Take Me Home. Carrie Elks
fragte Gray. »Ich überweise das Geld. Ihr hättet mir vorher davon erzählen sollen, ich hätte mich darum gekümmert. Ich organisiere uns auch gleich eine Bleibe für die Zeit, in der die Rohre ausgetauscht werden.« Dass ihn niemand um Hilfe gebeten hatte, machte ihn wütend.
»Das kann ich nicht annehmen«, meinte Tante Gina und presste die Lippen zusammen.
»Dad würde das nie zulassen«, erklärte Becca, während sie sich einen Becher Kaffee einschenkte. Sie hatten die Kaffeemaschine draußen am Wasserhahn auffüllen müssen. Ebenso die Töpfe auf dem Herd, in denen sie gerade Wasser kochten, um später die Teller vom Frühstück abzuwaschen.
Gray schüttelte zu all dem nur den Kopf. »Ich habe so viel Geld, dass ich nicht weiß, wohin damit«, protestierte er. »Lasst mich helfen.«
»Du kennst Dad. Er ist stolz.« Becca seufzte. »Er sagt die ganze Zeit, dass er alles reparieren wird, sobald es ihm wieder besser geht. Aber du hast ihn ja gesehen, es geht ihm nie besser.«
Ja, das war Gray aufgefallen. Wie hätte es nicht? Ebenso wie der Zustand dieses Hauses hatte ihm der Gesundheitszustand seines Vaters einen Schock versetzt. »Ich rede mit ihm«, versprach Gray und versuchte, entschlossen zu wirken.
»Und regst ihn damit auf, obwohl er krank ist?«, wollte Tante Gina wissen. »Warum willst du das tun?«
»Weil ihr so nicht leben müsst«, begründete Gray. »Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir leben im wohlhabendsten Land der Welt. Und ich habe mehr als genug Geld, ich kann es mir verdammt noch mal leisten.«
»Pass auf deine Ausdrucksweise auf.« Becca bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue.
»Tut mir leid.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das hier macht mich so verdammt wütend. Dads Stolz hält euch davon ab, wie zivilisierte Menschen zu leben.« Er stellte den Kaffee auf den Tisch. »Lasst mich einfach mit ihm reden, okay? Ich werde ihn nicht anschreien oder aufregen. Das verspreche ich.«
»Das hast du letztes Mal auch gesagt.«
Gray schickte ihr ein halbes Lächeln. »Na ja. Diesmal meine ich es ehrlich.«
»Lass ihn gehen«, brachte sich Tanner ein, ehe er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. »Vielleicht kann er den alten Mann ja zur Vernunft bringen. Gott weiß, ich habe es vergebens versucht.«
»Für euch spielt das alles keine Rolle.« Tante Gina furchte die Stirn. »Ihr müsst nicht die ganze Zeit mit ihm zusammenwohnen. Bald seid ihr weg und lasst Becca und mich mit all den zerbrochenen Teilen zurück. Ihr treibt ihn in den Wahnsinn, doch wir müssen alles wieder in Ordnung bringen.«
»Ihr beide müsst ebenfalls nicht hierbleiben«, sagte Gray. »Ich würde euch ein Haus kaufen, wo immer ihr wollt. Jederzeit.«
»Ich könnte ihn niemals allein lassen.« Tante Gina verschränkte die Arme vor der Brust. »Das weißt du.«
Ihre Loyalität erweichte Grays Herz. Und ja, er wusste, dass sie es ernst meinte. Tante Gina hatte schon immer als ihr Schutzengel fungiert und auf sie aufgepasst, wenn sie es am meisten gebraucht hatten.
Einen Tag, nachdem ihre Mutter – Tante Ginas Schwester – gestorben war, kam sie zu ihnen und war nie wieder gegangen. Sie hatte sich stets um sie gekümmert. Ihnen die Augen mit ihrem Taschentuch abgetupft, als sie beim Begräbnis ihrer Mutter weinten. Sie nachts in den Armen gehalten, wenn schlimme Träume sie heimsuchten. Mit ihnen geschimpft, wenn sie ihre Aufgaben nicht rechtzeitig abgegeben oder der Direktor angerufen hatte, um sie zu informieren, dass einer der vier Hartsonbrüder nicht in der Schule erschienen war.
Tante Gina hatte ihren Herzschmerz gelindert und ihre Siege gefeiert, und jeder einzelne von ihnen liebte sie dafür.
»Warum bist du immer noch hier?«, fragte Gray. »Die meisten von uns sind schon lange fort. Sogar Becca wird bald weiterziehen. Du hast dein Versprechen Mom gegenüber erfüllt.«
Aus dem Augenwinkel heraus konnte er sehen, wie sich Beccas Gesicht bei seinen Worten verzog. Sie war noch so klein gewesen, als ihre Mom gestorben war, dass sie sich nicht mal an sie erinnern konnte. Tante Gina war die einzige Mutter, die sie je gekannt hatte.
»Ich habe meiner Schwester versprochen, ich würde mich um euch kümmern«, erklärte Tante Gina ruhig. »Deinen Vater eingeschlossen. Und er braucht mich.« Sie stand auf und trug ihren Teller rüber zum Waschbecken. »So lange bleibe ich hier.«
»In dem Fall zahle ich für neue Rohre. Und ein neues Dach«, versicherte Gray ihr. »Danke fürs Frühstück. Ich werde jetzt mit Dad reden.«
Sie schüttelte den Kopf, während er aufstand und den Gang entlang zum Büro seines Vaters lief. Als er die Hand hob, um an die Tür zu klopfen, hörte er ihre Erwiderung. »Der eine so stur wie der andere. Das kann nur in Tränen enden.«
K
Als Gray zwanzig geworden war, eröffnete er seinem Vater, er würde das College schmeißen, um nach L.A. zu ziehen und dort ein Album aufzunehmen. Eines der größten Plattenlabels im Land hatte ihm einen Vertrag für zwei Alben angeboten. Volle fünf Minuten lang hatte sein Vater nichts erwidert. Hatte Gray einfach nur durch diese wässrig blauen Augen angestarrt, die Lippen zusammengepresst und ein Zucken im rechten Kiefer.
Mehr als ein Jahrzehnt war seither vergangen, doch sein Dad starrte Gray heute auf genau dieselbe Weise an. Als wäre er die Scheiße an der Sohle seines Schuhs und als wartete sein Vater nur auf die rechte Gelegenheit, ihn abzuschaben.
Aber damit gab es ein Problem. Gray hatte keine Angst mehr vor dem alten Mann. Und er musste an Tante Gina denken. Er würde sie und Becca nicht in diesem baufälligen Haus zurücklassen, während sie sich um seinen Dad kümmerten. Sie verdienten mehr als das.
Das taten sie alle.
»Nein.«
Die Antwort kam so schwach hervor, dass sich Gray nach vorne beugen musste. »Wie bitte?«
»Ich sagte nein. Wir brauchen deine Hilfe nicht. Haben wir nie.« Sein Vater hustete und brachte damit seinen ganzen Körper zum Beben. Jeden anderen hätte Gray gefragt, ob alles in Ordnung sei. Im Falle seines Dads wusste er es besser. Mitgefühl war in den Augen von Grayson Hartson Senior gleichbedeutend mit Schwäche. Jede andere Emotion ebenfalls.
»Das Haus bricht auseinander. Und so wie ich das sehe, ist kein Geld übrig, um es zu reparieren. Du brauchst meine Hilfe.«
»Ich brauche niemandes Hilfe.« Ein hartherziger Ausdruck stand in seinen Augen. »Du glaubst, ein großer Mann zu sein, so wie du mit deinem Geld herumwedelst? Glaubst, etwas Besseres zu sein als ich? Dein Geld ist schmutzig. Ich will nichts davon haben.«
Gray runzelte die Stirn. »Schmutzig? Wie das?«
»Du hast es dir nicht ordentlich verdient.«
»Ich habe jeden Cent davon verdient. Habe Songs geschrieben, sie aufgenommen und die ganze Welt bereist, um sie zu promoten.« Sein Vater stachelte ihn absichtlich an, das wusste Gray, und dennoch war es ihm unmöglich, es gut sein zu lassen. Der alte Mann kannte seine Schwachstellen und ritt auf ihnen herum, bis sie schmerzten.
»Du hast dich prostituiert. Denkst du, ich hätte die Fotos nicht gesehen? Du stellst dich zur Schau, bis dir diese Mädchen Geld zuwerfen.« Sein Dad verengte die Augen. »Und jetzt willst du, dass ich dieses Geld annehme? Nein danke. Des Teufels Dollar brauche ich nicht.«
Gray war nicht sicher, ob er lachen oder schreien sollte. Des Teufels Dollar? Das war ein verdammt guter Name für ein Album, aber eine echt beschissene Art, seinen Sohn zu beschreiben. »Also ist es dir lieber, wenn Tante Gina und Becca in diesen erbärmlichen Zuständen leben?« Gott, war sein Vater stur. Aber andererseits war er das selbst auch. Dieser Charakterzug floss durch das Blut aller Hartsons und war der Nährboden einiger spektakulärer Auseinandersetzungen gewesen.
Vielleicht sollte er früher als geplant in ein Flugzeug nach L.A. steigen. Dort könnte er auf seinem Balkon sitzend die Saiten seiner Gitarre anschlagen und neue Lieder schreiben, während er auf den Ozean hinausblickte.