Bright Horizon. H.J. Welch

Bright Horizon - H.J. Welch


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würde ihn recht gut kennen, aber jetzt schien es plötzlich, als hätte Grandpa ein Doppelleben geführt. Warum hatte er sein Zuhause und seine Familie hinter sich gelassen? Ben fragte sich, ob dieses Geheimnis wohl der Grund sein mochte, warum seine Urgroßmutter – Nancy – ihm ihr Vermögen hinterlassen hatte.

      »Ich wünschte auch, ich hätte sie kennengelernt«, sagte er traurig.

      Gazza nickte mit Tränen in den Augen. Dann räusperte er sich. »Na ja, es gibt wahrscheinlich Vieles zu bedauern. Aber jetzt sind Sie hier und nur das zählt. Was ist mit Ihrem Gepäck? Das Auto steht draußen und wir können uns auf dem Weg weiter unterhalten.«

      »Oh nein«, sagte Ben, als Gazza nach ihren Koffern griff. »Das schaffen wir schon.«

      Gazza sah ihn empört an. »Es ist mein Job, Sir. Machen Sie sich keine Sorgen. Folgen Sie mir einfach, ich kümmere mich dann um den Rest.«

      Bevor Ben darauf etwas erwidern konnte, hatte Gazza ihre Koffer geschnappt und lief los. Ben und Elias folgten ihm.

      »Bringen Sie uns zu unserer Pension?«, erkundigte sich Ben.

      Gazza warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Oh nein, Sir. Da die Familie jetzt über Ihre Anwesenheit informiert ist, schlage ich vor, dass Sie sich so schnell wie möglich bekannt machen. Ich nehme an, der Anwalt der Familie hat mit Ihnen Kontakt aufgenommen?«

      Gazza schien alles zu wissen. Ben nickte. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, diese – seine – Familie so schnell kennenzulernen. Nicht direkt nach einem langen, erschöpfenden Flug über den Atlantik.

      »Ich habe mit den Anwälten gesprochen«, bestätigte Elias. »Aldridge Harding Carmichael ist informiert.«

      »Bestens«, sagte Gazza erfreut. Er lief um eine Gruppe Schulkinder herum, die alle die gleichen Rucksäcke trugen und – der Sprache nach – vermutlich aus Italien kamen. Es sah aus, als würden sie den Hinweisschildern zu einem Parkplatz folgen. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf… Sie sollten so bald wie möglich mit Mr. Grimaldi de Loutherbergh sprechen. Das ist Ihr Großonkel Kenneth.«

      »Richtig«, sagte Ben. »Und ich nehme an, er mag mich nicht sonderlich, ja?«

      Gazza kniff die Lippen zusammen. »Ich möchte nicht für Mr. Grimaldi de Loutherbergh sprechen, Sir.«

      Also nein. Ben hatte recht gehabt.

      »Mr. Grimaldi de Loutherbergh ist Miss Nancys jüngster Sohn«, fuhr Gazza fort. »Der jüngere Bruder Ihres Großvaters. Er verwaltet das Anwesen.«

      »Gut zu wissen«, sagte Elias höflich und warf Ben einen mitleidigen Blick zu.

      Ben nickte. Er konnte nicht um die Sache herumkommen und musste mit seiner entfremdeten Familie reden. So war das eben. Aber wenigstens konnte er sich auf die nette kleine Pension freuen, in der Elias und er Zimmer gebucht hatten.

      »Meine Urgroßmutter wurde also Nancy genannt?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.

      »Wir nannten sie immer Miss Nancy«, bestätigte Gazza. »Sie wurde schon als Mädchen so genannt. Offiziell hieß sie Anne oder Mrs. Grimaldi de Loutherbergh und die Familie nannte sie Aunt Annie. Aber wer sie richtig kannte, sagte Miss Nancy zu ihr. Oh, passen Sie auf, wohin Sie gehen. Diesen Weg bitte, meine Herren.«

      Er führte Ben und Elias über eine Kreuzung und sie mussten kurz durch den Regen laufen, bevor sie in ein mehrstöckiges Parkhaus kamen. Ben trug eine Jacke, aber es war trotzdem beißend kalt und die Feuchtigkeit drang ihm sofort bis auf die Knochen. Der Gestank nach Benzin und Abgasen hing schwer in der Luft.

      »Miss Nancy hat uns einen Auftrag gegeben«, fuhr Gazza fort. »Kümmert euch um den Jungen, sagte sie. Heißt ihn willkommen. Weil sie es nicht tun werden. Deshalb dachte ich mir, ich warte hier mit dem Wagen auf euch Jungs.« Er blieb vor einem blanken, schwarzen BMW stehen, der schon mindestens fünfzehn Jahre alt sein musste. »Es ist schön, dass Sie nicht allein reisen mussten, Sir.« Er nickte und öffnete mit seinem Transponder den Kofferraum. »Sind Sie Freunde oder Kumpels oder so?«

      »Freunde oder Kumpels?«, fragte Ben, weil er nicht wusste, ob diese Worte im Englischen die gleiche Bedeutung hatten wie im Amerikanischen. Gazza schien ein netter Kerl zu sein, doch das musste nichts heißen. Die Arbeiterschicht seiner Generation war vermutlich mit Vorurteilen über Schwule aufgewachsen. Ben kam sich dann etwas dumm vor, als er erkannte, dass er sich vermutlich viel zu viele Gedanken darüber machte.

      Außerdem hatte Ben keinen Grund, sich zu schämen, zumal er und Ben wirklich nur Freunde waren. Dass sie beide schwul waren, spielte in diesem Zusammenhang absolut keine Rolle.

      »Richtig, ja«, sagte er selbstbewusst. Wenn er jetzt nicht zu ihrer Freundschaft stand, würde er es nie können. »Aber Elias ist auch Anwalt.«

      »Oh, das ist gut«, sagte Gazza, packte die Koffer in den Kofferraum und schlug so fest die Klappe zu, dass der ganze Wagen zu wackeln anfing. »Wir haben in letzter Zeit ständig Anwälte im Haus, die sich aufblasen und wichtigtun. Sie können jemanden brauchen, der weiß, wovon die Kerle reden. Also gut. Steigt ein.«

      Er öffnete eine der Hintertüren. Elias streckte den Arm aus und ließ Ben den Vortritt. Ben stieg ein. Ihm fiel sofort auf, dass das Lenkrad auf der falschen Seite war. Dann sah er die riesige, silbergraue Katze, die auf dem Beifahrersitz saß, mit dem Schwanz schlug und ihn mit ihren blauen Augen kalt ansah.

      »Katze!«, quiekte er und wäre fast rot geworden, weil er nur auf das Offensichtliche hingewiesen hatte. Aber damit hatte er nicht gerechnet.

      »Oh, einfach ignorieren«, sagte Gazza lachend, als er sich hinters Steuer setzte. »Die Dame lässt sich nichts befehlen. Macht immer, was sie will. Luna, ich möchte dir Mr. Turner und Mr. Solomon vorstellen.«

      Luna gähnte nur herzlich und zeigte ihre scharfen Zähne. Sie war wirklich riesig.

      »Das ist ein hübscher Name«, sagte Elias und schloss die Tür. »Gehört sie Ihnen?«

      Sie schnallten sich an und Gazza fuhr rückwärts aus dem Parkplatz. »Diese Katze gehört vermutlich niemandem«, sagte er lachend. »Gelegentlich scheint sie sich über meine Gesellschaft zu freuen und besucht mich. Ich weiß nicht, wie sie wirklich heißt. Aber sie sieht aus wie der Mond und ist auch fast so groß.«

      Er lachte über seinen eigenen Witz. Sie kamen an eine große Kreuzung mit einer Verkehrsinsel in der Mitte. Ben meinte sich zu erinnern, dass man das Kreisverkehr nannte. Es war ziemlich verwirrend. Die Autos fuhren durch den strömenden Regen auf der falschen Straßenseite im Kreis, schafften es aber irgendwie, keine Unfälle zu verursachen.

      Gazza sagte, sie würden ungefähr zwei Stunden brauchen, um Whittingar Abbey zu erreichen. Das Anwesen lag etwas außerhalb einer kleinen Stadt namens Horncaster, die wiederum auf halbem Weg zwischen Swindon und Bristol lag. Ben war ein Nervenbündel. Elias und er hatten geplant, sich erst hier einzurichten und mit den Anwälten zu reden, bevor sie ein Treffen mit der Familie vereinbarten, die Nancys Testament angefochten hatte. Es ging alles so schnell. Er hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, sich die Zähne zu putzen.

      Ben kam sich vor, als wäre er in einem Roman von Jane Austen gelandet und müsste sich den neuen Nachbarn vorstellen, die ihn jetzt schon hassten. Es war so surreal.

      Aber es war wirklich so. Er kam sich vor wie in einem Regency-Roman. Theoretisch könnte er jeden vor die Tür setzen, der sich auf dem Anwesen aufhielt. Dem Testament nach gehörte es ihm. Es war also nicht ganz unverständlich, dass die Familie misstrauisch war und ihn loswerden wollte. Er war ein Fremder, der ihnen ihr Zuhause nehmen konnte. Ben hatte allerdings nicht die Absicht, das zu tun. Es war also vielleicht keine schlechte Idee, so bald wie möglich mit ihnen zu reden und es ihnen in einem persönlichen Gespräch mitzuteilen.

      Die Straße führte durch weite Felder. Am Himmel hingen dunkle Wolken. Es war ein fremdes Land und obwohl seine Familie ihn hier nicht wollte, war es ein aufregendes Gefühl für Ben.

      Er drehte den Kopf zu Seite und sah, dass Elias ihn beobachtete. Er wurde rot. »Was ist?«, fragte er


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