Knallhart durchgezogen. Rudolf Szabo
wollte. Deshalb fasste ich einen verheerenden Entschluss, der in der Folge meinem Leben eine andere Richtung geben sollte: Ich wollte auch einmal eine Lokomotive zum Stillstand bringen!
In einem unbeobachteten Moment hievte ich einen der für mich enorm schweren Hemmschuhe aus dem Ständer und bugsierte ihn unter großer Anstrengung auf die Gleise. Ich wollte auf den nächsten Zug warten und beobachten, was geschehen würde. Konnte ich mit meinem Hemmschuh eine Lokomotive aufhalten?
In meiner kindlichen Naivität kam es mir nicht in den Sinn, dass ich mit meiner Aktion ein großes Zugunglück herbeiführen könnte.
Plötzlich hörte ich panische Schreie. Ein Mann hatte mich beobachtet, war zum Stationsvorstand gerannt und hatte Alarm geschlagen. Jetzt ging alles ganz schnell. Eisenbahnarbeiter sprinteten herbei, laute Rufe, ein paar Männer rissen den Hemmschuh von den Gleisen.
Kurz darauf standen sie um mich herum und schimpften: »Was hast du dir dabei gedacht?« »Das hätte ein riesiges Unglück geben können!« »Weißt du denn überhaupt nicht, was du beinahe angerichtet hättest?«
Nein, das wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, warum die Männer schimpften. Ich wollte doch nur ein Experiment wagen, und dabei hatte ich kaum etwas anderes gemacht als die Arbeiter.
In Windeseile waren Polizisten vor Ort. Sie riefen meinen Papa an, der sofort antraben musste. Langsam offenbarte sich der Ernst der Lage. In wenigen Minuten wäre ein Schnellzug angerast. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre er entgleist, ein beispielloses Unglück hätte sich ereignet. Menschen wären schwer verletzt worden oder hätten sogar sterben können.
Die Polizisten meldeten den Fall umgehend an die Schulbehörde, die wiederum meinen Lehrer Herrn Widmer informierte. Dieser empfahl eine umfassende psychologische Untersuchung.
»Ruedi musste gemeldet werden, weil er in der Schule zerstreut, träumerisch und leistungsschwach erschien«, notierte der Schulpsychologe am 16. Dezember 1969. »Zudem rief er durch sein selbstvergessenes Spielen auf den Geleisen des Bahnhofs die Polizei aufs Tapet. Ein vorläufiges Audiogramm fiel leicht auffällig aus, sodass ich die Mutter auf Anraten von Herrn Direktor Dr. Ammann an die pädaudiologische Klinik in St. Gallen gewiesen habe.«
Die Erwachsenen hielten mich für verrückt. Der Ruedi Szabo, hat der einen Sprung in der Schüssel?
Zur Beobachtung sollte ich für drei Monate in ein Kinderheim gehen. Dieses war nur etwa eine Viertelstunde von meinem Zuhause entfernt und doch fühlte es sich viel weiter an, denn meine Familie war nicht bei mir. Als mein Vater mit mir an der Hand zu der Einrichtung ging, weinte ich. Ich fühlte mich verlassen, auf mich allein gestellt, und das ausgerechnet, weil mit mir offenbar etwas nicht stimmte.
»Hör auf zu plärren, sei ein Mann«, sagte mein Vater. Und das tat ich.
Obwohl ich mich so unsicher fühlte, war ich auch neugierig: Was würde mich hier wohl erwarten? Zum Kinderheim gehörte neben dem großen L-förmigen Hauptgebäude im Stil der 1960er-Jahre ein wesentlich älteres Haus, das einst als reguläres Schulhaus gedient hatte. In den Schulräumen wurden nun die »schwer erziehbaren« jungen Menschen unterrichtet: wir. Mit drei anderen Kindern teilte ich mir meine Stube. Wir schliefen in flachen Betten und teilten uns zu viert einen großen Bettkasten, dazu durfte noch jeder eine kleine Kommode für persönliche Habseligkeiten nutzen.
Im Kinderheim herrschten klare Regeln, vor allem beim Essen. Wir wurden in feste Dienste eingeteilt, Abwaschen und Tischdecken, und vor jeder Mahlzeit mussten sich alle Kinder in dem großen Speisesaal aufstellen und so lange warten, bis es mucksmäuschenstill war. Erst dann durften wir uns hinsetzen. War das geschehen, rief der Heimleiter: »En guate!«, und wir durften losmampfen. Dabei herrschte eine strenge Etikette, die ich von daheim nicht gewohnt war. Im Zentrum stand das Wort »bitte«: »Dürfte ich bitte ein Stück Butter haben?« »Würdest du mir bitte eine Schnitte Brot reichen?«
Häufig gab es einen festen Brei aus Maisgrieß. Dieser war grottenschlecht, kein Vergleich zu der Polenta, die ich von italienischen Köchinnen kannte. Ich saß vor meinem Teller, schob mir langsam einen Löffel von dem Zeug in den Mund und bekam sofort einen Brechreiz. Ich aß nicht auf, sonst hätte ich mich wohl übergeben. Niemand zwang mich dazu und abends würde es ja etwas Neues geben, dachte ich. Weit gefehlt: Als ich mich abends an den Tisch setzte, stand an meinem Platz wieder diese Pampe, die die Köche hier für Polenta hielten. Und am folgenden Morgen ebenfalls – so lange, bis ich alles aufgegessen hatte.
Trotz dieser unangenehmen Seite fühlte ich mich überraschend wohl. Meine kindliche Angst, aus dem familiären Umfeld herausgeworfen und in der Einsamkeit gelandet zu sein, verflog mit jedem Tag etwas mehr. Meine Stubenkameraden waren nett, und die Erwachsenen waren anständige Menschen. Zwar herrschten strenge Regeln, aber geschlagen wurden wir nicht. In dieser Zeit war das nicht selbstverständlich. Die Pädagogen behandelten uns freundlich. Vormittags hatten wir Schule, nachmittags gab es allerhand Freizeitaktivitäten – allerdings unter Anleitung der Erzieher. Wir bauten ein Baumhaus, spielten Fußball und Verstecken, machten eine Schnitzeljagd. Außerdem kümmerte sich eine Psychologin um mich. Ich musste viel zeichnen, was mir aber auch Freude bereitete, denn ich zeichnete überaus gern.
Bei einer Sitzung holte die Psychologin einen großen Baukasten hervor. Darin fanden sich viele Spielsachen und Figuren: Bäume, Autos, Schiffe, alles Mögliche. »So, Ruedi, dann bau einfach mal etwas damit auf«, sagte sie. »Bau einfach, wonach dir ist.«
Ich dachte an meinen Vater. Sonntags schaute er immer die Übertragung der Formel-1-Rennen im Fernsehen. Damals war das noch ein lebensgefährlicher Sport. Als er uns für ein Jahr verlassen hatte, hatte er für eine kurze Zeit als Techniker in der Formel 1 gearbeitet. Also reihte ich die Fahrzeuge hintereinander auf, als beginne gleich der Große Preis von Deutschland auf dem Nürburgring. Die Bäume säumten die Rennstrecke, immer neue Elemente baute ich an die Formel-1-Piste. Während ich mich beim Spielen vergnügte, beobachtete die Psychologin mit geschultem Blick, wie ich die Sachen aufbaute und wie ich damit umging. Sie stellte mir andauernd Fragen: »Bist du das Auto?« »Ist dein Vater das Auto?«
Erst nach Jahrzehnten bekam ich Einblick in den Bericht des Kinderheims. Ich war schockiert, als ich las, dass ich all die Jahre ein anderes Bild meiner Kindheit gehabt hatte als die Pädagogen und Psychologen. Diese schätzten mich als neurotischen Jungen ein, der unter einer »assoziativen Frühverwahrlosung mit schizoider Charakterentwicklung« litt – eine Formulierung, die Fachleute wohl heute so nicht mehr wählen würden. Mich traf sie sehr. Die Zeit bei den Pflegetanten hatte sich aus fachlicher Sicht offenbar sehr negativ bemerkbar gemacht. Die Mitarbeiter des Heims hielten mich anfangs für äußerst schwierig, aggressiv, kaum zu bändigen. So habe ich mich nicht in Erinnerung und ich weiß nicht, ob die Diagnose richtig war. Aber wenn jemand die Psychologen vom Kinderheim gefragt hätte: »Können Sie sich vorstellen, dass der Ruedi mal eine Bank überfällt?«, dann hätten sie vielleicht mit Ja geantwortet.
Lange Zeit hatte ich die Schläge meines Vaters für meine Entwicklung verantwortlich gemacht. Ein zweiter Grund war jedoch offensichtlich, dass ich in den ersten beiden Jahren meines Lebens völlig entwurzelt war, hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Betreuungspersonen, wobei die Pflegetanten mich obendrein auf eine Weise behandelt haben, die man nur als schwere Misshandlung bezeichnen kann.
Als die drei Monate im Kinderheim zu Ende gegangen waren, war ich froh, wieder nach Hause zu dürfen. Die ganze Familie war gekommen, um mich abzuholen: Mama, Papa, Schwester und Bruder. Was für eine Freude!
Bei der ersten Mahlzeit daheim bat ich: »Würdest du mir bitte das Brot reichen, Papa?«
»Warum nimmst du es dir nicht einfach?«, fragte mein Vater, den meine neu erworbene Höflichkeit sichtlich verdutzte.
»Das habe ich eben so gelernt!«
Meine Eltern hat diese Wandlung sicherlich beeindruckt, ich selbst war einfach erleichtert, endlich wieder in mein gewohntes Umfeld zurückzukehren, auch wenn die Zeit im Kinderheim keine Qual für mich bedeutet hatte. Dennoch war es ein weiterer Einschnitt in meinem bis dato unsteten Leben, der noch einen weiteren nach sich zog. Während meiner Abwesenheit hatte ich im regulären Unterricht