Knallhart durchgezogen. Rudolf Szabo
galt schlicht als »Zappelphilipp«. Natürlich brauchen Kinder eine gewisse Strenge, aber diese sollte sich nicht durch Affekte, Wut- oder gar Gewaltausbrüche äußern, sondern durch Konsequenz und gleichzeitige Empathie. Kinder brauchen Leitplanken, um den richtigen Weg zu finden, aber wir müssen ihnen als Erzieherinnen und Erzieher, als Eltern und Lehrkräfte immer wieder bestätigen: »Ich hab dich gern, du bist ein tolles Kind und du hast gerade in diesem und jenen Bereich tolle Fähigkeiten.«
Auszubildenden rate ich, sich immer drei positive Eigenschaften über ein Kind zu merken, das sie betreuen. Wenn sie dann Kritik äußern müssen, sollten sie das Sandwichverfahren anwenden: Erst das Positive loben, dann das Negative ansprechen und mit einem Verbesserungstipp garnieren, um mit einem Hinweis auf das Positive zu enden. Der heranwachsende Mensch merkt so: Es geht um die Sache, nicht um mich als Person. Ich bin wertvoll, auch wenn ich nicht alles schaffe.
Ab der zweiten Klasse begann ich, mich zurückzuziehen. Ich fühlte mich als einsamer Wolf, begab mich gerne in Traumwelten und las viel. Vor allem faszinierten mich Geschichten von Verstoßenen, die sich durchkämpften und in der Welt durch ihre Kraft behaupteten. Das Buch »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler verschlang ich gleich mehrfach.
Wanja ist im ganzen Dorf als Taugenichts und Faulpelz bekannt. Er sondert sich ab und futtert Sonnenblumenkerne, bis er eines Tages genug Kräfte gesammelt hat, um auf einer lange vorbereiteten Wanderung die härtesten Prüfungen zu bestehen. Schließlich rettet er die Dorfbewohner vor einem schrecklichen Ungeheuer, wehrt sich gegen böse Räuber und alle Unbill dieser Welt, hebt einen Schatz und heiratet die Tochter des Zaren. Ein Ausgestoßener, der mit ungeheurer Stärke und Willenskraft beweist, dass ihn alle unterschätzt haben – darin fand ich mich wieder. Wanja, das war ich, das wollte ich sein!
Vor allem von meinen Eltern fühlte ich mich damals verlassen. Wenn ich eine schlechte Note bekam, schimpfte meine Mutter mit mir. Wenn ich eine Strafaufgabe machen musste und mein Vater davon Wind bekam, verprügelte er mich. Regelmäßig kam ich mit einer 1 oder 2 nach Hause, in der Schweiz die schlechtesten Zensuren. Ich wusste, dass mein Vater mich schlagen würde, deshalb machte ich auf dem Nachhauseweg viele Umwege, baute aus Lehm und Blättern einen Staudamm am Bach, verspätete mich um Stunden. Doch all das half nichts. »So, in die Stube mit dir!«, sagte mein Vater, wenn ich nach Hause kam. »Was hast du diesmal angestellt?« Er schloss die Tür, damit meine Geschwister mich nicht sahen, meine Schreie hörten sie trotzdem.
Leider war es für ihn mit ein paar gezielten Schlägen nicht getan. Mein Vater gab mir erst eine Backpfeife und beschimpfte mich: »Du bist ein Versager!« Dann redete er sich in Rage, schlug mich währenddessen immer wieder, boxte mich in meine Schulter, den Rücken und den Oberschenkel. Manchmal zückte er seinen Ledergürtel. »Bitte nicht, ich will mich bessern«, flehte ich. Aber es knallte einfach nur. Manchmal kam es mir vor, als arbeite er sich eine ganze Stunde an mir ab, aber es waren wahrscheinlich nur zehn bis fünfzehn Minuten. Danach verkroch ich mich ins Bett und fühlte mich unfassbar einsam.
»Du bist ein Versager!« Das brannte sich in mir während meiner Grundschulzeit ein.
Meine Schwester war eine hervorragende Schülerin, meine Eltern förderten sie nach Kräften. Ich hingegen fühlte mich als Nichtsnutz und zog mich in meine Welt zurück. Neben den Büchern waren das auch meine Modellflugzeuge. Ich konnte stundenlang in diese besondere Welt eintauchen. Vor allem Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg hatten es mir angetan. Wenn ich etwas Geld gespart oder zum Geburtstag bekommen hatte, zog ich sofort in den Spielwarenladen und besorgte mir ein neues Modell. Die Firma Faller verkaufte damals Bausätze aller möglichen Autos, Schiffe und Flieger. Die kleineren hatten eine Spannweite von zehn Zentimetern, die größeren wie das Space Shuttle mit mehreren Hundert Teilen maßen bis zu vierzig Zentimeter.
Wenn ich die Packung öffnete, stieg meine Freude ins Unermessliche. Aus einem Plastikrahmen schnitt ich die vorgestanzten Teile heraus. Die besonders filigranen Teile wie die Antenne, das zerbrechliche Fahrwerk oder die Fensterscheiben manövrierte ich in Engelsgeduld mit einer spitzen Pinzette aus dem Rahmen. Anschließend fügte ich die Teile nach einer Anleitung in stundenlanger Arbeit mit Spezialklebstoff vorsichtig zusammen. Später lackierte ich den Flieger, ich zog feine Linien und tupfte die Tarnfarben auf, unten Waldgrün, oben Himmelblau. Ich fügte die Hoheits- und Geschwaderabzeichen hinzu, bis schließlich das fertige Prachtexemplar vor mir stand.
Ich genoss das Gefühl tiefer Zufriedenheit, wenn ich wieder ein neues Flugzeug fertiggestellt hatte, »Stukas«, die Sturzkampfflugzeuge vom Typ Ju 87, Messerschmitt-Jagdflugzeuge oder auch größere Bomber. Mit meinen eigenen Händen hatte ich etwas geschafft! Das gab mir Selbstvertrauen. Mein Lieblingsflugzeug war die britische Spitfire, von der ich gleich mehrere Modelle in verschiedenen Größen hatte. Sie war für mich die Vollendung eines Flugzeugs, die geschwungenen Linien ließen das Modell so aussehen, als sei es aus einem Guss. Britisches Design at its best.
Während ich das Modell in der Hand hielt, stellte ich mir vor, selbst im Cockpit zu sitzen und in 8 000 Metern Flughöhe die wolkenlose Freiheit zu genießen. Auch die militärische Stärke zog mich an. Einmal den engen Räumen dieser Welt zu entfliehen und mich selbst mit eigener Stärke zu beweisen, das war mein großer Traum.
Mein Vater arbeitete nach seiner Stelle im Straßenbau als Mechaniker bei der Swissair, der stolzen Airline der Schweiz. Manchmal nahm er mich mit in die Werft und ließ mich die großen Flieger bestaunen. Dafür liebte ich ihn. Doch immer wieder hatte ich auch unter seinen Wutausbrüchen zu leiden. An einen der schlimmsten erinnere ich mich noch sehr gut.
Ich weiß nicht mehr, was seine Tirade ausgelöst hat. Vielleicht hatte ich wieder eine schlechte Note nach Hause gebracht, vielleicht hatte ich nicht aufgeräumt. Manchmal brachte er seinerseits den Arbeitsfrust mit nach Hause und ließ seine schlechte Laune an mir aus. Jedenfalls stand mein Vater an diesem Tag in meinem Zimmer und schimpfte sich in Rage. »Du Nichtsnutz! Du kannst nichts! Du bist faul!« Solche Vorwürfe musste ich mir oft anhören. Ich verzog mich sofort in meine Bettecke, in der Hoffnung, seinen Schlägen zu entgehen. Tatsächlich prügelte er mich diesmal nicht. Etwas viel Schlimmeres geschah. Mein größter Schatz erweckte seine zornige Aufmerksamkeit: meine Modellsammlung!
Er brüllte, ging zu meinem Büchergestell und zertrümmerte meine Flugzeuge. Zusammen mit den mühsam aufgebauten Modellen zerbrach eine Welt in mir. Normalerweise schluckte ich meine Tränen hinunter, doch dieser Schlag des Vaters tat mehr weh als alle Tritte und Ohrfeigen, die er mir bisher verpasst hatte. Ich heulte und heulte, während ich auf dem Boden saß und mit zitternden Fingern erfolglos versuchte, die zerbrochenen Plastiksplitter wieder zusammenzusetzen. Ich hatte mit meinen eigenen Händen etwas geschaffen, auf das ich stolz war. Und mein Vater hatte es mir wieder genommen. Ich war nicht einmal wütend, sondern ich war zutiefst verletzt. Ich wünschte mir, er hätte mich windelweich geschlagen, statt meinen Stolz zu zerstören.
Und nicht nur das: Mein Vater, der an den großen Fliegern herumbastelte, war mein Vorbild. Und nun hatte er meine Gehversuche im Kleinen mit einem Faustschlag zermalmt.
In der dritten und vierten Klasse hatte ich glücklicherweise einen sehr viel besseren Lehrer. Das Fach Mathematik bereitete mir weiterhin Schwierigkeiten, aber Herr Widmer zeigte Verständnis für mich und er konnte uns Kinder für den Schulstoff begeistern. Besonders im Geschichtsunterricht hingen wir an seinen Lippen. Wenn er vom Mittelalter erzählte, von Burgen, Königen und Schlachten, fühlte ich mich hineinversetzt in eine längst vergangene geheimnisvolle und beeindruckende Zeit. Ich stellte mir vor, wie ich als Ritterknappe durch die Gegend zog, um ein Abenteuer nach dem anderen zu erleben und mit dem Schwert in der Hand für Gerechtigkeit zu sorgen.
Stattdessen brachte ich durch meine Experimente Menschen in Lebensgefahr. In unserer Kleinstadt hielt ich mich gerne am Bahnhof auf und sah den Eisenbahnen beim Rangieren zu, wie schon früher im Opapa-Garten. Um die großen Lokomotiven in der richtigen Position zu fixieren, benutzten die Arbeiter einen sogenannten Hemmschuh. Das ist ein keilförmiger Klotz aus schwerem Stahl, meist rot oder gelb lackiert. Er wiegt sechs bis acht Kilo, hat also durchaus ein Gewicht, das man in den Armen spürt, wenn man damit hantiert. Doch gegen die tonnenschweren Kolosse, die auf den Schienen vor- und zurückfuhren, war ein solcher Bremsschuh natürlich nichts. Nur durch seine besondere Konstruktion,