DJATLOV PASS - Die Rückkehr zum Berg des Todes. J.H. Moncrieff
»Mir … würde … was … einfallen.«
Sie riskierte einen Blick hinter sich und musste feststellen, wie erbärmlich ihr Produzent aussah. Seine Mütze und sein Schal waren mit Eis verkrustet und seine Augen tränten, was rote Streifen auf der entblößten Gesichtshaut hinterließ. »Wenn du keine zwanzig Minuten durchhältst, wie willst du dann zurück nach Wischai kommen?«
»Ich … hasse … dich.«
»Hör auf, mich zum Lachen zum bringen. Ich krieg’ so schon kaum Luft.«
»Und … wessen … Schuld … ist … das?«
»Deine.« Sie glitt davon, bevor er zu ihr aufschließen konnte, und wartete auf den Schneeball, der sie jeden Moment am Kopf treffen sollte. Lächelnd ging sie den Aufstieg mit neuem Elan an. Andrew hatte immer diese Wirkung auf sie. Sie scherzte oft, dass er die Liebe ihres Lebens war, aber es war eigentlich kein Witz. Dem heterosexuellen Mann, mit dem sie sich so gut verstand, war sie noch nicht begegnet.
Ihr kurzer Wortwechsel hatte ihren Abstand zum Rest der Gruppe noch vergrößert. Nat konnte Wasili oder Steven nicht mehr sehen und sogar Anubha und Joe waren verschwommen. Igor hatte auf sie gewartet, und als ihr Blick auf ihn fiel, scheuchte er sie weiter.
»Andy? Wir müssen uns beeilen. Wir halten alle auf.«
Im Nachhinein betrachtet war es dumm gewesen, die Langsamsten hinten laufen zu lassen. Falls die anderen nicht bemerkt hätten, dass sie zurückgefallen waren, hätte aus dem Spaß schnell Todernst werden können. Sie nahm sich vor, beim Mittagessen die Gruppenformation anzusprechen. Vielleicht konnte Igor die Nachhut übernehmen.
Anstatt angefressen zu sein, als sie ihn endlich eingeholt hatte, grinste der Russe und klopfte ihr so kräftig auf die Schulter, dass sie stolperte. Er hielt sie am Ellbogen fest, bevor sie fallen konnte. »Keine Sorge«, sagte er. »Schwerer Aufstieg, ja? Aber wir sind fast da. Du bald kannst dich ausruhen.«
»Das wäre gut.«
»Er ist okay?« Igors Brauen zogen sich zusammen, als er Andrew betrachtete. Nat war bestürzt darüber, wie weit er zurücklag.
»Das wird schon. Wir haben hierfür trainiert, aber, na ja, ein Fitnesscenter in Kalifornien ist eben kein Ersatz für das Ural-Gebirge.«
»Ja, dieser Berg, das schon was sein. Aber keine Sorge. Wir warten auf deinen Freund und dann wir was essen. Ja?«
Außer Atem schaffte Nat nur ein Nicken, darauf hoffend, dass Igor die Kälte für ihre roten Wangen verantwortlich machte. Scheiße, war das peinlich. Sie hätten sich ein ganzes Jahr Zeit nehmen sollen, mit erheblich mehr Training. Was hatten sie sich bloß dabei gedacht, mit Bergsteigern und Olympia-Sportlern mithalten zu wollen?
Eine Minute später kam Andrew an, sein Gesicht mit einem erschreckenden Lila-Ton. »Sorry«, keuchte er.
»Keine Sorge, mein Freund. Kannst du noch?«
Was, wenn Andrew es nicht weiterschaffte? Sie wusste nicht, was schlimmer war – auszuhecken, wie man ihren Produzenten auf sichere Art zurück zum Dorf bringen konnte, oder irgendwo im Nirgendwo mit dieser zänkischen Gruppe festzuhocken. Igor, Lana und das Inuit-Pärchen waren ziemlich nett, aber Steven und Wasili – nein, danke. Sie würde keine ganze Woche ohne ihren besten Freund überstehen.
Glücklicherweise kam Andrew nach einer kurzen Verschnaufpause wieder zu Atem und sie folgten Igors gezügeltem Tempo. Als sie den Hügelkamm erreichten, saß der Rest der Gruppe um ein bereits prasselndes Feuer. Lana, Joe und Anubha klatschten, als sie ankamen.
»Hurra, wir sind komplett. Dann können wir ja essen«, sagte Joe. »Die gute Nachricht ist, dass wir an diesem Punkt der Tour noch die volle Auswahl haben. Rindereintopf, Chili, Gulasch, Spaghetti mit Fleischbällchen …«
»Ooh, ich hatte noch nie Camping-Spaghetti, nehmen wir das.« Lanas Augen funkelten, als sie die Gruppe anstrahlte. Entweder wirkte die wilde Natur wirklich belebend auf sie oder sie liebte Spaghetti über alle Maßen.
»Wie kann das sein? Das ist ein Klassiker«, sagte Igor.
Joe holte die silbernen Verpackungen aus seinem Rucksack, während Anubha Schnee für Kochwasser einsammelte.
»Sicher, dass das nicht gefährlich ist?«, fragte Steven und Nat bemerkte, wie jeder bei seiner Frage innehielt. Sie wünschte, er hätte für ein Weilchen den Mund gehalten, um der Gruppe eine Chance zu geben, zu vergessen, was für ein pessimistisches Arschloch er war.
»Das was nicht gefährlich ist? Spaghetti?« Joes Stimme war gelassen, aber seine Körpersprache veränderte sich, als ob er sich zum Kampf rüstete, Rücken gespannt, Schultern straff. »Ja, ziemlich sicher.«
»Ich rede nicht von dem prozessierten Müll. Ich meine das, was sie da macht.« Steven zeigte auf Anubha, die den Bergsteiger nur wütend anfunkelte.
»Mein Name ist Anubha und der Schnee ist total in Ordnung. Absolut rein.«
»Was ist mit dem, das du nicht sehen kannst?«
Andrew stöhnte, ließ sich neben Lana auf einen schneebedeckten Baumstamm fallen und streckte seine Hände dem Feuer entgegen. Nat hoffte, Steven würde die Reaktion ihres Produzenten nicht persönlich nehmen, aber als sie ihm einen Blick zuwarf, starrte er immer noch auf Anubha. Er hatte Andrew nicht einmal bemerkt.
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Joe.
»Bin ich der Einzige, der die Details kennt? Damals, als die Djatlov-Gruppe gefunden wurde, waren wahnsinnig hohe Strahlungswerte gemessen worden.«
Joe schüttelte den Kopf und sein schwarzes Haar rutschte ihm über ein Auge. »Das war in den Sechzigern. Ich weiß nicht, ob du’s mitbekommen hast, aber der Kalte Krieg ist vorbei.«
»Es war übrigens 1959, aber egal. Schon mal was von Tschernobyl gehört? Das bleibt noch zwanzigtausend Jahre lang gefährlich.«
»Das ist hier wohl kaum Tschernobyl.« Andrew konnte Spielverderber nicht leiden, solche Leute, die ein Talent dafür hatten, einfach alles mies zu machen. Er war bereits davon überzeugt, dass Steven ein Spielverderber erster Klasse war.
»Ich glaube, er ist nur mitgefahren, um allen die Woche zu vermiesen«, hatte er letzte Nacht nach dem Essen gemeckert. So viel zu den leuchtend blauen Augen und dem hübschen Gesicht. Gutes Aussehen war für Andy eben doch nicht alles.
»Das muss es auch nicht sein. Selbst, wenn die Strahlung hier nur hundert Jahre anhält, reicht das schon.«
Andrew seufzte. »Hast du den Strahlungsmesser zur Hand, Nat?«
»Ja, gleich hier.« Sie wühlte durch die Deckeltasche ihres Rucksacks und zog den Geigerzähler heraus. Nat wollte ihn ihrem Produzenten reichen, aber der schüttelte den Kopf.
»Gib’s ihm«, sagte er und wies auf Steven. »Er ist derjenige, der so besorgt ist.«
»Hey, ich will das nur gescheit angehen. Ich weiß, dass ich eine Riesennervensäge bin, aber Sicherheit geht vor. Ich gehe davon aus, dass sich niemand eine Strahlenvergiftung einfangen will.«
»Du bist keine Nervensäge, Steven«, sagte Lana, deren Stimme so süß war, dass sie klebte.
Anubha schnaubte. »Doch, ist er. Aber in diesem Fall hat er nicht unrecht.«
»Danke.« Steven machte ein paar Schritte in Anubhas Richtung und hielt das Gerät nahe an den Schnee, den sie sammelte. Während er die Messskala genau im Auge behielt, gab das Gerät ein leises Klickgeräusch von sich, aber kein Piepsen. Schließlich richtete er sich auf. »Sieht okay aus.«
»Dann bringen wir den Schnee mal zum Kochen, Babe. Wir liegen im Zeitplan zurück.« Joe warf einen besorgten Blick in den Himmel, aber Nat konnte nichts Beunruhigendes erkennen. Nur das immer gleiche Grau, Grau und noch mehr Grau.
»Ich dachte, ihr zwei wolltet uns frisches Fleisch besorgen. War das nicht so abgemacht?«
Nat konnte Stevens