Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen

Der Thron des Riesenkaisers - Lena Klassen


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gab keinen richtigen Zeitpunkt. Der Blick in die Stube verriet es ihm. Nicht alle tranken. Ein paar Männer saßen an einem Tisch und spielten Karten. In den schmalen Betten an der Wand schliefen einige, ohne sich von dem Gebrüll der Spieler, die einander lautstark Betrug vorwarfen, stören zu lassen. Auf einer langen Holzplatte lag ein buntes Sammelsurium von Dingen, anscheinend Gegenstände, die Reisenden abgenommen worden waren. In der kleinen Truhe, schätzte Kroa, wurden die Münzen aufbewahrt, daneben verschiedene Waffen – ob Jamais Bogen und Dolch dabei waren, konnte er von hier aus nicht sehen, aber er nahm es stark an –, Umhänge aus seidigem Stoff, sogar ein verzierter Reitsattel fand sich dort.

      Kroa, der sich mit den Händen am Fensterrahmen festgekrallt hatte, um ins Haus hineinsehen zu können, ließ sich wieder auf den Boden hinunter und überschlug alle Möglichkeiten. Lärm machen, so dass alle, die wach waren, nach draußen liefen und er in dieser Zeit ins Zimmer gelangen und die Sachen holen konnte? Doch die Schläfer würden wahrscheinlich gerade zu diesem Zeitpunkt aufschrecken. Besser war es, sie alle völlig zu überrumpeln. Durchs Fenster brechen, sich den Bogen und den Dolch schnappen und wieder zurück, und bis die Soldaten sich von ihrer Überraschung erholt hatten, war er schon über alle Berge. Er würde Jamai und Möwe wecken – ja, auch sie würden staunen – und gemeinsam würden sie das Weite suchen. Ohne auch nur einen Kratzer davongetragen zu haben.

      Kroa trat ein paar Schritte zurück. Von hier musste er springen, wenn er mit den Füßen voran durch das dünne Glas brechen wollte, dann ein Satz über den Tisch mit den Kartenspielern – wie gut, dass er so passend mitten im Raum stand – hinüber zu den Beutestücken und … Für den Rückweg brauchte er eigentlich beide Hände … Kroa überlegte. Den Dolch konnte er zwischen die Zähne nehmen, Bogen und Köcher nicht. Früher hätte es ihm keine Mühe bereitet, sich mit einer Hand zum Sprung abzustoßen. Er hatte es schon länger nicht mehr getan, aber er war sicher, dass er es immer noch konnte.

      Du bist zu alt, sagte eine Stimme in ihm. Beim Wandern tun dir schon die Knie weh, morgens kannst du kaum die Beine bewegen …

      Ach was.

      Seine Lippen bewegten sich lautlos. Das ist eine meiner leichtesten Übungen. Ich werde jetzt nicht kneifen. Ich bringe Jamai sein Eigentum zurück.

      Er musste es jetzt tun, jetzt sofort, bevor seine Füße im Schnee zu frieren begannen, bevor es seinem inneren Spielverderber gelang, sich Gehör zu verschaffen. Bevor er nichts war als ein alter, etwas zu klein geratener Mann, dessen Familie

      Zukata nach Belieben berauben konnte. Dabei war er immer noch Kroa, Herr der Wälder, Fürst der Akrobaten …

      Er warf sich nach hinten, stieß sich mit den Händen vom Boden ab und schnellte durchs Fenster. Klirrend barst die Scheibe, als er mit den Füßen voran in den Wachraum stürzte, mit einer eleganten Drehung über den Tisch wirbelte und vor dem Diebesgut aufkam. Einer der Soldaten war vor Schreck hintenüber vom Stuhl gestürzt, die anderen sprangen gerade auf, als Kroa sich schon den Dolch zwischen die Zähne schob, den Bogen packte – in der Eile verfehlte er den Köcher, aber er hatte keine Zeit, zweimal zuzugreifen – und zurück auf den Kartentisch hechten wollte. Während er hochschnellte, merkte er schon, dass seinen Beinen die nötige Kraft fehlte, und als er sich mit der freien Hand abstützen wollte, krachte er mit dem Rücken gegen die Holzkante, schlug mit den Beinen gegen eine Stuhllehne und sah nur noch eine Faust auf sich zukommen, die seinen missglückten Flug in eine andere Richtung lenkte – leider nicht in die gewünschte.

      Die bunten Wagen rumpelten über die holprige Straße. Die Pferde, die sie zogen, waren klein und kräftig. Der dunkelhaarige Mann, der das letzte Gefährt lenkte, blickte sich um, als der Weg in einer langgezogenen Kurve den Wald verließ. Dieser Idiot folgte ihnen immer noch!

      Toris seufzte und zog sacht an der Leine. Der Braune mit dem breiten Hinterteil ging ein paar Schritte weiter, bevor er beschloss zu gehorchen. Während der Zinta auf den Mann wartete, der schon wer weiß wie lange hinter ihnen herlief, nutzte das Tier die kurze Rast und zupfte ein Kraut zwischen den Steinen hervor.

      »Na gut.« Toris nickte dem jungen Mann zu. »Du kannst mitfahren, Sorayn. Aber ich werde dir nicht sagen, wo Maja ist. Und du wirst mich nicht mehr fragen. Einverstanden?«

      »Es macht mir nichts aus zu laufen.« Sorayn lächelte. »Es geht mir nur darum, mit dir zu reden.«

      »Von mir erfährst du nichts. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt.«

      »Das hast du, in der Tat. Aber ich bin hartnäckig.«

      »Das habe ich gemerkt, glaub mir. Nun steig schon auf, wir verlieren sonst den Anschluss.«

      Auch wenn es Sorayn nichts ausmachte, hinter der Kolonne herzugehen – mit seinen langen Beinen war er sehr schnell, und er kam nie zu spät, wenn sie am Abend ihr Lager aufschlugen –, konnte Toris es nicht gut haben, dass sein Schwiegersohn hinter dem klapprigen grünen Wagen herrannte. Obwohl der Zinta sich standhaft weigerte, Sorayn zu verraten, wo Maja sich aufhielt, war es unmöglich, den jungen Mann abzuschütteln. Eigentlich durfte man ihm gar nicht verwehren, hier zu sein, bei den Brüdern und Schwestern der Ziehenden, an ihren Gesprächen und Tänzen teilzunehmen. Hatte er nicht rechtmäßig in diese Sippe eingeheiratet?

      Sorayn tätschelte den Braunen und flüsterte ihm etwas zu, bevor er sich neben Toris auf die Bank setzte, die als Kutschbock diente. »Dein Pferd ist hierüber nicht erfreut«, sagte er. »Ich werde sowieso bald wieder laufen müssen.«

      »Ach ja«, meinte Toris kopfschüttelnd, »ich vergesse immer wieder, dass du mit den Tieren reden kannst.«

      Der Mann, den seine Tochter sich ausgesucht hatte, war ohne Zweifel ein wenig verrückt. Oder machte er, dass alle anderen irre wurden? In seiner Nähe geriet alles durcheinander, aber es fiel schwer, ihm lange böse zu sein. Obwohl er so groß war, trotz seiner breiten Schultern und seiner imposanten Erscheinung hatte er etwas anrührend Jungenhaftes an sich. Er kam einem vor wie jemand, der alles zum ersten Mal sieht. Manchmal sagte er Dinge, die keinen rechten Sinn ergaben – eine der Zinta-Frauen behauptete, es wären Gedichte – und dass er mit Pferden, Hunden und Spatzen flüsterte, war erst recht wenig vertrauenerweckend. Aber er war nun einmal sein Schwiegersohn, und nachdem alle seine Versuche, ihn wegzuschicken, auf taube Ohren gestoßen waren, musste Toris sich etwas anderes einfallen lassen.

      »Maja …«, begann Sorayn.

      »Ich werde dir nichts über Maja sagen. Sie wird ihre Gründe gehabt haben, dich zu verlassen. Wenn sie nicht von dir gefunden werden will, mische ich mich nicht ein.«

      Eine Armee von wilden Riesen hatte diesem jungen Mann gehorcht. Auch allein war mit ihm, so hatten die Zintas aus zuverlässiger Quelle gehört, nicht gut Kirschen essen. Aber er hatte hier niemanden bedroht und nicht einmal eine Andeutung gemacht, dass er Majas Aufenthaltsort mit Gewalt herausbekommen könnte. Wenn es stimmte, was man sagte, war es ihm sogar gelungen, Remanaine zu besiegen, den Wanderheiler, der in Wirklichkeit, wie mittlerweile fast jeder wusste, Zukatas Zwillingsbruder Keta war. Sorayn dagegen hatte nichts von einem Riesen, das sah man auf den ersten Blick. Obwohl er recht groß war, kam er an einen ausgewachsenen Angehörigen dieses grobschlächtigen Volks nicht heran. Überdies waren seine Gesichtszüge viel zu fein, selbst für einen Menschen war er ungewöhnlich attraktiv. Die himmelblauen Augen erinnerten an Remanaines stechenden Blick, und von daher stammte wohl das Gerücht, er gehörte zur Familie des Kaisers. Aber während Toris den Heiler als ruppig und eigenbrötlerisch kannte, war Sorayn die Freundlichkeit und Sanftheit selbst.

      »Maja hatte ihre Gründe«, gab der junge Mann zu, obwohl man kaum glauben mochte, dass es mit jemandem wie ihm Streit geben konnte. »Aber sie ist immer noch meine Frau. Und es hat sich sehr viel geändert. Ich werde sie finden, Toris, ob mit deiner Hilfe oder ohne sie.«

      »Dann geh und such sie. Ich halte dich nicht auf.«

      Sorayn lachte leise. »Erzähl mir von ihr. Von der Zeit, als sie hier in der Sippe gelebt hat.«

      Toris grub in seinem Gedächtnis, aber ihm fiel nichts ein, was er berichten konnte. Über seine Tochter, von deren Existenz er so lange nichts geahnt hatte. Er hatte sie das erste Mal getroffen, als sie schon eine wunderschöne


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