Wünsch dich ins Märchen-Wunderland. Martina Meier

Wünsch dich ins Märchen-Wunderland - Martina Meier


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sanfter Stimme, ihn allein zu lassen. Sie verlässt daraufhin die geräumige, mit feinen Marmorstücken verzierte Höhle, in der selbst die großen, mit Perlen gefüllten Muscheln an Iphigenie erinnern. Die Tante steht am glucksenden Wasser und wischt sich über die Augen. „Wo bist du nur, Iphigenie? Ich wollte noch so viel mit dir zusammen erleben. Ich vermisse dich, mein Schatz. Jede Stunde an jedem Tag und immerzu denke ich an dich.“ Sie seufzt und glaubt plötzlich, Flötenspiel zu hören. Da bricht sie erneut in Tränen aus.

      Doch das Flötenspiel hält an und zu ihrer Verwunderung winkt ihr eine Hand aus dem Wasser zu. Iphigenie hebt für einen kurzen Augenblick ihren Kopf aus dem Wasser und ruft: „Tante, du musst nicht mehr traurig sein. Es geht mir gut. Ich kann den ganzen Tag auf der Flöte spielen. Es ist wunderschön hier. Bitte, sag es auch Vater. Ich bin glücklich und weiß, dass wir uns wiedersehen. Liebe Tante, vergiss mich nicht und lebe wohl! Hörst du? Lebe wohl.“

      Als Poseidon davon erfährt, steht er augenblicklich auf und wäscht sich erst mal gründlich. Er zieht sein bestes Gewand aus reinem Leinen an und geht mit der Tante zum Strand. Arm in Arm stehen sie vor den sich kräuselnden Wellen. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Da geschieht es. Leises Flötenspiel dringt an Poseidons Ohr. Es wird lauter und ein stiller Frieden kehrt mit jedem Ton in seinem Herzen ein. Er schaut, der Melodie lauschend, versunken über das glitzernde Wasser hinweg bis zum hellen Horizont und flüstert leise: „Es gibt wirklich etwas, das ist stärker ist als der Tod.“

      Regina Berger, geboren in Hagen/Westfalen, lebt, schreibt und arbeitet in Wuppertal.

      *

      Annabelle und Richard

      In einem Park saßen jeden Tag zwei ältere Eheleute auf einer Bank unter einem Rosenbogen. Ihr Leben war geprägt von vielen Entbehrungen, die in Kauf genommen werden mussten. Um dem öden Alltag zu entfliehen, träumten sie sich in eine Fantasiewelt, deren Hauptfarbe Lila war. Nicht nur jede Wolke hatte diese Farbe, nein, fast die gesamte Umgebung. In ihrer Fantasie saßen die beiden unter einem lila Rosenbogen, der sich über eine lila Wiese wölbte, als wäre er ein Tor. In unmittelbarer Nähe ergoss sich eine Fontäne, deren Wasser nach Heidelbeeren schmeckte. Annabelle und Richard hatten sich schon daran gelabt, um ihren Durst zu stillen. Sie genossen die Ruhe, den Frieden und den Gesang der Vögel.

      Plötzlich vernahm Annabelle ein Kichern. „Hast du das gehört?“

      „Was denn, Annabelle?“

      „Das Kichern.“

      „Ich habe nichts gehört, tut mir leid.“

      „Hast du dein Hörgerät an?“, fragte Annabelle ihn verärgert.

      „Aber, Annabelle, hier brauchen wir das doch nicht.“

      „Seltsam, dann habe ich mich getäuscht.“

      „Das kann passieren“, meinte Richard und legte seinen Arm um seine Frau.

      Sogleich vernahm Annabelle erneut das Kichern, diesmal etwas lauter als zuvor. „Richard, hast du es jetzt gehört?“

      „Nein, tut mir leid.“

      Doch Annabelle ließ das nicht gelten und machte sich auf die Suche nach dem Ursprung des Geräuschs. Dabei geschah etwas Unerwartetes. Sie fühlte sich fit, als sei sie wieder jung, und lief leicht wie eine Feder über die Wiese. Sie wähnte sich in einem Traum, aber dann sah sie, wie Richard sich die Augen rieb. Als könne er nicht glauben, was er sah. Es war wie ein Wunder.

      „Annabelle, du bist wunderschön“, sagte Richard verzückt und schaute sie mit wässrigen Augen an.

      „Danke für dein Kompliment. Aber ich bin doch schon so alt.“

      „Nein, mein Schatz. Irgendetwas scheint die Zeit zurückgedreht zu haben.“

      Einen Spiegel gab es leider nicht in der lila Welt. Und so glaubte Annabelle nach wie vor nicht daran, dass sie von einem Moment auf den anderen jung und hübsch geworden war.

      „Ich weiß nicht, wie ich es dir beweisen kann“, meinte Richard.

      Mit einem Mal beobachtete sie, dass ihr Mann ohne Brille und Hörgerät herumzulaufen begann. Außerdem waren Annabelles Gelenkschmerzen verschwunden, sie legte ihren Gehstock beiseite. Es war ein wunderbarer Traum, den sie mit ihrem geliebten Mann erleben durfte. Sie genoss eine Freiheit, die sie viele Jahre vermisst hatte.

      „Annabelle“, begann Richard.

      „Ja?“

      „Wie fühlst du dich?“

      „So gut wie noch nie.“

      „Das freut mich. Mir geht es ebenso.“

      Die beiden waren sich also einig. Nun, es war nicht die reale Welt, das war Annabelle klar. Dennoch war es eine, die ihr und Richard gefiel. Die beiden hatten zwei Kinder großgezogen. Leider gingen diese schon seit Jahren ihre eigenen Wege. Das stimmte sie sehr traurig, dennoch versuchten sie, es zu akzeptieren. In der lila Welt vergaßen Annabelle und Richard ihren Kummer, ihre Sorgen, Schmerzen und Probleme.

      „Schau mal, Richard, da drüben. Ein Reh springt über die Wiese. Und dort fliegt ein großer Schmetterling, alles ist so wunderbar lila. Ich liebe diese Farbe.“ Annabelle wurde euphorisch.

      „Na ja“, meinte Richard etwas mürrisch. „Bei Blumen habe ich nichts dagegen. Aber alles und überall ... ich weiß nicht.“

      „Ich finde Lila sehr schön.“ Annabelle beharrte auf ihrem Standpunkt.

      Sie diskutierten angeregt, bis sich jene mysteriöse Stimme erneut durch Gekicher bemerkbar machte. Annabell schrak zusammen, auch Richard schien nicht wohl zu sein.

      „Wieso habt ihr Angst? Ich tu euch nichts“, wisperte es.

      „Wer sind Sie?“, fragte Annabelle mutig.

      „Einen Moment. Ich komme gleich“, erwiderte die Stimme.

      Sie warteten ein paar Minuten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch dann staunten Annabelle und Richard beim Anblick eines Wesens mit schrumpeliger Haut und wenig Haaren auf dem Kopf, dem die geheimnisvolle Stimme gehörte.

      „Woher kommst du?“, wollte Richard wissen.

      „Aus der Welt eurer Träume.“

      „Aber wir träumen doch nicht“, meinte Annabelle verwirrt.

      „Doch. Denn eine Welt, in der alles nur eine einzige Farbe besitzt, gibt es nun mal ausschließlich in Träumen.“

      „Und was jetzt?“, fragte Annabelle enttäuscht.

      „Träume sind wie Seifenblasen, die zerplatzen. Aber lassen wir das. Genießt es, hier zu sein. Genießt es, so lange ihr könnt“, riet ihnen das Wesen und verschwand.

      „Wir versuchen es“, rief Annabelle ihm nach.

      „So ist es recht“, ermutigte sie das nun wieder unsichtbare Geschöpf.

      „Hast du das gesehen, Richard? Es ist verschwunden.“

      „Ja, Annabelle, und das Wesen hat recht. Wir sollten unsere Träume genießen.“

      Verdutzt sah Annabelle ihren Mann an, als ihnen plötzlich ein lila Spiegel entgegenrollte.

      Sie staunten nicht schlecht, als dieser sie ansprach. „Guten Tag. Ich bin der Spiegel der Wahrheit. In mir sieht jeder seine eigene Seele. Unverfälscht und pur.“

      „Einen ähnlichen haben wir zu Hause“, sagte Annabelle verwundert.

      „Sicher. Doch ich bin etwas Besonderes. Ihr werdet es merken.“

      „Und was?“, fragte Annabelle.

      „Dass ich euch die Wahrheit durch euer Spiegelbild zeige.“

      Völlig unerwartet


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