Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
Klettern an der Steinküste, dieses unvergleichliche Gefühl, das Leben selbst bezwungen zu haben … Ilinias, wie sie vor ihm herlief, das flatternde weiße Haar … Manchmal war er kurz davor gewesen, gerade dieses Glas auf dem Boden zu zerschmettern und alle Erinnerungen an das Mädchen, das er aus dem Kloster entführt hatte, zu vernichten, nachdem der Geschmack der Bitterkeit alles Gewesene nachträglich durchdrungen hatte. Aber da war es noch, dieses Bild, wie sie lief und wie sie lachte, und dass er geglaubt hatte, in ihr all das gefunden zu haben, wonach er sich sehnte. Er hätte mit Mino fliehen können – und war doch bei Ilinias geblieben, die den gemeinsamen Sohn weggeworfen hatte wie einen zerbrochenen Teller.
Mino. Oh nein, denk nicht an Mino. Denk nicht an dieses andere blonde Mädchen, tu dir das nicht an. Aber auch das war einer der Augenblicke, die er in seinem Vorratskeller aufbewahrte, ein Glas, in dem der Geschmack lieblicher Pfirsiche und Aprikosen sich mit der Schärfe von Pfefferschoten mischte und ihm die Zunge verbrannte. Denk nicht daran, wie du ihre Hand gehalten hast. Denk nicht an die Umarmung, an dieses Gefühl innigster Nähe, das du bei Ilinias nicht einmal dann gefunden hast, wenn ihr zusammen im Bett wart. Denk nicht an Mino. Aber er konnte nicht anders. Hier, entkommen und doch dem Tod näher als je zuvor, konnte er nicht anders, als jeden Moment hervorzuholen und noch einmal auszukosten, einmal und ein zweites Mal und immer wieder. Mino im Schlossgarten, die auf ihn zulief, seinen Namen auf den Lippen. Mino, erwachsener geworden, fraulicher, genauso gebunden wie er … Ahinehl.
Was er auf dieser Welt am allermeisten liebte. Mino. Und Sorayn. Und beide hatte er nur kurz im Arm gehalten. Viel zu kurz. Liravah war es gewesen, die sich um seinen Sohn gekümmert hatte. All die Jahre war Sorayn bei ihr gewesen. Ganz in der Nähe musste ihre Hütte sein. Von dieser Seite war Blitz nie über die Insel gewandert, aber wenn er es sich recht überlegte, hatte das Häuschen seiner ehemaligen Lehrerin in jenem Waldstück gestanden. Man musste nur den Hügel herabsteigen, zwischen den Bäumen hindurch …
Sein Herz schlug hoch auf, als er die Hütte hell durch die Stämme schimmern sah. Der Wald hatte es vor den Stürmen beschützt, die über die Dörfer der Insel hinweggefegt waren. Genauso wie damals sah es aus, als er und Ilinias hergekommen waren. Ihr Kuss brannte immer noch auf seinen Lippen. Und Sorayn, damals noch zu klein zum Laufen, hatte in Liravahs weise Augen geblickt.
Das kleine Haus war schon lange verlassen. Die Tiere hatten es für sich in Anspruch genommen, und der Wald erdrückte es fast mit seiner innigen grünen Umarmung. In den kostbaren Büchern der alten Lehrerin hatten kleine Tiere ihre Schlafstätten gebaut, in den Winkeln unter dem Dach klebten Nester. Durchs Fenster sah Blitz auf den Tümpel hinaus. Wild zugewachsen reichte der Teich beinahe bis an die Außenmauer. Die Blumen, in ein altes Boot gepflanzt, wucherten wild, vom Gestrüpp noch nicht ganz verdrängt.
Ein Boot.
Blitz starrte eine Weile auf das, was er da vor sich hatte.
Ein Teich. Blumen, die sich nicht hatten unterkriegen lassen. Ein Boot.
Er nahm sich nicht die Zeit, aus dem Haus zu laufen. Die Glasscheibe war längst geborsten; er sprang durch die Fensteröffnung und kniete mit zitternden Händen vor dem ungewöhnlichen Pflanztrog. Die größtenteils abgeblätterte Farbe war immer noch zu erkennen. Blassblau. Ein blau gestrichenes kleines Ruderboot.
Er riss die Blumen und das Kraut aus, griff mit bloßen Händen in die Erde, hob eine Handvoll nach der anderen hinaus.
»Lass es nicht beschädigt sein … Ein Boot! Lass es heile sein, bitte! Oh Rin, bitte!«
Hunger und Müdigkeit waren vergessen, während er mit bloßen Händen die Erde hinausschaufelte und einen immer größer werdenden Haufen neben sich auftürmte. Es war tatsächlich ein Boot, das er aus dem Erdreich zog. Klein, eine Nussschale wie für ein Kind, und natürlich nicht unbeschädigt. Eine der Bohlen war zersplittert, aber das restliche Holz fühlte sich gut an und würde dem Wasser und seinem Gewicht standhalten. Zum Reparieren würde er ein paar Bretter benötigen, irgendetwas Passendes würde sich schon finden. Und etwas zum Verkleben – Pech vielleicht oder Harz? Es musste nicht lange halten. Nur eine Fahrt, eine einzige Fahrt.
Die See lag erstaunlich ruhig vor ihm, als hätte sie sich langsam vom letzten Sturm erholt und atmete tief durch, bevor das nächste Unwetter heraufzog. Noch ließen sich am Himmel keine Wolken blicken und der Wind war zwar frisch, aber nicht sehr stark. Das Meer, das er seit seiner Kindheit kannte, war unberechenbarer geworden und blieb doch vertraut. Als Blitz ins Boot stieg, wusste er, dass sich die Wetterlage innerhalb kürzester Zeit ändern konnte, doch er zögerte keinen Moment. Dies war seine einzige Gelegenheit zur Flucht. Eine zweite Chance würde es nicht geben.
Das Festland war nicht weit, aber ohne die Strömung, auf die er sich stets verlassen hatte, war nicht gewiss, wo er ankommen würde. Die Flut sollte ihn in Küstennähe tragen. Doch auf dieses unruhige, unwillige Meer war kein Verlass. Wie friedlich es tat, seine wilde, unbezähmbare Freundin! Launisch, mutwillig, vielleicht in der Stimmung, ihn zu verschlingen, vielleicht willens, ihm zu helfen. Wer konnte das wissen? Aber hier war das Boot. Hier war er, bereit, dem Tod erneut ein Schnippchen zu schlagen. Alles andere ging ihn nichts an; es würde kommen, wie es kommen musste.
Wieder einmal gab er sich ganz in die Hände des Riesen.
Glänzende Tropfen perlten von dem behelfsmäßigen Paddel. Die Sonne küsste seine trockenen Lippen. Als er um die Insel herumruderte, sah er noch einmal hoch zu Tineks und Wikants schwarzem Schloss auf der Spitze der Felsnadel. Dort, über dem Donnern der Brandung, war sein Gefängnis gewesen. Bitterkeit über die verlorenen Jahre wollte ihn erfüllen, stand schon bereit wie ein grimmiger Soldat in voller Rüstung, um in der Kammer seines Herzens wild mit der Lanze um sich zu stechen.
»Nicht verloren«, stieß er hervor, »nein, das nicht. Dort habe ich gelebt wie ein Prinz in einem Schloss. Wie ein Matrose auf seinem Schiff. Wie ein Einsiedler im Wald. Ich habe kein einziges Jahr verloren.« Und zugleich kam der Ruf aus seinem Mund: »Hilf mir. Oh Rin, bitte, hör mich an. Ich fürchte mich davor, dass mir die Zeit durch die Finger rinnt. Lass mich nicht verloren sein. Ich wünsche mir, dass kein Tag meines Lebens vergeudet war.«
Konnte er nicht einmal einen Gedanken denken, ohne dabei um Hilfe zu bitten? Er schloss für einen Moment die Augen, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, den Wind, das Meer.
Lass mich nicht verloren sein …
Glück füllte sein Herz. Er war frei. Was brauchte er mehr als das – frei zu sein und ein Boot zu besitzen? Was scherten ihn der Hunger, die Nadelstiche der Kälte, die nassen Füße?
Erschrocken blickte er nach unten, wo eine Pfütze sich um seine Füße ausbreitete. Ein Leck! Die Reparatur hatte nur kurz gehalten. Immer schneller drang das Wasser durch den Riss. Und dabei war das Land schon zu sehen! Dort hinten – fern und noch leicht verschwommen, die sanften Erhebungen der Küste von Drian. Es durfte nicht wahr sein!
»Was machst du, Rin?«, fuhr er auf, während er verzweifelt Wasser schöpfte, hastig, mit bloßen Händen, ein Kampf gegen einen übermächtigen Feind. »Was tust du denn? Warum nimmst du mir dieses Wunder wieder weg? Rin! Rin!«
Rin antwortete nicht. Er antwortete nie, immer blieb er unsichtbar, immer einen Schritt hinter ihm oder vor ihm, immer lag dieses wissende Lächeln in der Luft.
»Tu das nicht! Oh nein, nicht jetzt, nicht jetzt!«
So schnell, wie das Wasser stieg, konnte er nicht schöpfen. Hier, mitten im Wasser, hier versagte der Kahn, hier, zwischen der Insel und dem Kaiserreich, musste er untergehen? Blitz konnte nur noch zusehen, wie das Meer sich lachend über das winzige Gefährt hermachte und es mit gierigen Zähnen herunterschluckte. Ihn ließ es übrig, als sei er eine Gräte, ungenießbar. Oder als sei er ein besonderer Leckerbissen, den es sich noch aufsparte. Denn entkommen lassen würde es ihn nicht. Von hier aus war es unmöglich, das Land schwimmend zu erreichen, er wusste das, und doch schwamm er los.
So lange ich kann. Ein Schwimmstoß und noch einer. Langsamer. Während das finstere Wasser meine Kleidung tränkt und die Tiefe mich ruft. Ist es dein Ruf, Rin, zu dir? Hältst du deine Hände unter mir, ausgebreitet, um mich zu dir zu holen?
»Noch nicht!«,