Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
für eure Freundlichkeit.«
Die Frau nickte nur kurz, sie vermied es, irgendjemanden von ihnen anzusehen. Nur ihre Töchter warfen verstohlen ängstliche Blicke auf die Fremden.
Erion störte das nicht im Geringsten. Er verteilte Wachposten im Haus; vor allen Türen und Fenstern platzierte er jemanden. Auch am Stall, das sah Manina durchs Fenster, nahmen einige Männer Aufstellung.
»Ich habe nur neun gesehen«, überlegte sie. »Sind wir nicht mit zwölf losgeritten? Es waren ein Dutzend Soldaten, als sie uns aus dem Silbernen Krug geholt haben. Außer Erion.« Es gelang ihr fast, seinen Namen so auszusprechen, als würde er ihr nichts bedeuten. »Am ersten Tag waren es nur noch elf. Das weiß ich genau, ich habe sie mehrmals gezählt. Warum sind es jetzt nur noch neun? Schickt er sie aus, um Kunde von unserer Ankunft zu geben?«
»Dann hast du es also auch gemerkt«, sagte Maja leise und nahm dankend einen Becher Wasser entgegen. »Wir haben einen unsichtbaren Begleiter.«
»Ich habe daran gedacht, aber es kann doch nicht sein …« Manina wollte es immer noch nicht glauben. »Das würde er nicht tun. Nicht Tamait.« Sie hatte Majas Bruder als guten Freund kennengelernt, als jemanden, auf den immer Verlass war, auch wenn er sich hin und wieder mit ihr zankte. »Er ist doch kein Mörder. Er würde nie aus dem Hinterhalt auf Menschen schießen. Es muss eine andere Erklärung dafür geben.«
»Es ist Tamait«, widersprach die Arimerin.
»Wie kannst du das wissen? Hast du ihn gesehen?«
Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es.«
»Du traust deinem Bruder wirklich zu, dass er diese Soldaten hinterrücks ermordet?«
»Ermordet?« Die junge Frau lachte grimmig. »Wie sonst soll ein Einzelner kämpfen? Ich hatte gehofft, er würde Keta holen, aber dazu ist nicht genug Zeit. Manina, mein Bruder versucht, dich zu retten, sonst nichts.«
»Zukata will, dass ich im Palast lebe. Das ist zwar ärgerlich, aber ich kann es nachvollziehen. Er kann nicht riskieren, dass ich mich mit seinen Gegnern verbünde. Maja, dafür sollte niemand sterben. Wir müssen Tamait irgendwie mitteilen, dass er aufhören soll!«
Ihre Freundin blickte sie nachdenklich an, mit ihren großen dunklen Augen, die oft zu viel von ihren Gefühlen verrieten. Das, was sie jetzt sagen würde, wollte sie eigentlich für sich behalten.
»Glaubst du wirklich, Zukata kann riskieren, dich in Kirifas wohnen zu lassen? Dich, die ehemalige Kaiserin?«
Manina schluckte. »Er würde mich nicht umbringen. Nein, das glaube ich nicht. Selbst wenn er es wollte. Es würde seinem Ansehen zu sehr schaden.«
»Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich auf dieser Reise dabei sein muss«, sagte Maja. »Mittlerweile glaube ich, dass Erion eine Zeugin braucht. Eine Zeugin der Gegenseite. Jemanden, der beschwören kann, dass Zukata seine Schwester nicht töten ließ, dass er unschuldig ist. Dass es nur ein Unglücksfall war, während er sie in Ehren nach Hause bringen ließ.«
»Nein«, flüsterte Manina. »Nein, Maja, nein, bestimmt nicht!«
»Wenn Tamait dasselbe annimmt – meinst du nicht, dass er diesen Kampf um deine Rettung genauso führen würde, wie er es gerade tut? Genauso heimlich und genauso gnadenlos?«
Ihr Entführer beriet sich am anderen Ende des Raumes mit einem seiner Soldaten. Wenn die junge Prinzessin ihn ansah, machte ihr Herz einen Sprung, wurde ihr heiß und kalt, war sie glücklich und traurig zugleich.
»Dafür würde Fürst Erion sich nicht hergeben«, beteuerte sie.
Vielleicht spürte er, dass die Mädchen über ihn redeten, denn er sah kurz zu ihnen herüber durch die erleuchtete Stube. Ohne zu lächeln. Ein Blick, kühl und abschätzend; er hätte Manina Tränen in die Augen getrieben, wenn sie daran geglaubt hätte, dass Erion nicht mehr fühlte als das, weniger als nichts. Aber das tat sie nicht. Sie so anzuschauen, war nichts als seine Methode, diese Reise irgendwie zu überstehen, ohne überwältigt zu werden von dem, was zwischen ihnen war, was dort auf jener Lichtung begonnen hatte. Damals war ihm nicht klar gewesen, wer sie war. Und jetzt – wie hätte er, der König einer verlorenen Insel, sich Hoffnungen machen dürfen auf die Schwester des Kaisers? Er verbarg seine Gefühle, aber sie waren ganz bestimmt da. Durch den Raum hindurch konnte sie wahrnehmen, wie sein Herz schneller schlug.
Sie starrte auf den Tisch, in ihren Becher, und unterdrückte ein Lächeln. Oh, er wusste, dass sie es wusste. Dass sie alles wusste. Es war wie ein Spiel, nur zwischen ihnen beiden.
»Du bist verloren«, sagte die Arimerin traurig. »Ich werde mein Bestes tun, um dich zu retten. Hoffen wir, dass es reicht.«
Wenn verloren sein hieß, in Erions Nähe bleiben zu dürfen, dann wollte Manina nicht gerettet werden.
In der Nacht, die beide Mädchen auf dem kleinen Dachboden verbrachten, wurden sie von lautem Geschrei geweckt. Maja stürzte an das winzige Eulenloch und spähte hinaus. Im Mondlicht rannten mehrere Gestalten hin und her, doch von hier aus war nicht zu erkennen, was da vor sich ging. Am liebsten hätte die junge Zinta ein Loch ins Dach geschlagen und wäre nach unten geklettert, um zu laufen, immer weiter zu laufen, in den Wald, zu Tamait. Aber aus dieser Schlafkammer gab es kein Entkommen, unten wachten zu viele Soldaten, und sie hatte keine Waffe. Selbst das beste Schwert hätte ihr nicht viel genützt, musste sie sich eingestehen, denn sie war nicht die herausragende Kämpferin, die es mit mehreren Gegnern gleichzeitig aufnehmen konnte. Erst als es irgendwann wieder ruhig wurde, legte sie sich wieder hin. Der Schlaf wollte nicht kommen, so viele Fluchtpläne, einer waghalsiger als der andere, tanzten durch ihren Geist und zogen bunte Fäden hinter sich her, bis sie sich in dem immer komplizierter werdenden Muster unauflösbar verstrickte.
»Was war heute Nacht los?«, fragte Manina, als die ersten Sonnenstrahlen die unzähligen Staubkörnchen in der Luft des Dachbodens zum Funkeln brachten.
»Dann hast du doch etwas gehört? Ich dachte, du schläfst wie ein Stein und träumst etwas Schönes.«
»Sind die Damen wach?«, erklang von unten Erions Stimme. »Dann möchte ich Euch bitten, herunterzukommen.«
Maja beugte sich über den Rand der Luke. »Warum stellt Ihr dann nicht die Leiter wieder hin?«
»Es gibt keine Leiter«, sagte Erion.
»Gestern gab es doch noch eine.«
»Sie wurde heute Nacht beschädigt.«
»Ach.« Hatte Tamait es wirklich geschafft, bis ins Haus einzudringen? »Und wie sollen wir dann nach unten gelangen?«
»Wir werden Euch dabei behilflich sein.« Zwei Soldaten schoben den schweren Holztisch unter die Öffnung. Erion stieg hinauf und streckte ihr die Hände entgegen. »Kommt.«
»Das fehlte noch, dass ich mich von Euch anfassen lasse.« Das Zinta-Mädchen schwang die Beine über den Rand, drehte sich auf den Bauch und sprang leichtfüßig auf den Tisch. Manina dagegen starrte mit schreckgeweiteten Augen nach unten. »Das kann ich nicht.«
»Ihr könnt«, befand Erion.
»Aber …« Die Prinzessin sah in seine ernsten grauen Augen. Sie entdeckte kein Lächeln darin, kein ermutigendes Zuzwinkern, nur die Last, die er trug. Als wäre es das ganze Kaiserreich – und war es nicht nur die winzigste seiner Inseln?
Erion wartete ohne ein Zeichen von Ungeduld, obwohl seine Anweisungen sonst immer ohne Zögern ausgeführt wurden. Manchmal staunte sie darüber, dass er nur mit einem befehlenden Blick seine Männer dazu bringen konnte, alles zu tun, was er verlangte.
Sie setzte sich auf den Rand der Luke und sprang in seine Arme.
Er hielt sie nicht länger als nötig. Er schwankte nur leicht und ließ sie dann sofort wieder los.
»Wie gut, dass ich keine Riesin bin, nicht wahr?« Sofort schämte sie sich, dass ihr diese Bemerkung so herausgerutscht war. Natürlich hätte eine Riesin keine Schwierigkeit damit gehabt, von diesem Dachboden herunterzuspringen. Und sie hätte