Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann


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      Gabriel trat an ihr vorbei. Der Hauptgang hinter ihnen wurde noch schwach vom Licht der Laternen erhellt, die den Einsatzort beleuchtete, doch hier im Abzweig war es stockfinster – und deutlich kälter.

      Der Schemen war keine zehn Meter entfernt. Wie eine graue Nebelwolke, der man mit sehr viel Fantasie eine menschliche Kontur nachsagen konnte, waberte der Geist an der linken Tunnelwand entlang. Was seine Größe anging, war er kein Winzling. Gabriel schätze ihn auf ungefähr eins siebzig. Sonderlich stark war er nicht. Aber hungrig. Kaum spürte er Gabriels Lebensenergie, schwebte er auf ihn zu.

      Gabriel fackelte nicht lange. Im Haupttunnel weinte irgendwo ein Kind, da wollte er sich nicht mit diesem dämlichen Schemen aufhalten.

      Er fühlte in sich hinein, bündelte ein winziges bisschen seiner Lebensenergie und schickte sie als feinen Silberdunst aus seinen Fingern in Richtung des Schemens.

      Der reagierte sofort. Graue Nebelfäden lösten sich aus dem Gespinst und stürzten sich auf den Dunst. Sofort packte Gabriel zu und zerrte den Schemen zu sich. Der wehrte sich, als er merkte, dass mit dieser Energie etwas nicht stimmte, doch Gabriel ließ nicht locker und er war deutlich stärker als der Geist.

      Ein weiterer Ruck und das Biest berührte seine Finger. Kurz meldete sich sein Instinkt, der vor der Geisterberührung zurückschrecken wollte, doch Gabriel hatte diese Schwelle schon so oft überschritten, dass er nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde zögerte. Er dolchte seinen Blick in die schemenhafte Kontur des Kopfes, als er mit aller Macht die Todesenergie aus dem Geist herausriss. Eisige Kälte schoss durch seinen Arm in seinen Körper und er spürte Tod und Verdorbenheit, während er sie mit seiner Lebensenergie umhüllte und neutralisierte. Das graue Nebelgespinst vor ihm zerfaserte ins Nichts.

      Gabriel atmete tief durch und schüttelte seine Hand aus, um die Kälte zu vertreiben. »Okay, der nervt uns nicht mehr.«

      Sie folgten weiter dem Haupttunnel, der jetzt eine Biegung nach Nordwesten machte. Damit ließen sie den Lichtschein vom Einsatzort endgültig hinter sich.

      Das Weinen klang jetzt lauter, doch außer grauen Betonwänden, an denen hin und wieder aufgesprühte Zahlen und Buchstabenkombinationen irgendetwas markierten, das nur für eingeweihte Wartungsarbeiter einen Sinn machte, war nichts zu sehen.

      Nach zehn weiteren Metern erfassten die Kegel ihrer Taschenlampen einen neuen Abzweig. Dieses Mal zu ihrer Rechten.

      »Falls dieser Irre dahinten irgendwo sein Versteck hat, warnt unser Taschenlampenlicht ihn wie ein Leuchtfeuer«, murmelte Sky, als sie weiter den Gang entlangjoggten.

      »Ich glaube nicht, dass der Dreckskerl hier unten ist. Wenn er hier hausen würde, hätte er mit Sicherheit gemerkt, dass wir die Leichen gefunden haben. Und dann hätte er die Kinder in der Zwischenzeit weggeschafft – oder zum Schweigen gebracht.«

      »Stimmt.« Sky schluckte hart. »Mann, wie krank muss jemand sein, um kleine Kinder völlig alleine hier in totaler Dunkelheit zu lassen? Selbst wenn er sie gegen Übergriffe von Geistern abgesichert hat, ist das der absolute Horror.«

      »Erklärt dann aber, warum Cam in keinen Keller runtersteigen kann, ohne Panik zu bekommen. Und warum er absolute Finsternis nicht erträgt«, knurrte Gabriel. »Wenn ich diesen Dreckskerl in die Finger bekomme –«

      »Vielleicht sollten wir nach den Kindern rufen«, unterbrach Sky die Mordgelüste ihres Bruders, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie ihn wirklich aufhalten wollte, sollte er diesem Irren tatsächlich an die Gurgel gehen.

      »Nein. Die Kleinen haben uns mit Sicherheit gehört. Aber sie rufen nicht um Hilfe, also haben sie wahrscheinlich Angst vor uns. Du weißt doch, wie Cam drauf war, als er zu uns kam. Er hatte totale Panik vor anderen Menschen.«

      »Ja, vor Dad, Mum und Granny. Aber dich hat er ziemlich schnell an sich herangelassen. Und mich nach ein paar Tagen auch.«

      »Weil wir noch Kinder waren. Der Mistkerl, der ihn und die anderen Kids gequält hat, war mit Sicherheit ein Erwachsener. Deshalb hat Cam uns damals schneller vertraut. Aber heute wirken wir leider nicht mehr so klein und unschuldig.«

      Sie hatten die Abzweigung im Tunnel fast erreicht.

      »Das Weinen kommt von dort.« Sky deutete mit ihrer Taschenlampe auf den Seitengang. »Lass uns langsamer weitergehen, sonst erschrecken wir sie, wenn wir einfallen wie die Hottentotten.«

      Sie näherten sich vorsichtig und leuchteten um die Ecke. Der Abzweig endete schon nach wenigen Metern in einer T-Kreuzung. Pfeile mit den Bezeichnungen A27 und A26 wiesen nach links und rechts.

      Das Weinen wurde zu einem erstickten Schluchzen.

      »Weiter«, flüsterte Sky. »Ich glaube, es kommt von links.«

      Sie liefen auf die linke Mündung zu und traten um die Ecke. Dort endete der Gang nach nur zwei Metern abrupt vor einer Stahltür mit der Nummer A27.

      Sonst war der Gang leer – bis auf das Kinderweinen, das sich jetzt in ein heimtückisches Kichern verwandelte.

      Skys Inneres wandelte sich zu Eis, als ihr klar wurde, welchen schrecklichen Fehler sie begangen hatten.

      Gabriel begriff es im selben Sekundenbruchteil und fuhr herum.

      Doch es war zu spät.

      Schwärze schoss aus dem gegenüberliegenden Gang auf ihn zu und hüllte ihn ein. Eisige Kälte schnürte sich um seinen Körper und schien das Leben aus ihm herauspressen zu wollen.

      Er konnte sich nicht rühren, nichts sehen, nichts hören.

      Nicht atmen.

      Selbst das Denken fiel ihm plötzlich schwer.

      Er spürte nur, wie sein Herzschlag raste. Fühlte, wie die Schwärze ihm sein Leben entreißen wollte.

      Sein Überlebensinstinkt übernahm, weil sein Kopf keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er sammelte all seine Energie zusammen, schloss sie ein und würde mit ihr seine Seele beschützen, solange es ging.

      Sky keuchte erschrocken auf, als die Schwärze sich auf Gabriel stürzte.

      Verdammt, sie waren so dumm gewesen!

      Wie blutige Anfänger waren sie dem Hocus in die Falle getappt.

      Fluchend zwängte sie sich an dem Geist vorbei, um Abstand zwischen sich und das Biest zu bringen. Auf keinen Fall durfte sie sich auch noch fangen lassen. Sie stolperte ein paar Meter in den Seitengang zurück und warf den Rucksack mit den Silberboxen ab, dem sie zu verdanken hatte, dass der Hocus sich nicht auf sie gestürzt hatte. Zu mehr waren die Silberboxen allerdings nicht zu gebrauchen. Sie konnte ihre Auraglue nicht einsetzen. Mit Gabriel in seinem Inneren war es unmöglich, den Geist in eine Silberbox saugen zu lassen. Außerdem würde das Auraglue Gabriel lebensgefährlich verätzen.

      Also musste sie improvisieren – und zwar schnell.

      Sie bündelte Lebensenergie in ihre Fäuste.

      »Nimm das!«

      Sie schickte ihren Silbernebel wie zwei Peitschenstricke auf den Geist, krallte sich in seine Schwärze und zerrte mit aller Macht an seiner Todesenergie. Sie spürte sofort, wie stark das Biest war. Selbst für einen Hocus. Dieser Geist, der keine drei Meter von ihr entfernt war, brauchte vermutlich nicht mehr viel Energie, um sich in einen Wiedergänger zu verwandeln.

      Sky presste die Kiefer aufeinander und zerrte noch heftiger an dem Geist. Fühlte, wie seine Todesenergie durch ihren Silbernebel kroch. Wie das Wesen sich dagegen wehrte und stattdessen versuchte, ihre Energie zu sich zu ziehen.

      Ganz sicher nicht!

      Sky stemmte sich dagegen. Sie liebte ihr Leben und würde es auf keinen


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