfallsreich formuliert. Der Satzaufbau ist hervorragend.«

      Die Art, wie er meine Stärken hervorhob und damit meine Schwächen kaschierte, steigerte meinen Selbstwert als Schüler ungemein, sonst fühlte ich mich ja eigentlich als Versager. Dazu kamen Herrn Steigers mitreißende Erzählungen im Geschichtsunterricht, ein Fach, das er als altgedienter Militär umso packender vermitteln konnte. Auch dem Gleichschritt im Sportunterricht konnte ich viel Positives abgewinnen. Plötzlich war ich im wörtlichen Sinne nicht mehr Einzelgänger, sondern wurde Teil einer Gemeinschaft: Wir marschierten gemeinsam, keiner blieb zurück.

      Das Gefühl, ein Versager zu sein, stellte sich jedoch jedes Mal wieder ein, wenn ich eine schlechte Note nach Hause brachte. In der siebten Klasse hatte ich einen Lehrer, der mir dieses Gefühl zeitweise nehmen konnte. Pädagogisch ging er sehr geschickt und liebevoll mit mir um. Wenn ich den Schulbetrieb einmal wieder zu stark gestört hatte, gab er mir keine Strafarbeit, sondern sagte: »Ruedi, du rennst jetzt einmal bis zum Waldrand und wieder zurück!« Die zwei Kilometer absolvierte ich mit Leichtigkeit und die Bewegung tat mir gut. Offenbar hatte Herr Hangartner erkannt, dass ich, ein »Zappelphilipp«, in manchen Situationen körperlich unausgeglichen war und daher meine überschüssige Energie in die Störung des Unterrichts investierte. Wenn ich nach meinem Straflauf nun zum Erstaunen meines Lehrers und meiner Mitschüler schon nach kurzer Zeit wieder in der Tür des Klassenzimmers stand, genoss ich es, etwas geschafft zu haben. Zudem konnte ich mich viel leichter konzentrieren.

      Herr Hangartner hatte ein gutes Händchen. Dass er ein tiefgläubiger Christ war, erfuhr ich erst später. Heute glaube ich, dass er einer von einer ganzen Reihe jesusgläubiger Menschen war, die Gott in mein Leben gestellt hat.

      Als ich in der sechsten oder siebten Klasse war, wurde meine Schwester in dem Hochhaus, in dem wir wohnten, überfallen. Sie wollte in unser Stockwerk fahren, aber der Aufzug war bereits besetzt und der Mann darin bedrängte und begrapschte sie. Er drückte auf den Knopf, der den Aufzug ins Untergeschoss bringen sollte, wo keiner ihre Schreie hören würde. Meine Schwester wehrte sich nach Leibeskräften gegen den Angreifer. In letzter Minute konnte sie sich losreißen. Sie sprang durch die Tür, die sich bereits schloss, zur Treppe und konnte fliehen.

      Wir waren alle sehr schockiert und ich beschloss, dass mir so etwas niemals passieren sollte. Ich wollte mich wehren können. Deshalb meldete ich mich zum Kampfsport an und war darin sehr erfolgreich. Ich begann mit Judo und kämpfte mich bis zum orangen Gürtel hoch. Judo ist allerdings ein sehr defensiver Kampfsport, sodass ich mich mit der Zeit nach etwas Härterem sehnte. Ich wollte meine körperliche Fitness noch besser ausspielen können. Niemand, vor allem niemand in meinem Alter, sollte mich überwältigen können.

      Zunächst testete ich Jiu-Jitsu, bis ich schließlich zu Aikido fand. »Aikido« könnte man interpretieren mit »Mit der Kraft des anderen siegen«. Es ist zwar ebenfalls eine defensive Kampfkunst, aber es setzt schon an, bevor der Angreifer seine Attacke ausgeführt. Der Aikido-Kämpfer beobachtet genau, was der Gegner plant. Wenn dieser angreifen will, wird er sofort daran gehindert. Der Angreifer muss blitzschnell umschalten, wenn er durch den Schwung nicht überwältigt werden will – und hat oft sehr schnell verloren. Aikido-Kämpfer bewegen sich dabei höchst elegant und souverän.

      Mit der Kraft des anderen siegen – das gefiel mir. Mit dem Training wurde ich agiler, widerstandsfähiger, stärker. Ich war es gewohnt, meine Kräfte mit anderen zu messen. Dass mir meine Athletik schon bald sehr nutzen würde, hätte ich nicht gedacht.

      Ein ganz normaler Tag. Gerade hat die Schulglocke geläutet. Hunderte vergnügter Schüler freuen sich, endlich wieder nach draußen zu können. Doch als sich die freudigen Massen in Bewegung setzen, kommt der Strom plötzlich ins Stocken. Ich befinde mich relativ weit vorne, nahe dem Ausgang. Warum geht es nicht voran? Da sehe ich es: Von den verschiedenen Ausgangstüren ist nur ein einziger Flügel geöffnet. Die Schüler schubsen, stolpern, schieben. Mehrere Hundert Kinder drängen durch eine einzige schmale Tür nach draußen – das kann nicht gut gehen.

      Vor dem geöffneten Türflügel staut es sich. Einzelne Jungen und Mädchen werden gegen die Wand gedrückt, versuchen irgendwie durch die enge Tür zu gelangen. Dann: ein Schrei! »Hilfe!« Ein Kind liegt am Boden. Ein zweites. Ein drittes. Eine Massenpanik bricht aus. Die Jungen und Mädchen trampeln über die am Boden Liegenden hinweg. Wie kann es ohne echte Gefahr zu einer Massenpanik kommen? Jeder will nur noch seine eigene Haut retten. Ich erschrecke: Die werden die Kinder doch wohl nicht zertrampeln? Ich drücke mich irgendwie zu den Kindern durch, die von Füßen malträtiert werden, und stemme mich mit meiner ganzen Kraft gegen die Massen wie ein Wellenbrecher gegen die aufgescheuchte See. Lange werde ich das nicht durchhalten, das weiß ich. Angestrengt schaue ich nach unten zu den schmerzverzerrten Gesichtern: »Schnell! Weg hier!« Die Kinder rappeln sich auf, schnappen kurz nach Luft – und stolpern nach draußen. Es dauert nur wenige Sekunden. Länger hätte ich dem Druck auch nicht standgehalten. Meine Kräfte versagen. Ich lasse mich nach draußen treiben. Erschöpft ringe ich nach Atem, als ich auf dem Schulhof stehe. Die Kinder sind gerettet. Oder besser: Ich habe sie gerettet.

      Ja, gerettet hatte ich sie. So wie der starke Wanja, über den ich in meinem Kinderbuch gelesen hatte. Wanja, der sein Dorf vor Monstern geschützt und dabei übermenschlichem Druck getrotzt hatte. Das hatte ich auch getan. Und wie bei Wanja hätte wohl nie jemand damit gerechnet. So empfand ich es damals zumindest in meiner kindlichen Vorstellung. Ein Teil meiner Märchen-Traumwelt wurde auf diese Weise Wirklichkeit und dieses Erlebnis erfüllte mich mit einem Stolz und einer Zufriedenheit, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Ich fühlte mich plötzlich wirklich stark. Die große Gefahr hatte gedroht, mich zu überwältigen, aber ich hatte die Bedrohung mit maximaler körperlicher Anstrengung überwunden. Stärke als Problemkiller, das brannte sich tief in mein Herz ein.

      Eine Last wurde ich allerdings weiterhin nicht los: Die Schläge meines Vaters, der mir ja immer noch körperlich deutlich überlegen war. Ich litt so sehr unter seiner Hand, dass ich schier verzweifelte. In meiner Not dachte ich darüber nach, wer mich von diesen Schlägen erlösen könnte. Vielleicht Gott?

      Ich kannte die katholische Kirche aus Österreich, die evangelische vor allem aus der Schweiz. Tischgebete gehörten zum Standardprogramm meiner Familie, auch wenn der Glaube an sich in unserem Familienalltag kaum vorkam. Eine persönliche Beziehung zu Gott hatte ich nicht. Aber ich sah mich in einer so schwierigen Lage, dass ich beschloss, geistlichen Beistand zu suchen. Ich dachte: »Wenn es einen Gott gibt, muss er doch einen Weg wissen, wie ich der Gewalt meines Vaters entfliehen kann!«

      Ich wandte mich an den Pfarrer unserer evangelischen Kirchengemeinde, den ich vom Religionsunterricht kannte. Ich muss nicht erwähnen, welche Überwindung es für einen Teenager bedeutet, von sich aus den Kontakt zu einem fast fremden Erwachsenen zu suchen, noch dazu zu einem Würdenträger. Aber ich hoffte so sehr, dass er sich bei mir gegenüber meinen Eltern einsetzen würde, dass ich es wagte. Ich bekam einen Termin und saß ihm wenig später gegenüber.

      Ich erzählte von den schlechten Noten, davon, wie ich auf dem Heimweg absichtlich trödelte, weil ich Angst hatte, nach Hause zu kommen. Ich berichtete dem Pfarrer, wie fest und wie lange mein Vater mich schlug. Er hörte


Скачать книгу