Knallhart durchgezogen. Rudolf Szabo

Knallhart durchgezogen - Rudolf Szabo


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noch in rauen Mengen!

      Mein Vater muss noch seine erste Tafel Schweizer Schokolade vor Augen gehabt haben, als er die Entscheidung traf, in unserem Nachbarland sein Glück zu suchen. Zudem war seine ältere Schwester mit einem Bündner Arzt verheiratet, der eine Arztpraxis in Zürich betrieb. Sein älterer Bruder hatte sich in Genf niedergelassen und betrieb dort ein Teppich- und Tapetengeschäft. Dort konnte mein Vater aushelfen, bis er eine richtige Stelle fand.

      In den 1960er-Jahren begann der große Autobahnbau quer durch die Alpenrepublik. Die Schweizer planten unzählige Kilometer an asphaltierter Strecke, von denen etliche mittels Tunnel durch die Berge führen sollten. Dafür suchten sie Baumaschinenmechaniker – genau das Richtige für meinen Vater. Er sprach vor und erhielt tatsächlich einen Job. Binnen kurzer Zeit konnte er sich ein Auto leisten, einen VW Käfer. Mein Vater verließ uns also erneut, aber diesmal sorgte er verantwortungsvoll für meine Mutter und mich, die wir zunächst in Wien blieben.

      In meiner Mutter wuchs die Sehnsucht, ebenfalls in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen, ohne die Peinigungen der Schwiegermutter, ohne ihr altes Umfeld, das sie an die Nöte und Sorgen erinnerte. Sie wollte weg aus Österreich. Als ich etwa sechs Jahre alt war, traf meine Mutter eine Entscheidung: Sie zog samt meiner kleinen Schwester ebenfalls in die Schweiz. Ich dagegen blieb in Wien. Ohne Vater, ohne Mutter. Meine Omama, bei der ich nun wohnte, wurde meine Hauptbezugsperson.

      Es mag sich seltsam anhören, aber aus meiner kindlichen Sicht traf es mich nicht sonderlich, dass meine Eltern mich zurückließen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich meine kleine Schwester beneidet hätte, weil sie bei Mama bleiben durfte. Mama und Papa hatten eben so entschieden, daran ändern konnte ich nichts. Außerdem fühlte ich mich wohl in Wien, zu meiner Omama hatte ich eine innige Beziehung. Mich umgaben Menschen, die mich liebten. Für mich war die Welt in Ordnung. So dachte ich lange.

      Inzwischen frage ich mich: Habe ich meine Empfindungen von damals verklärt? Habe ich es wirklich mit stoischer Ruhe akzeptiert, dass meine Eltern mich zurückgelassen haben? Heute wissen wir viel mehr darüber, wie wichtig es ist, dass Kinder eine Bindung und ein Urvertrauen entwickeln. Die ersten Lebensjahre geben entscheidende Einflüsse mit, die ein ganzes Leben lang nachhallen, im Guten wie im Schlechten.

      In Wien kam ich in die erste Klasse, aber kurz darauf kam der nächste Einschnitt: Nach einem Vierteljahr holten meine Eltern mich in die Schweiz. Ich verabschiedete mich von meiner Heimat und meiner geliebten Omama, denn jetzt begann ein neues Kapitel. Unsere Familie war wieder vereint.

      Schweiz, 1965

      Wir wohnten in einem kleinen Bauernweiler mit einer Handvoll Häusern, der ungefähr fünf Kilometer von einer Kleinstadt entfernt lag, weil mein Vater dort ein günstiges Zimmer gefunden hatte. Von hier fuhr er die diversen Baustellen an, auf denen er arbeitete. Zu dieser Zeit begann mein Vater ein neues Hobby: Er kaufte sich eine Modelleisenbahn. Schon in frühester Kindheit hatten mich Züge aller Art fasziniert, umso stolzer war ich, als ich zusammen mit meinem Vater eine ganze Anlage aufbauen konnte. Unsere Eisenbahn war für mich das tollste Spielzeug überhaupt.

      Ich erinnere mich gut an meinen ersten Schultag in der Schweiz. Die Schule lag mitten in der Landschaft auf einer kleinen Anhöhe und die Schüler strömten aus den vielen Weilern der Umgebung herbei. Die Lehrerin empfing mich freundlich und zeigte viel Einfühlungsvermögen. Zunächst sollte ich mich vorstellen. Das tat ich natürlich in breitestem Wienerisch. »Der Ruedi hat einen anderen Dialekt als ihr«, sagte die Lehrerin zu meinen Mitschülern. »Bitte nehmt Rücksicht auf ihn. Schon bald wird er auch unseren Berner Dialekt sprechen können.« Ich fühlte mich wohl und akzeptiert. Schnell fand ich Freunde, deren Väter überwiegend als Bauern arbeiteten. Wir spielten Fangen, bauten uns aus Ästen und Zweigen ein Hüttchen am Waldrand und schlürften dort Pfefferminztee. Eine echte Idylle.

      Leider war es damit bald wieder vorbei. Als ich sieben Jahre alt war, geriet mein Vater mit den Bauern in Streit. Sie beschuldigten ihn des Diebstahls. Er stritt die Vorwürfe ab und erklärte, er habe keinen Diebstahl nötig. Doch eine Zukunft an diesem Ort war nur noch schwer denkbar. Deshalb kam es ihm gerade recht, dass sein Chef ihn fragte, ob er zum weiteren Autobahnausbau in die Ostschweiz versetzt werden wolle. Mein Vater nahm das Angebot an.

      Ein weiteres Mal hieß es umziehen. Aus der Idylle des Berner Oberlandes, wo ich mich sowohl in der Schule als auch mit meinen Freunden sehr wohlfühlte, ging es nun in den Kanton St. Gallen in der Ostschweiz.

      Hier brach für mich eine Zeit des Leidens und der Zurücksetzung an. So warm mich meine Lehrerin im Berner Oberland in Empfang genommen hatte, so viel Kälte schlug mir in der Schule im Kanton St. Gallen entgegen. Ich weiß noch wie heute, wie unser Lehrer das Klassenzimmer betrat. Ein hagerer Typ, groß gewachsen, kühler Blick, bieder in braungraue Anzüge gekleidet, die Krawatte durfte niemals fehlen. Herr Steinbeis hieß er, und sein Name war Programm. Er hatte eine regelrecht fiese Art. Damals schrieben die Schüler noch mit Feder und Tinte, kurz bevor die Schulen auf die heute gängigen Füllfederhalter umstellten. Wenn wir Grundschüler uns beim Schönschreiben zu sehr verkrampften, traf uns sofort der strenge Blick des Lehrers. »Du machsch Chnötli, du schriebsch falsch!«, giftete er und schlug uns mit dem dreißig Zentimeter langen Vierkantlineal auf die Finger. Verständlicherweise fürchteten wir uns, wenn er mit seinem Lineal während eines Diktats in den Stuhlreihen auf und ab ging.

      Vor allem auf die Ausländerkinder hatte er es abgesehen, denn er war Mitglied der Partei Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat (kurz NA), die mit rassistischem Gedankengut auffiel und 1967 schließlich einen Sitz im Nationalrat erringen konnte. Der unfreundliche Lehrer machte aus seiner Gesinnung keinen Hehl. Er plagte uns Ausländer, wie er nur konnte, und er maß eindeutig mit zweierlei Maß. Die Italiener nannte er »Tschingge« 1 und meinte, dass sie am besten sofort in ihr Heimatland zurückgeschickt werden sollten. Er zog sie an den Ohren und haute sie auf den Hinterkopf. Dass die Schweiz ihre gut ausgebaute Infrastruktur vor allem den fleißigen Gastarbeitern zu verdanken hatte, kümmerte ihn nicht.

      Ich konnte mittlerweile recht gut Schweizerdeutsch sprechen, aber seinen Erwartungen konnte ich trotzdem nicht gerecht werden. Als ich wieder einmal nicht schön genug geschrieben hatte, schlug er mir mit voller Wucht auf die Fingerspitzen. Ein brennender Schmerz lähmte meine Hand. Aber noch mehr verletzten mich seine Worte: »Du bist zurückgeblieben! Du bist behindert!«

      Behindert? Ich? Kinder können ohnehin nicht mit Sarkasmus umgehen, aber Herr Steinbeis meinte seine Diagnose ernst. Er wiederholte gegenüber meinen Eltern, dass ich offenkundig geistig behindert sei, da ich auch allgemein schlechte Noten hatte. Eine Farce eigentlich, aber meine Eltern waren erschüttert. Schließlich hatten auch sie als Ausländer Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, wenn die NA an Einfluss gewinnen sollte. Mein Vater schärfte mir ein: »Sei brav, damit wir nicht aus der Schweiz rausfliegen, wir wollen doch hierbleiben.« Das leuchtete mir ein. Mein Vater konnte hier die Familie besser versorgen und die Schweiz gefiel mir, deshalb wollte ich auch gerne hierbleiben, obwohl ich so unter dem Lehrer litt.

      Tag für Tag musste ich mir Tiraden eines Lehrers anhören, der mich für minderwertig hielt, ebenso wie meine italienischen Mitschüler. Obwohl ich mir viel Mühe gab, kritisierte er mich ständig. In der zweiten Klasse stürzten meine Leistungen derart ab, dass ich begann, die Schule zu schwänzen. Besonders das Fach Mathematik bereitete mir Schwierigkeiten. Dass meine Schwäche im Umgang mit Zahlen einmal dazu beitragen würde, dass ich eine Bank überfalle, hätte aber wohl selbst Herr Steinbeis nicht gedacht.

      Ich passte damals schlicht nicht ins System, war überfordert von dem, was verlangt wurde, und Herr Steinbeis war eher hinderlich als hilfreich. Ich schweifte in Gedanken oft sehr weit ab vom Unterrichtsgeschehen und träumte vom Opapa-Garten, vom Hof im Berner Oberland, an den ich so viele schöne Erinnerungen hatte. Ich schaute oft aus dem Fenster, bis ich – zack! – wieder einen Steinbeis’schen Zusammenschiss der übelsten Sorte bekam.

      Heute weiß ich, dass die Pädagogen damals viel zu stark an Defiziten hingen und zu wenig auf die Ressourcen sahen. Wer ständig nur beschimpft und auf seine Schwächen reduziert wird, kann kaum eine selbstsichere Persönlichkeit entwickeln. Als heutiger ADHS-Coach gehe ich stark davon


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