BERLIN ZOMBIE CITY. Kalle Max Hofmann
hatte er die Tür geöffnet, schlug ihm ein fieser Geruch entgegen. Die Toilette war einfach hoffnungslos überfüllt; der Schmutzwassertank musste dringend geleert werden. Vielleicht war das der Grund für den Hustenreiz gewesen. Egal, einmal spülen musste noch drin sein. Der Boden klebte sowieso schon – kein Wunder, wenn man bei jedem Seegang im Stehen pisst. Also setzte Ben noch einen drauf, dann drehte er sich um und beugte sich hinunter zum Waschbecken – wobei sein Blick in den kleinen Spiegel fiel. Unweigerlich musste er innehalten, durch seinen wilden Bartwuchs sah er fast aus wie ein Seeräuber. Oder sogar ein Terrorist. So wollte er eigentlich nicht unter Leute gehen, und schon gar nicht, wenn er irgendwelche Sicherheitsbeamten um Hilfe bitten musste. Wegen seines leicht südeuropäischen Teints war er von gescheiterten Kaufhauscops schon oft blöd angemacht worden, und das konnte er jetzt gar nicht brauchen. Und wer wusste es schon so genau, vielleicht wartete dort ja auch eine attraktive Dame in Uniform auf ihn? Genug Gründe, um zum ersten Mal auf dieser Reise den elektrischen Rasierer auszupacken und seinen Wildwuchs wenigstens zum Dreitagebart zu stutzen. Zufrieden fuhr Ben sich anschließend über die Wangen, er war halt schon echt 'ne coole Sau. Das einzige Foto, das er von seinem leiblichen Vater kannte, hatte ihn immer an Cary Grant erinnert. Und Ben trat ganz in seine Fußstapfen, vor allem in einem lässigen Anzug sah er einfach unwiderstehlich aus – genau wie sein Vater damals. Für den Moment musste es aber seine dunkelbraune Lederjacke tun, ein edles Teil im Stil von Motorradbekleidung der 60er Jahre.
Ben fand sie in einer dunklen Ecke der Kajüte. Als er sie über den grauen Pullover streifte und sorgfältig die Kapuze wieder herauszog, fiel sein Blick auf die demolierte Bordelektronik. Die Navigation war zwar heil geblieben, aber das Funkgerät zu ersetzen würde ihn mindestens 500 Euro kosten. Im Prinzip war das aber auch egal. Er hatte bisher in der Firma einfach alles richtig gemacht und die Anrufe der Headhunter wurden von Mal zu Mal interessanter. Bald würde er ein richtig erfolgreicher Broker sein, dann wäre die Reparatur quasi mit einem Stundenlohn abgehakt. Um genau zu sein, müsste er das Radio wahrscheinlich gar nicht reparieren lassen – er könnte sich gleich ein neues Boot gönnen! Mit einem Lächeln auf den Lippen schloss Ben die Kabine ab, ließ den Schlüssel in seine Hosentasche gleiten und ging von Bord.
Schwungvoll sprang Ben auf den Pier. Da es inzwischen praktisch dunkel war und der Himmel nur noch in schwärzlichem blau glomm, war der Steg in Flutlicht getaucht. Als Ben sich in Bewegung setzte, blendeten ihn die Strahler regelrecht und ließen das Skelett des alten Verladekrans wie eine drohende Silhouette wirken. Ben kniff die Augen zusammen, um mehr von dem Einkaufszentrum erkennen zu können. Ja, es war beleuchtet, aber belebt wirkte es beim besten Willen nicht. Wirklich merkwürdig, denn Ladenschluss war noch längst nicht. Überhaupt war es so ruhig, dass seine Schritte auf dem knarrenden Steg extrem laut wirkten – so laut, dass ihm die dadurch entstehende Aufmerksamkeit fast unangenehm war.
Plötzlich hielt er abrupt inne. War da nicht eben ein anderes Geräusch gewesen? Ben horchte in die Stille und selbst sein Atem war ihm nun schon fast zu laut. Er nahm all seine Konzentration zusammen und spähte in die Dunkelheit zwischen den grellen Lichtern … bis es einen lauten Knall gab, der Ben zusammenzucken ließ wie ein kleines Kind, dem gerade sein geliebter Luftballon geplatzt war. In Wahrheit war es einer der Fluter gewesen, bei dem es wohl einen Kurzschluss gegeben hatte. Ein Funkenregen ergoss sich aus dem Scheinwerfer; das sah fast aus wie ein kleines Feuerwerk. Die anderen Lichter der Hafenanlage erstarben mit einem kurzen zeitlichen Versatz ebenfalls, aber wenigstens taten sie das leise.
Ben hatte inzwischen wieder Haltung angenommen, doch ein »Scheiße« zischte ihm trotzdem durch die Zähne. Was für ein verdammter Schreck, und dabei war es nur ein Kurzschluss! Nun stand er aber in absoluter Dunkelheit, das war unangenehm. Viel mehr störte ihn aber die aufsteigende Angst – er war doch ein gestandener Mann, zumindest in seiner Selbstwahrnehmung. Ben schüttelte den Kopf und zwang sich, mit forschen Schritten voranzugehen. Die Treppe hinauf zum Einkaufscenter musste doch irgendwo vor ihm sein, gar kein Problem. Noch ein paar Meter durch die Dunkelheit, dann würde das schwache Licht aus den Schaufenstern schon reichen, um sich genauer zu orientieren.
Doch nach ein paar Schritten hörte er es wieder – das Geräusch. Und es klang wie ein Wimmern. Ein unheimliches, jammerndes Stöhnen. Das war nun wirklich zu viel des Guten, Ben griff an seinen Anglergürtel und zog eine kleine LED-Taschenlampe heraus. Er schaltete sie an und leuchtet sich zum Test in die eigene Handfläche – sie funktionierte. Nun war er für alle Eventualitäten gewappnet.
»Wer ist da?«, rief er in die Dunkelheit, wobei seine Stimme nicht ganz so fest klang, wie er es gerne gehabt hätte. Trotzdem leuchtete er offensiv in die Richtung, aus der er das Geräusch zuletzt gehört hatte. Kauerte da eine Gestalt am Fuße des Verladekrans? Ein Mensch?
»Was machen Sie da?«, fragte Ben extra laut, damit vielleicht in der Nähe befindliche Passanten auf die Situation aufmerksam würden.
»Hallo?«, kam ein schwaches Stimmchen zurück, so brüchig, dass Ben es kaum verstehen konnte. Sein Angstgefühl verflog jedoch sofort und er näherte sich der offensichtlich weiblichen Person mit langen Schritten. Als er sie gerade fast erreicht hatte, peitschte wieder ein Zischen durch die ausgestorben wirkende Hafenanlage. Hinter Ben sprangen die Fluter wieder an und machten aus dem dunklen Schattenriss eine junge Frau. Bens erster Gedanke war, dass sie auf der Straße leben musste. Sie mochte vielleicht sechzehn Jahre alt sein, optisch fast noch ein Kind, aber sie schien schon eine Menge durchgemacht haben. Selbst ihre Klamotten waren eher Girlie-mäßig, als dass sie punkig oder alternativ wirkten. Aber sie war zerzaust und dreckig und hatte sich garantiert seit Tagen nicht gewaschen. Sie schaute angestrengt in Bens Richtung, ihren zusammengekniffenen Augen nach zu urteilen konnte sie ihn aber nicht wirklich gut erkennen. Als sie mit einer zitternden Hand ihre Augen abschattete, begriff Ben, dass er total im Gegenlicht der Scheinwerfer stand, die sie blendeten. Auf einmal hatte er das Gefühl, in einen intimen Moment gestolpert zu sein, zumindest hatte das Mädchen offensichtlich vor irgendetwas Angst. In so einer Situation die Initiative zu ergreifen und Höflichkeit zu beweisen war eigentlich genau Bens Ding, und so begann er in bemüht lockerem Tonfall zu sprechen: »Oh, hey. Ich bin Ben. Du musst keine Angst haben!«
Obwohl Ben es gewohnt war, eine positive Wirkung auf Menschen zu haben, war er nun überrascht. Die Augen der jungen Frau weiteten sich und ein Ausdruck extremer Erleichterung, ja sogar Freude huschte über ihr eben noch verkrampftes Gesicht.
»Ich bin … Abby. Bist … bist du mein Engel?«
Sie gab sich Mühe, so flüssig wie möglich zu sprechen, aber es wirkte so, als hätte sie dabei Schmerzen. Was Ben wiederum verstehen konnte, denn das, was sie sagte, bereitete ihm schon beim Zuhören Schmerzen.
»Bist du auf Drogen?«, entfuhr es ihm. Auf so ein Jesus-Gespräch hatte er jetzt gar keine Lust. Abby war von seiner Gegenfrage jedoch mehr als geschockt.
»NEIN! Ich war doch immer … ein anständiges Mädchen! Du … du kannst mich ruhig mitnehmen, in den Himmel.«
»Du willst mich verarschen, oder?«, antwortete Ben abgeklärt. Doch Abby meinte es offensichtlich ernst.
»Ich will, dass du mich mitnimmst … auf die andere Seite … einfach weg von hier.«
»Geh' mal lieber nach Hause, du erkältest dich noch«, lautete Bens nüchterner Rat. So eine durchgeknallte Lifestyle-Pennerin konnte er jetzt echt nicht brauchen. Er wollte nur dem Sicherheitsdienst Bescheid sagen und dann so schnell wie möglich weiter. Als er sich wegdrehte und einen Schritt in die Dunkelheit machte, wurde Abby lauter.
»Bitte! Sag mir wenigstens eins …«, flehte sie ihn an. Ben schüttelte im Weggehen den Kopf, doch im Augenwinkel sah er etwas glitzern. Die Bewegung des Mädchens setzte irgendetwas frei, etwas, das ihm ganz und gar nicht behagte. Unwillkürlich musste er sich zu ihr hindrehen, als sie mit der rechten Hand ihre Jacke öffnete und ihren Satz beendete: »Im Himmel … da bin ich doch wieder ganz, oder?«
Sie hob nun auch den anderen Arm, der vorher in der Jacke gesteckt hatte und schaute Ben fragend an. Seine Pupillen weiteten sich bei dem Anblick und er spürte einen Schwindel, einen Vertigo-Effekt, als würden seine Augen zu Abbys Bauch gezogen. Ihre Bluse war zerrissen, alles war voller Blut.
Wie in Trance