BERLIN ZOMBIE CITY. Kalle Max Hofmann

BERLIN ZOMBIE CITY - Kalle Max Hofmann


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oder Darm sein! Ben spürte einen Würgereiz, seine Knie gaben nach. Ungewollt stürzte er auf Abby zu, nur in letzter Sekunde gelang es ihm, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen und halbwegs geordnet vor ihr auf die Knie zu gehen, statt direkt auf sie zu fallen.

      Dabei durchzuckte ihn der Impuls, die hellrosafarbene Masse wieder in die Bauchhöhle zurückzudrücken, doch er wagte es nicht, die Wunde zu berühren. Panisch ratterte es in seinem Kopf, den letzten Erste-Hilfe-Kurs hatte er vor über zehn Jahren absolviert. Und da kamen keine gottverdammten zerfetzten Gedärme vor! Es musste also jemand anders helfen, und zwar schnell.

      »Du musst sofort zum Arzt!«, brach es hektisch aus ihm hervor. Instinktiv griff er an seine Jackentasche, wobei ihm wieder einfiel, dass sein Handy auf dem Grund des Meeres schlummerte. Abby hielt sowieso nicht viel von der Idee; leise sagte sie: »Es gibt doch keinen Arzt mehr.«

      Ben ignorierte sie, seine Panik war unbeschreiblich. Er hätte das arme Mädchen am liebsten geschüttelt, konnte sie aber nicht einmal anfassen.

      »Ich hab mein Handy weggeworfen! Gib mir deins!«, sagte er drängelnd.

      »Es gibt auch kein Netz mehr«, antwortete Abby schwach und sackte daraufhin in sich zusammen. Erschrocken fuhr Ben sie unpassend laut an.

      »Hör zu, du musst mir schon helfen, okay!«

      Er tastete vorsichtig ihre Jacke ab und fischte ein altes, pinkfarbenes Klapphandy im Hello-Kitty-Design aus einer der Taschen. Die Tastenfolge »112« hatte er schon gedrückt, bevor ihm der Schriftzug »KEIN NETZ« auf dem Display aufgefallen war. Das Gerät quittierte seinen Wählversuch mit nervigem Piepsen.

      »Scheiße, was mach ich denn jetzt?«

      Zu seiner Überraschung antwortete Abby auf die Frage; er hätte er schwören können, die Worte nur gedacht zu haben.

      »Sag mir doch einfach, dass alles gut ist«, bat sie ihn mit schwacher Stimme. Ben unterbrach seine Versuche, dem Handy ein weiteres Lebenszeichen abzutrotzen, und hielt verwirrt inne.

      »W…was?«

      Ein Stoß durchzuckte Abbys Körper, sie riss die Augen weit auf und packte Bens Lederjacke mit ihren blutigen Händen.

      »Sag mir einfach, dass du mein Engel bist! Dass alles gut wird!«

      Im Affekt stieß Ben sie weg und sprang erschrocken auf.

      »Mann, was soll diese freakige Scheiße! Hör auf mit diesem Engelszeug! Du musst zum Arzt!«

      Hilflos streckte Abby ihre Arme nach ihm aus, wie ein kleines Kind, das auf den Arm genommen werden möchte.

      »Sag mir, dass du mein Engel bist«, wiederholte sie immer wieder, »Sag mir doch bitte einfach nur, dass du mein Engel bist. Dass du mich auf die andere Seite bringst! Bitte … bitte sag mir … «

      Nachdem Ben sie mit eindringlicher werdenden Gesten zum Schweigen aufgefordert hatte, riss ihm nun der Geduldsfaden. Er schrie sie an.

      »MANN, RUHE! HÖR AUF DAMIT! DU MUSST ZUM ARZT!!!«

      Abby erschrak, aber vielleicht nicht unbedingt vor ihm. »Nicht so laut … sonst … sonst lockst du sie noch an …«, stammelte sie.

      Ben fauchte sie an: »WAS?!?«

      Abbys Augen wurden jetzt noch größer, aber sie schien ihn gar nicht mehr anzugucken. »Ich will doch nicht … dass sie mich …«

      Ihr Kopf fiel in den Nacken und eine Welle von Krämpfen durchzuckte ihren Körper, wobei sie kaum hörbar ihren Satz beendete: »… dass sie mich … fressen.«

      Dann erschlaffte sie abrupt und ihr Kopf schlug zurück an die Stahlwand des Verladekrans. Ihre weit offenen Augen starrten in den Himmel, aber Ben wusste, dass sie nichts mehr sah. Und schlagartig dämmerte ihm, was dieser komische Geruch war, der ihn schon die ganze Zeit begleitete: Der Tod.

      Ben hatte ein Gefühl, als müsse er sich in die Hose scheißen. Sein Schließmuskel vibrierte und er musste mit aller Kraft dagegen arbeiten, dass sich sein Darm entleerte. Er atmete angestrengt ein und aus, schließlich beruhigte er sich etwas. Den Blick des Mädchens konnte er jedoch nicht ertragen. Er fühlte sich schuldig. Was war hier gerade passiert? Er hatte bisher erst einmal in seinem Leben eine Leiche gesehen, und jetzt … Bilder der Beerdigung seiner Mutter durchzuckten sein Hirn. Wie sie damals aufgebahrt in ihrem Sarg lag … so jung und wunderschön … und er noch ein kleines Kind. Aber ihre Augen waren geschlossen.

      Langsam, ganz langsam steckte Ben den Arm aus, seine Hand näherte sich Abbys Gesicht. Der Geruch wurde wieder stärker, viel stärker. Leichte Windstöße trugen ihn in Bens Richtung, er ließ die Hand sinken und schloss für einen Moment die Augen – wodurch er den Kampf gegen seine Tränen endgültig verlor.

      Doch seine Nase holte ihn wieder in die Gegenwart zurück, der Geruch war inzwischen ein Gestank, da konnte etwas nicht stimmen. Plötzlich ließ ihn ein unglaubliches Getöse einen Satz nach hinten machen und er fiel auf seinen Hintern – ein Stapel leerer Farbeimer, der an der nächstgelegenen Gebäudeecke gestanden hatten, ging zu Boden, als ein groß gewachsener Mann auf Ben zu gestolpert kam. Sein Gesicht war mit getrocknetem Blut verkrustet, seine Augen strahlten blanken Wahnsinn aus. Wütend und irritiert blickte er auf die klappernden Plastikteile. Ben krabbelte derweil wie auf Autopilot langsam auf allen vieren rückwärts.

      Als der Mann ihn registrierte, streckte er die Arme nach ihm aus und ließ einen markerschütternden Schrei fahren, der von allen Wänden des Hafens widerhallte. Ben mochte sich täuschen, bestimmt war es nur das Echo, aber ihm war so, als hörte er aus allen Richtungen Antworten auf diesen Schrei. Als der Mann auf ihn zu stolperte, gewann Ben endlich wieder die volle Kontrolle über seinen Körper und schnellte nach oben – fast erleichtert wollte er sich gerade von dem unheimlichen Fremden wegdrehen, als dieser Abby bemerkte – und sich zu Bens Entsetzen auf sie stürzte! Er beugte sich über sie, es sah aus, als würde er ihren Hals ablecken, gleichzeitig riss er unkoordiniert an ihrer Jacke … Ben konnte nur an eines denken: An ein Raubtier beim Fressen, wie er es aus Naturdokumentationen kannte. Inzwischen traten weitere Gestalten aus den Schatten und stürzten sich förmlich auf den Mann und Abby. Aber auch sie waren nicht gekommen, um diese Leichenschändung zu beenden … In Bens Kopf formte sich nun endlich ein klarer Gedanke: Flucht.

      Abzuhauen war das Einzige, was er jetzt tun konnte. Er drehte sich in Richtung seines Bootes, doch auch auf dem Pier schlurften inzwischen die schattigen Gestalten herum. Eine von ihnen stolperte gerade mit dem Kopf zuerst über die niedrige Reling und schlug mit einem lauten Krachen auf dem Deck auf.

      Ben schaute sich hektisch um, der einzige Fluchtweg führte zu einer kleinen, eisernen Wendeltreppe, die an der Seite der Kanalbrücke nach oben auf den Fahrdamm führte. Kurzentschlossen rannte Ben darauf zu, und auch die Absperrung davor interessierte ihn herzlich wenig – er schwang sich über das kleine Metalltor und stampfte dann die Treppe hinauf, die unter seinem Gewicht verdächtig knarrte. Das machte Ben zusätzlich nervös, und als er oben angekommen einer weiteren Absperrung gegenüberstand, rutschte er zu allem Überfluss auf etwas Nassem aus. Nach vorne fallend griff er nach dem Metalltor und nutzte seinen Schwung, um darüber zu rutschen. Da sein Versuch, sich auf der anderen Seite elegant abzurollen, kläglich scheiterte, grüßte ihn stattdessen der kalte Asphalt.

      Die schnelle Drehung und der harte Aufprall benebelten zusätzlich seine Sinne, die sowieso schon von Panik getrübt waren. Hektisch und unkoordiniert rappelte er sich auf und schaute ruckartig in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass keine der Gestalten in seiner Nähe waren. Die Lage schien fürs Erste in Ordnung, und so kam Ben langsam wieder zu Atem. Er richtete sich vollends auf und blickte aus der erhöhten Position der Brücke in Richtung Innenstadt. Es dauerte einen Moment, bis Ben realisierte, was er dort sah.

      Berlin brannte.

      Kapitel 3

      TEMPELHOFER DAMM

       17:37 Uhr

      Das Panorama wirkte wie der Blick auf einen


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