Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
öffnete Stollo seine Arme, und nun stand Maja da, auf einmal sehr allein, und wusste kaum noch, wen sie mehr bedauern sollte, sich oder ihn oder Manina.
»Was soll ich denn machen?«, fragte ihr Arbeitgeber leise und verzweifelt. »Ich würde für dich kämpfen, oh ja … Aber ein Kaisergänger?«
»Ist schon gut«, sagte die junge Frau. »Mach dir bloß keine Sorgen um mich.«
Obwohl ein paar Jahre vergangen waren, hätte sie Erion überall wiedererkannt. Die Schlacht um das Schloss von Neiara würde sie nie vergessen. Dort hatte sie mit ihrer Familie und der Kampftruppe ihrer Pflegemutter Alika gekämpft, gegen Erion und die Söldner, die er mitgebracht hatte. Dort an der schmalen Brücke am Abgrund. Sie hatte seinen Befehl zum Rückzug noch im Ohr, und auf immer hatte sich das Bild in sie eingeprägt, wie der schwer verletzte Hauptmann der Feinde versuchte, kriechend die Brücke zu erreichen, bevor sie hochgezogen wurde. Erion hatte keinen Augenblick lang auf ihn gewartet. Nie würde Maja vergessen, wie er als Unterhändler den Abzug seiner Männer vereinbart hatte. An seinen kalten Blick, seine Stimme, bei der ihr heute noch ein Schauder über den Rücken lief, so gefühllos, so leblos war sie ihr vorgekommen.
Manina, diese dumme, verliebte Prinzessin, stand immer noch da. Maja versuchte, nicht zu ihr hinzusehen. Sie musste doch endlich begreifen, in welcher Gefahr sie schwebte!
»Ich suche noch eine Frau«, sagte Erion. »Blond, mit auffällig blauen Augen.«
Unwillkürlich wanderten die Blicke der anderen Gäste zu der hübschen Küchenhilfe. Erion hielt einen Moment mitten in der Bewegung inne, überrascht, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
Galant deutete er eine kleine Verbeugung an. »Ich muss auch Euch bitten, mich zu begleiten. Setzt Euch zu mir, meine Männer werden in Kürze hier eintreffen.«
»Das geht nicht!«, protestierte der Wirt unglücklich. »Meine Köchin und Flötenspielerin … mein Schankmädchen … Wer soll denn die Gäste versorgen?«
»Oh, ich bin sicher, wir werden alle zu gerne dem Flötenspiel der schönen Maid lauschen.« Erion verzog seinen Mund zu etwas, das fast wie ein Lächeln wirkte.
Manina trat vor ihn hin. Sie zwang sich, den Rücken gerade zu halten, den Kopf zu erheben, nicht an sein Gesicht im funkelnden Sonnenlicht zu denken.
»Lasst Maja frei«, sagte sie. »Ich werde mit Euch kommen, wenn Ihr sie hierlasst.«
Erion schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er einfach und zeigte deutlich, dass er nicht näher begründen wollte, welches Interesse er an Maja hatte, nicht hier und nicht jetzt. »Setzt Euch und wartet. Wenn meine Leute da sind, werden sie Euch begleiten, so dass Ihr noch einpacken könnt, was Ihr für die Reise braucht.«
»Die Reise?«, fragte Maja.
»Nach Kirifas«, antwortete er. »Wohin denn sonst. Dorthin, wo Ihr hingehört.«
Maja dachte darüber nach, ob sie aufstehen und rufen sollte: Seht her, das ist Prinzessin Manina, kämpft für sie! Aber niemand würde ihnen helfen, das wusste sie. Kaiser Zukata war nicht beliebt, doch niemand wagte es, sich seinen Kaisergängern zu widersetzen. Jeder, der das Zeichen des einstigen Räuberprinzen trug, durfte in diesem Reich tun, was er wollte, und hatte dabei Anspruch auf blinden Gehorsam.
Kopfschüttelnd drückte sie die Hand ihrer Freundin, als diese sich ergeben zu ihr auf die Bank setzte. Erion nahm ihnen gegenüber Platz und verlangte mit geradezu aufreizender Höflichkeit eine neue Suppe.
»Du hättest verschwinden können«, regte Maja sich auf. »Bei Rin, warum bist du nicht weggerannt?«
»Weshalb hätte ich fliehen sollen?«, gab Manina zurück. »Es gibt nichts, wessen ich mich schämen müsste.«
»Und da ist auch nichts, was Ihr zu fürchten hättet«, warf Erion ein. »Der Kaiser wird Euch in Ehren in seinem Palast empfangen.«
»Tatsächlich?«, fragte Maja.
»Wolltet Ihr nicht Flöte spielen, um die Gäste zu unterhalten?«, fragte er zurück. Das unzufriedene Gemurmel in der Gaststube hatte immer noch nicht aufgehört, zumal Stollo mit dem Bedienen kaum hinterher kam.
Wenn sie es wirklich gekonnt hätte, wäre jetzt die Zeit dafür gewesen, mit ihrem Spiel die Holzfäller so in Wut zu versetzen, dass sie sich auf den Kaisergänger stürzten. Aber die kleine Flöte, nach der ihre Finger tasteten – nirgends ging sie ohne sie hin –, vermochte keine Wunder zu bewirken. Sie ließ ihre Hände wieder sinken.
»Wie habt Ihr uns gefunden?«, wollte sie wissen. »Lässt Zukata ganz Deret-Aif nach Manina durchkämmen?«
»Zukata findet immer, was er sucht«, gab der blonde Mann zur Antwort. Mit einem freundlichen Nicken nahm er den Teller entgegen, den Stollo ihm reichte.
»Ich hoffe, er hat hineingespuckt«, zischte die junge Zinta wütend.
»Oh, ich hoffe nicht«, meinte Erion. »Wer einen Kaisergänger beleidigt, beleidigt den Kaiser selbst.«
Manina saß schweigend daneben, während die beiden miteinander redeten. Maja wurde immer wütender, bis sie schließlich glaubte, an ihren Gefühlen zu ersticken. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie auf ihrer Flöte gespielt, um das, was in ihr brodelte, ins Lied hinauszulassen. Aber ihr Feind hatte sie gebeten zu spielen und sie wollte ihm keinen Gefallen tun. Zu nah war die Erinnerung an den Tag, an dem das Glück gestorben war. Dort auf den geliebten Inseln – der Weininsel, auf der ein blutiger Kampf getobt hatte, und der Apfelinsel, die zerstört zu ihren Füßen lag, als sie siegreich zurückgekehrt waren. Alles hatte das Mädchen verloren, durch Erion und seinen hinterhältigen Onkel Norha. Und nun hatte der Albtraum sie eingeholt, in der Gestalt dieses Mannes, der vor ihren Augen so gesittet speiste wie ein Fürst. Auf ihre Fragen antwortete er stets ausweichend, aber mit unerschütterlicher Gelassenheit. Er wirkte nicht wie jemand, der wütend werden und herumschreien konnte.
»Am meisten«, sagte Maja, »bedaure ich, dass ich Euch die erste Suppe nicht ins Gesicht geschüttet habe.«
»Oh, wie schade wäre das gewesen«, meinte er, »sie ist vorzüglich. Man schmeckt, dass Ihr von den Glücklichen Inseln kommt.«
»Ich habe nie vergessen, woher ich stamme«, sagte sie leise.
»Glaubt Ihr, ich?« Ein hochmütiges Lächeln bog seine Mundwinkel nach oben. »Wo ich doch der König von Neiara bin?«
Kaiser Zukata hatte die Inseln Neiara und Arima zum vierundzwanzigsten Königreich von Deret-Aif erklärt, das wusste sie seit langem, aber nicht, wer darüber regierte. Wie viele Scheußlichkeiten würde dieser Tag denn noch ans Licht bringen? Krampfhaft bemühte sie sich, Erion nicht zu zeigen, wie sehr es sie schmerzte, dass eine der Glücklichen Inseln ihm gehörte.
»Mehr hat Zukata Euch nicht anvertraut? Eine verbrannte Insel und ein schwarzes Schloss? Einen Felsen im Meer?«, höhnte sie, als hätte sie nicht alles dafür gegeben, wieder auf Arima zu sein und das Geld und die Macht zu haben, die Gärten wieder aufzubauen und neue Bäume zu pflanzen. »Mehr wart Ihr ihm nicht wert? Hat er nicht seine dreckigen Räuber zu Königen über Königreiche wie Torn oder Diret gemacht? Auch hier in Laring herrschen jetzt Verbrecher.«
Wenn sie bereit gewesen wäre, irgendetwas an ihrem Gegner bewundernswert zu finden, hätte sie ihm wohl Anerkennung dafür gezollt, wie gut er sein Gesicht in der Gewalt hatte. Nicht die kleinste Regung offenbarte, ob er sich getroffen fühlte, nur ihr Gespür verriet ihr, dass sie in gefährliches Gebiet eindrang.
Maja blieb erspart, mitzuerleben, wie ein dermaßen gefasster und beherrschter Mann wie Erion reagierte, wenn man seinen wunden Punkt gefunden hatte. Die Soldaten, die er versprochen hatte, polterten gerade in die Gaststube, aber ihr Blick wurde von Tamait abgelenkt, der gleichzeitig in der Verbindungstür erschien.
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, als sich ihre Blicke begegneten, als sie das Entsetzen in seinem Gesicht aufflammen sah. Nein. Keta, formten ihre Lippen, lautlos. Hol Keta.
Sie hoffte, dass er nicht so wie Manina einfach wartete