TRAPPED - GEFANGEN. Michael Hodges
dauerte knapp acht Stunden und war ereignislos verlaufen, bis er den Ottawa National Forest erreicht hatte. Der Ottawa, wie ihn die Einheimischen kurz nannten, erstreckte sich über ungefähr eine Million Morgen unerschlossenes, bundesstaatliches Land an der Grenze zwischen Wisconsin und Michigan. Lange Waldabschnitte mit Rot- und Strauchkiefern sowie Espen bestimmten das Landschaftsbild. Matt machte diesen Abstecher unter anderem zum Angeln auf dem Black River, einem reißenden Strom mit Schieferbett und zahlreichen Wasserfällen. Es war September, also laichten flussaufwärts die Silberlachse und warteten nur darauf, jeden funkelnden Köder zu schlucken, den man in die sauberen Tümpel warf. Der zweite Grund für die Reise war Trauer. Stacey hatte diese Welt 64 Tage zuvor verlassen, Elmo 120, und sein Vater schon vor sechs Monaten. Matt glaubte, der Kummer habe ihn endgültig um den Verstand gebracht, und selbst seiner Mutter war aufgefallen, dass es ihm schlecht ging. Sie hatte darauf bestanden, dass er nach Norden fuhr. Dies war die Gegend, wo Matt Matt sein konnte.
Ich werde zu alt für solche Fahrten, dachte er, obwohl er erst 21 war. Viel wahrscheinlicher hatten die drei Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht etwas mit seiner Müdigkeit zu tun. Vielleicht.
Als Matt den Ottawa erreichte, nahm die Dichte der Kiefern zu. Die Forstbehörde ließ die hohen Bäume am Fahrbahnrand gerne stehen, wohingegen sie den Wald dort, wo Reisende nicht hinsahen, unbeeindruckt abholzte. Würde man sich 50 Yards tief in den Wald bewegen, würde man auf Stümpfe und Kahlschläge stoßen. Ferner sähe man eine Fülle gestutzter Pappeln und anderer wuchernder Laubbäume. Diese nahmen dem Urwald aus Weymouthskiefern und Hemlocktannen den Platz weg, die in den Northwoods überwogen. Matt hatte als Kind weite Teile des Gebiets erkundet und es im Lauf der Jahre zu seinem zweiten Zuhause erkoren. Auf Wanderungen durch die Schluchten und über die Felsgrate der Huron Mountains trainierte er für gewöhnlich seine Beine. Obwohl sie abgeholzt wurden, boten der Ottawa und die Hurons weiterhin Wölfen einen Lebensraum. Heimische Bärenmarder und Berglöwen waren längst aus dem Ökosystem getilgt worden – die Folgen von ausufernder Fallenstellerei und Verfolgung bestimmter Arten. Mr. Emerson, der Biologiedozent seines Community Colleges, war stets von Matts Kenntnissen bezüglich Fauna und Flora angetan gewesen, was oft zu ausgedehnten Gesprächen über die obere Halbinsel von Michigan geführt hatte. An diese Momente aus seiner Studienzeit erinnerte er sich gerne – den Austausch mit Lehrern, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnete, einfach wie einem anderen Erwachsenen während einer Unterhaltung. Das dichte Straßennetz in einst unbefahrbaren Wäldern führte zur Ausrottung vieler Raubtierarten durch Wilderei. Ehemals verkehrsfreie Bereiche wurden über Jahrzehnte hinweg zunichtegemacht. Das übrige Land ohne Straßen beschränkte sich auf wenige staatlich geschützte Wildgebiete von je etwa 20.000 Morgen. Matt hatte vor, sich die faszinierenden Hurons weiter zu erschließen, auch weil er die Möglichkeit spannend fand, sie könnten durchaus das älteste Gebirge der Welt und irgendwann einmal so hoch wie die Rocky Mountains gewesen sein. Heute beliefen sie sich auf lediglich 2.000 Fuß hohe Steinkuppen, aber für ihn ging seit je etwas Faszinierendes von ihnen aus. Vereinzelte Bestände aus uralten Hemlocktannen ragten aus Klüften und von granitbedeckten Erdböden empor, windgepeitschte Rotkiefern wurzelten an Steilwänden. Diese Orte waren das Gegenteil des Mittleren Westens: malerisch; abgelegen. Die alte Jagdhütte, zu der Matt just in diesem Augenblick fuhr, stand in einem weiten, bewaldeten Tal im Schatten der Hurons, durchzogen vom Black River sowie dessen zahllosen Wasserfällen und glitzernden Tümpeln. Das ›Büdchen‹ – so ihr Spitzname – war von einer aufgegebenen Apfelplantage umgeben, deren Bäume jetzt nur noch winzige, saure Früchte hervorbrachten. An die Felder grenzte ein Wald aus Espen, Erlen, Balsamtannen und Fichten. Bachquellen und Sümpfe versorgten den Fluss das ganze Jahr über mit Wasser, befeuchteten sein Bett selbst im Sommer und Herbst, wenn es auszutrocknen drohte. Westlich der Hütte lag Twenty Mile Bog, ein imposantes Moor. Der Rest der Gegend bestand aus dichtem Wald, der Heimat von Fischmardern, Schwarzbären, Wölfen und Eulen. Diese Tiere machten die Northwoods zu dem, was sie waren. Zu wissen, dass sie noch existierten, brachte Matt zum Lächeln. Kam man aus den Chicagoer Vororten, waren sie ein Paradies, das vor Leben und Abenteuermöglichkeiten nur so strotzte. Matt fuhr mit einer Hand durch sein braunes Haar und suchte Musik passend zur Finsternis, die übers Land kroch. Im schwindenden Licht leuchteten die Armaturen wie Steuerpulte in einem Raumschiff. Green Day? Neil Young, äh … noch nicht. Pink Floyd? Prima. Wenn die Generation seiner Eltern eine Sache richtig gemacht hatte, dann Rockmusik – und die war nicht nur gekonnt, sondern in vielerlei Hinsicht ein Tritt in den Hintern. Matt schob eine CD in den Pioneer-Spieler, woraufhin Let There Be More Light durch die Boxen waberte. Er kurbelte die Scheibe zu einem Drittel herunter und erfreute sich an der kühlen Northwoods-Luft. Kein Vergleich zum Chicago und dessen Umgebung … Der Toyota-Pick-up rollte auf dem leeren Highway 2 entlang. Die Bewohner der Gegend hockten entweder zu Hause vor ihren Fernsehern oder in einer Kneipe ihrer Wahl, deren Namen üblicherweise ›Northwoods Tavern‹ lautete, jeweils mit vorangestelltem Namen des Inhabers. Eine der Vorzüge dieses wilden Landstrichs bestand in seiner dünnen Besiedlung, was das Fahren auf verlassenen Straßen reizvoll machte. Als er an der Heizungslüftung drehen wollte, sprang ein stämmiger Weißwedelhirsch vor den Wagen. Matt trat auf die Bremse und hielt das Lenkrad fest. Die Reifen quietschten, woraufhin der Gestank von verbranntem Gummi seine Nase jucken ließ. Das unglückselige Tier blökte wie ein Schaf, als seine linke Flanke an der Fahrerseite der Motorhaube vorbeischrammte. Es machte Augen groß wie Untertassen, während es hastig die Böschung hinauf zwischen die Fichten sprang. Der Pick-up kam schrillend zum Halten, und Qualm von den Reifen stieg im Scheinwerferlicht auf. Das Knattern des Vierzylinders und die Stereoanlage blieben die einzigen Geräusche in der plötzlichen Stille. Matt öffnete das Türfenster ganz. Von dem Hirsch fehlte jede Spur. Er drehte die Musik leiser, griff zu der schweren Stabtaschenlampe unter seinem Sitz und stieg aus, um den Kühlergrill zu untersuchen. Kein sichtbarer Schaden, weder Blut noch Fellhaare … sicherheitshalber ging er zur Böschung hinüber und leuchtete den Graben aus, gut 50 Yards in beide Richtungen vor und hinter dem Auto. Hätte er das Tier gefunden, wäre es auf die eine oder andere Art von ihm erlöst worden. Matt hasste es, wenn jemand Wild überfuhr, ohne zurückzuschauen und sich zu vergewissern, dass es nicht mehr litt. Eins zu überrollen bedeutete schließlich nicht, dass es sofort tot war. Ein Jahr zuvor hatte er im Glacier-Nationalpark – er war mit Stacey dort gewesen – ein europäisches Eichhörnchen gesehen, das von einem Auto mit 40 Meilen pro Stunde in einer 25er-Zone erfasst worden war, allerdings nur die Hinterläufe. Das Tier hatte gezirpt und gekreischt, sich tapfer ein paar Fuß vorangeschleppt, bevor es auf dem Asphalt liegen geblieben war, immer noch lebendig. Ein Artgenosse war auf die Fahrbahn gehuscht und hatte versucht, das lahme Eichhörnchen wegzuziehen. Matt erinnerte sich daran, das Drama entsetzt mit angesehen zu haben: das verzweifelte Geschnatter des gesunden Tiers und die qualvollen Laute des verletzten. Als Ersteres aufgegeben hatte, war er wieder in seinen Wagen gestiegen und über das leidende Tier gefahren, um sein Leben zu beenden, ehe es ihm noch schlimmer ergehen konnte. Dieses Eichhörnchen hatte er nie vergessen. Manchmal rief er es sich wieder ins Gedächtnis, die hervorgetretenen Augen; manchmal bildete er sich ein, es zirpen zu hören, um andere vor der Gefahr zu warnen, während sich sein auffallend zimtbraunes Fell im Wind sträubte und die kleine, rosafarbene Zunge heraushing wie ein zarter Pflanzenkeim. Am schlimmsten aber fand er, wie es mit offenem Maul zu ihm aufgeschaut und dabei ein wenig von seinen Zähnen gezeigt hatte, die Angst in seinen Augen, kurz bevor es vom Tod hinweggerafft worden war. Dieses Erlebnis hatte Matt dazu bewogen, vieles zu hinterfragen, unter anderem Gott; welcher Gott würde zulassen, dass so etwas geschah? Es ergab überhaupt keinen Sinn, obwohl ihm andererseits generell vieles schleierhaft war, vor allem in Bezug auf Regeln und das Verhalten von Menschen wie ihm selbst oder angeblichen Autoritätspersonen. Er rieb sich ständig an der Welt auf, egal wie sehr er sich ums Gegenteil bemühte. Er fühlte sich den Geschöpfen der Wälder auf vielerlei Weise stärker verbunden als seinen Mitmenschen – ausgenommen diejenigen, denen er schon nahestand. Mancher mochte dies als verstörend empfinden oder für introvertiert halten, doch für Matt war es die Wirklichkeit. So nahm er es mit eigenen Augen wahr und spürte es in seinem Herzen. Aber als Einzelgänger konnte man ihn auch nicht bezeichnen. Er besaß Freunde – zwar nicht viele, dafür aber echte. Oft erkannte er diese Unruhe, diese leise Angst im Umgang mit anderen, was vermutlich der Grund dafür war, dass er bei einem überschaubaren Freundeskreis blieb und sich selten auf neues gesellschaftliches Terrain begab. Was er vorzog, waren Wanderungen durch die Wildnis. Mit seiner verstorbenen Freundin Stacey