DJATLOV PASS - Die Rückkehr zum Berg des Todes. J.H. Moncrieff
ist ein richtiger Charmebolzen, was?«, sprach Andrew leise, damit der Rest der Gruppe nichts mitbekam.
»Zum Glück haben wir ihn nicht wegen seiner Persönlichkeit engagiert. Falls er uns in einem Stück zum Djatlov-Pass und zurück bringen kann, reicht mir das.«
»Falls?« Ihr Produzent hatte ein Talent dafür, selbst die kleinsten Nuancen auszumachen. »Hast du etwa Zweifel?«
Nat zog ihren Schal höher um ihre Wangen, als der bitterkalte Wind Tränen in ihre Augen trieb. »Wir haben sechs Monate lang trainiert, Andrew. Djatlovs Freunde haben so etwas ihr Leben lang gemacht, und was ist passiert? Zweifel sind gesund. Es wäre verrückt, nicht zu zweifeln.«
»Wahrscheinlich. Was auch immer ihnen zugestoßen ist – du glaubst doch nicht wirklich, dass es immer noch da ist, oder?«
»Ich denke, unsere größten Herausforderungen werden das Wetter, die Strapazen und unsere eigene Paranoia sein. Egal, was Igor und seine Freunde getötet hat, es kann unmöglich noch sechzig Jahre später da draußen sein.«
Sie hoffte, dass sie zuversichtlicher klang, als sie wirklich war. Die Wahrheit war, dass sie keine Ahnung hatte, was mit der Djatlov-Gruppe passiert war. Was hatte neun erfahrene Bergsteiger derart erschreckt, dass sie ihr Zelt aufgeschlitzt hatten und in Unterwäsche nach draußen gerannt waren? Warum hatte Ljudmilas Gruppe so viel länger überlebt und solche schrecklichen und schweren Verletzungen erlitten? Woher war die erhöhte Strahlung an der Kleidung gekommen und warum waren die Spitzen mancher Bäume an der Lagerstelle verbrannt gewesen? Irgendetwas hatte die Bergsteiger in Angst und Schrecken versetzt, und nach dem zu urteilen, was sie ereilt hatte, zu Recht. Aber was war es gewesen? Es gab eine Million von Theorien, alle letztendlich unbefriedigend.
»Scheiße, ist das kalt. Hättest du nicht beschließen können, das Rätsel des Bermuda-Dreiecks zu lösen?«
Lächelnd hakte sich Nat bei Andrew ein und kuschelte sich enger an ihren Produzenten, um sich zu wärmen. »Das sollte vielleicht unsere Belohnung fürs Überleben sein.«
Falls ihr es überlebt.
Diese fiese Stimme in ihrem Kopf schon wieder, die darauf beharrte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber natürlich würden sie überleben. Warum auch nicht? Sie hatten das beste Team, das ausgefeilteste Equipment. Was auch immer Ljudmila und ihren Freunden damals in den Fünfzigern zugestoßen war, es musste einfach eine rationale Erklärung dafür geben. Ihre Aufgabe war es, das herauszufinden, und nicht, bei dem Versuch umzukommen.
»Wasili ist mir nicht geheuer«, sagte Andrew.
»Er ist nicht der Allerfreundlichste, das stimmt. Aber sieh das mal aus seiner Sicht. Seine Art zu leben stirbt langsam aus und um seine Familie zu ernähren, muss er nun einen Haufen einfältiger Touristen über den gefährlichsten Berg der Region zerren. Wenn ihn das ein bisschen unwirsch oder mürrisch macht, kann ich ihm das nicht verübeln.«
»Einfältige Touristen? Das weise ich entschieden zurück.«
»Du weißt, was ich meine. Aus seiner Perspektive. Er kann ja nicht wissen, wie toll unser Team ist.«
»Schon besser.«
Während sie dem Rest der Gruppe zum Restaurant folgten, versuchte Nat herauszufinden, was es war, dass sie immer noch störte. War es Wasilis Weltuntergangsstimmung? Die Tatsache, dass sie in die Fußstapfen von neun Menschen traten, die auf ungeklärte und grässliche Weise gestorben waren? Oder doch etwas anderes?
»Wir werden das packen, richtig?«
Die Besorgnis in Andrews Stimme entsprach ihren eigenen Gedanken. Sie drückte seinen Arm. »Aber natürlich packen wir das. Bevor du dich versiehst, sitzen wir mit Margaritas in der Sonne und lachen darüber.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
Ich auch.
***
Die Russen, die sie zum Essen willkommen hießen, waren fröhlich und freundlich und verteilten augenblicklich großzügige Gläser hausgemachten Wodkas, als die Gruppe eintraf. Lana sah skeptisch auf ihr Glas, als es über den alten Holztisch bis in ihre Hand glitt.
»Ich weiß nicht, ob wir trinken sollten. Wir müssen morgen früh fit sein.«
»Ein bisschen Wodka hat noch niemandem geschadet«, sagte Igor, der sein Getränk mit einem herzhaften Na zdrowie herunterstürzte. Er grinste und stieß sein leeres Glas an ihr volles, bevor er sich noch eines nahm. »Wärmt das Blut. Probier mal.«
Nat hielt den Atem an, als sie auf die Reaktion der Athletin wartete. Sie wusste nicht, wie es in Russland aussah, aber in vielen Ländern galt es als Beleidigung, einen Drink abzulehnen.
»Ich schätze, einer kann nicht schaden.« Mit einem zaghaften Lächeln nahm Lana einen kleinen Schluck, der sofort in einem Hustenanfall resultierte. Mit Tränen in den Augen griff sie sich an die Kehle. »Wow, ziemlich stark.«
Alle lachten, als Igor ihr auf den Rücken klopfte. »Siehst du? Das ist wirklich gutes Zeug. Das gibt Haare auf der Brust.«
»Na, das ist ja genau das, was ich brauche.« Ihre Tränen abwischend setzte sich Lana neben den Russen. Sie ließ ihr Glas unberührt, aber das Eis war gebrochen. Nat konnte wieder durchatmen. Nach dieser kurzen Interaktion zu urteilen, sollte ihre Gruppe gut miteinander klarkommen.
Sie war überrascht, als Steven den Stuhl neben ihr wählte. Er war derjenige, über den sie am wenigsten wusste. Er war in letzter Minute dazukommen, aber Andrew hatte erwähnt, dass seine Referenzen so außergewöhnlich waren, dass er nicht hatte widerstehen können. Nat vermutete, dass das gute Aussehen und die leuchtend blauen Augen des Mannes ihr Übriges getan hatten.
Ihre Gastgeber füllten erneut die Gläser und reichten Suppenschalen herum, zusammen mit dicken Scheiben dunklen Roggenbrots. Nat beugte sich über die Schale, damit der aufsteigende Dampf ihre immer noch gefrorene Nase wärmte. Die Suppe hatte einen hübschen, überraschend strahlenden Magentaton. Borschtsch.
»Nervös wegen morgen?«
Steven betrachtete sie mit einer Intensität, die sie als leicht verstörend empfand, als ob diese türkisfarbenen Augen direkt durch sie hindurch sehen konnten. Sie zog Lügen in Betracht, entschied sich dann aber für eine Halbwahrheit. »Ein bisschen, und du?«
»Nö. Ich hab den Everest überstanden. Was diese Jungs Kategorie III nennen, ist lachhaft.« Er butterte seine Brotscheibe, aber seine Aufmerksamkeit war weiterhin auf sie gerichtet. Sie konnte nichts weiter tun, als zu versuchen, sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Nat wurde schnell unsicher in der Gegenwart schöner Männer. Warum um alles in der Welt hatte sie einem homosexuellen Mann die Teamauswahl überlassen?
»Du warst auf dem Mount Everest? Wie war das so?« Sie war noch nie jemandem begegnet, der den höchsten Berg der Welt erklommen hatte. Auch wenn sie keine vergleichbaren Bestrebungen hatte, faszinierten sie solche Menschen. Es war äußerst riskant, sowohl persönlich als auch finanziell. Bergsteiger mussten mindestens fünfunddreißigtausend Dollar aufbringen, um den Aufstieg beginnen zu können, ohne Garantie, jemals den Gipfel zu erreichen. Und selbst, wenn das Wetter gnädig genug war, um die Gipfelbesteigung zu wagen, war der Berg übersät mit den Leichen derer, die versagt hatten.
»Phänomenal. Eines der großartigsten Erlebnisse, die die Welt zu bieten hat. Kann es nur wärmstens empfehlen.«
Sein unbeirrter Blick fühlte sich unangenehm an. Nat konzentrierte sich auf ihre Suppe, darauf, die warme Rüben-und-Rindfleisch-Mischung in ihren Mund zu löffeln. Mit einem Hauch von frischem Dill war die Suppe herzhaft und erfrischend zugleich. »Oh, das ist überhaupt nicht meine Liga. Ich würde es noch nicht mal ins Basislager schaffen.«
Ganz zu schweigen davon, dass sie es sich nicht leisten konnte. Ihr Podcast lief gut, aber nicht gut genug, dass sie fünfunddreißig Mille für ein derart riskantes Abenteuer aus dem Fenster werfen konnte.
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Ich wette, du kannst alles schaffen,