Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
lieben können. Früher war sie davon ausgegangen, dass sie eine Verbindung zum Wohle des Kaiserreichs würde eingehen müssen, dass irgendein König oder Prinz eines Tages neben ihr auf dem Thron saß und mit ihr regierte; eine Aussicht, die damals nicht einmal schmerzte oder ihr Angst einjagte, so selbstverständlich war eine Pflichtheirat, wenn man im Schloss von Kirifas lebte. Doch nun war sie an diesem sonnigen Tag einem Reisenden begegnet, und nun hatte auch sie endlich eine Geschichte, in der eine Lichtung eine Rolle spielte.
»Da hinten«, sagte sie und wies nach Norden, »dort ist das nächste Dorf.« Und dann, sie wusste selbst nicht, warum, ergriff sie die Flucht. Sie eilte an seinem Pferd vorbei, über das hohe Gras zum Pfad, der durch den Wald führte, und sah sich nicht einmal um. Als sie losrannte, verwünschte sie ihre Feigheit. Hatte sie nicht mit Königen und Fürsten gesprochen, Heerführern und Würdenträgern befohlen, zu jener Zeit, als sie noch die Kaiserin von ganz Deret-Aif gewesen war? Aber jetzt lief sie vor einem blonden Fremden davon, der ihr schläfrig in die Augen geblickt hatte, floh vor dieser Lichtung und vor der Geschichte, die dort vielleicht begonnen hatte und genauso schnell wieder zu Ende sein konnte, direkt in Tamaits und Majas Arme.
Das Geschwisterpaar kam ihr bereits entgegen. Beide merkten sofort, dass etwas nicht stimmte, dass etwas geschehen war – und war heute nicht wirklich alles anders als gestern? Hatte sich nicht die ganze Welt verwandelt, zu einer neuen Welt, in der er lebte?
»Hat dir jemand etwas getan?«, rief Maja erschrocken. »Wirst du verfolgt?«
»Nein, nein. Bloß weiter, schnell.« Hastig zog sie ihre Freunde in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren. »Ich will nur nicht … ach, vergesst es.«
»Du bist spät dran«, sagte Tamait. »Stollo hat uns losgeschickt, um nach dir zu sehen.«
»Euch beide? Das sieht ihm gar nicht ähnlich.« Stollo, der Wirt des Silbernen Kruges, verzichtete nur äußerst ungern auf eine Arbeitskraft.
»Er wollte, dass ich dableibe«, gab Maja zu, »aber ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Was ist nur passiert, Manina? Du verspätest dich doch sonst nie.«
Das kleine Haus im Wald, in dem die drei lebten – mehr eine baufällige Hütte als ein richtiges Haus –, lag nur wenige hundert Meter von der Gastwirtschaft entfernt, in der sie alle Arbeit gefunden hatten. Tamait kümmerte sich um die Pferde der Gäste, Maja unterhielt sie mit ihrem Flötenspiel, wenn nicht allzu viel zu tun war, und Manina half in der Küche. Es war anstrengend und schmutzig. Nichts für jemanden, der zimperlich und wehleidig war, und manchmal schüttete das blonde Mädchen seinen Freunden weinend das Herz aus. Aber sie gab nicht auf; obwohl sie behütet und verzärtelt aufgewachsen war, fand sie in sich eine Kraft, die sie selbst erstaunte.
»Nun sag schon«, bohrte Tamait, doch Maja schüttelte den Kopf.
»Lass sie in Ruhe«, befahl sie ihrem Bruder. Sie waren nicht blutsverwandt, doch sie hatten fast ihr ganzes Leben in dem Glauben verbracht, sie wären es. Niemand, der sie zusammen sah, wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie nicht Bruder und Schwester waren, so hatte sich alles zwischen ihnen eingespielt, und da sie beide schwarzhaarig waren und ihre gebräunte Haut in einem satten Bronzeton schimmerte, war die Ähnlichkeit nahezu vollkommen.
Als das Gasthaus vor ihnen auftauchte – ein langgestrecktes Holzhaus mit einer bunt gestrichenen Tür –, zögerte Manina und blieb stehen. »Ich kann heute nicht arbeiten«, erklärte sie.
»Und warum nicht?«, fragte Tamait.
Stollo erschien auf der Schwelle. »Wo bleibt ihr denn? Marsch, marsch! Soll das Essen sich heute alleine kochen? Muss ich euch alle auf der Stelle fortjagen? Ich mach’s, glaubt mir, das ist genau das, was ich machen werde, wenn ihr nicht endlich herkommt und das tut, wofür ihr bezahlt werdet!«
Maja warf ihm heimlich einen bösen Blick zu. »Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich könnte es diesem Sklavenantreiber sagen.«
»Das tust du nicht!«, rief Manina. »Und außerdem – ich bin nichts Besonderes mehr. Wen kümmert es, was ich war? Niemanden. Also lassen wir alles einfach so, wie es ist.«
»Da bin ich mir nicht sicher, dass es niemanden kümmert«, murmelte die junge Frau. Sie schob Manina, die sich immer noch ein wenig sträubte, in Richtung Hintereingang, wo lautes Scheppern verriet, dass jemand seine schlechte Laune an Töpfen und Pfannen ausließ. »Lass dich von Tamait nicht zwingen, etwas preiszugeben, was du für dich behalten willst«, riet sie der blonden Prinzessin.
Manina blieb stehen. »Da war ein Mann auf der Lichtung«, berichtete sie.
»Hat er dich erschreckt?«, fragte Maja alarmiert. »Hat er versucht … Bei Rin, wir sollten dich nicht allein lassen! Wollten wir nicht immer darauf achten, dass du in unserer Nähe bist?«
Maninas Augen glänzten, Röte überzog ihre Wangen. »Nein«, beruhigte sie ihre Freundin, »nein, er schlief … Ich bin einfach nur … ich stand da und habe ihn die ganze Zeit nur angeschaut …«
»Meine Güte«, entfuhr es Maja. Neugierig fügte sie hinzu: »Und dann? Ist er aufgewacht?«
»Ja, ist er. Und ich … ich weiß auch nicht, warum, aber ich konnte nicht dableiben. Was mache ich bloß, wenn er hierher kommt? Ich Dummkopf habe ihm auch noch gesagt, in welcher Richtung der Silberne Krug liegt! Was ist, wenn er drinnen sitzt? Wenn ich ihm das Essen bringen muss? Maja, bitte hilf mir, das kann ich einfach nicht!«
Stollos leuchtend rotes Gesicht erschien am Hinterausgang. »Mädels!«, schrie er. »Das Haus ist voll!«
»Wir kommen«, versprach Maja. »Mach mich nicht wütend, sonst spiele ich ein Lied, das deine Gäste so aufregt, dass sie dich mit Krügen und Tellern bewerfen!«
»Alles nur Gerede«, brummte der Wirt und verschwand wieder.
Die dunkelhaarige junge Frau lächelte aufmunternd. »Und was wäre, wenn er den Silbernen Krug nicht beehrt? Wenn du ihn nie wiedersiehst? Wäre das nicht noch schlimmer? – Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Stollo merkt, wie unentbehrlich wir für ihn sind. Aber wenn dieser geheimnisvolle Fremde kommt, zeigst du ihn mir, ja? Ich muss doch wissen, wer es schafft, der unnahbaren Manina den Kopf zu verdrehen.«
Sie betraten die Küche, in der ein magerer, pickliger Junge lustlos in einem großen Topf herumrührte. Maja krempelte die Ärmel auf. »Aus dem Weg!« Sie scheuchte Stollos gänzlich zur Küchenarbeit unfähigen Sohn vom Herd fort. »Wir haben Gäste, die hungrig sind.« Sie tauchte einen Löffel in die Suppe und verzog das Gesicht. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es nichts bringt, zu viel Salz zu nehmen? Die Leute trinken deshalb nicht mehr, sie werden bloß ärgerlich. Hier, nimm den Eimer, du holst jetzt Wasser. Diese Brühe müssen wir verdünnen.« Sie zwinkerte Manina zu, die sich gerade die Schürze umband und ein großes Tablett mit Tellern und Krügen belud. Silbern war keiner davon.
Tausend Gedanken gingen Maja durch den Kopf. Vergiss nicht, wer du bist, Prinzessin Manina. Wähle den Richtigen und wir könnten versuchen, Zukata vom Thron zu stürzen.
Ohne Sorayn.
Sie zwang sich, nicht an Sorayn zu denken. An den Mann, dem sie auf einer lichtüberfluteten Wiese begegnet war, den sie vor einem Bären retten wollte, und dabei hatte sie sich selbst rettungslos verloren, an eine Liebe zu einem Betrüger. Sie hatte sich ihm verbunden, hatte den Bund der Ehe mit ihm geschlossen, glücklich bis zum Zerspringen, bis sie herausgefunden hatte, dass sie ihm nur als Mittel zum Zweck diente, denn ihm war es nur um den Thron von Deret-Aif gegangen. Für Sorayn hatte Manina den Kaiserthron geräumt, hatte sich wie sie alle von seinem Charme bezaubern und von seiner unglaublichen Autorität überwältigen lassen – nur um zu merken, dass die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Pläne durchsetzte, mindestens ebenso groß war. Und doch war Zukata nun Kaiser, obwohl Sorayn versprochen hatte, dass es niemals dazu kommen würde. Was wirklich geschehen war, wusste niemand. Maja hatte Sorayn nicht mehr gesehen, seit sie erschrocken, weinend und wütend von einem blutigen Schlachtfeld geflohen war, auf dem Sorayn und seine Riesen sich ausgetobt hatten. Seit knapp einem Jahr lebte sie nun mit Tamait und Manina in diesem Dorf im Königreich Laring und versuchte, das alles zu vergessen. Vielleicht