Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
Dämmerung gehüllt, und nichts verriet ihr, ob ihre Freunde bereits tot waren oder ob es Jamai gelungen war, mit Kroa zu fliehen. Ihre Gelassenheit, was ihr eigenes Schicksal betraf, wunderte sie selbst. Aber nachdem ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, kam es ihr nicht mehr ganz so schlimm vor, dass sie nicht weiterfliehen konnte. Sie hatte ihr Bestes gegeben, nun würde geschehen, was auch immer geschehen musste.
Der Waldboden unter ihr war unendlich weit entfernt, sie hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt den glatten Stamm und die eisglatten Äste hochgekommen war. Ihre steifgefrorenen Finger wurden rot und taub, und sie bezweifelte, dass sie es aus eigener Kraft schaffen würde, vom Baum herunterzusteigen. Trotzdem konnte sie den herrlichen Sonnenaufgang genießen, wie sie noch nie irgendeinen Morgen genossen hatte. Vielleicht war es der letzte. Das Licht, das durch die kahlen, schneebedeckten Wipfel kroch, schien den Wald zu entflammen. Rötliche Glut verzauberte die überfrosteten Zweige. Funken spielten in ihrem weißen Haar und küssten es mit demselben rosigen Glanz wie den Schnee.
»Mino?« Dort unten am Fuß des Baums stand Jamai. Sie sah sein Gesicht wie aus weiter Ferne. »Geht es dir gut?«
Keine Soldaten mehr. Wo waren sie hin?
»Du kannst jetzt herunterkommen.«
Ihre Finger ließen sich nicht biegen.
»Ich kann nicht.«
»Was?«, schrie er von unten herauf.
»Ich kann nicht!«, rief sie zurück und lehnte ihre Wange an die kalte Rinde. Sie wusste nicht, wie lange sie sich noch festhalten konnte. Hier oben, wo es nicht vor und nicht zurück ging …
»Mino.« Er war auf dem Ast unter ihr. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie er den Baum hochgestiegen war. »Mino, gib mir deine Hand.«
»Was ist mit Kroa?«
»Er ist in Sicherheit. Komm. Höher kann ich nicht hinauf.«
Sie wagte es, kurz zu ihm hinunterzuschauen. Er streckte den Arm nach ihr aus und konnte doch nicht einmal ihre Füße erreichen. »Mino, komm.«
Ihre Kraft reichte kaum noch aus, um den Ast zu umklammern. Sie hatte sich völlig verausgabt und nun brachte sie es nicht einmal fertig, ein winziges Stück hinunterzuklettern. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie zugab: »Wenn ich loslasse, falle ich.«
»Ich habe hier einen ganz guten Stand«, sagte Jamai. »Ich fange dich auf. Komm, lass los. Kroa geht es gut. Ich hatte ihn gerade geholt, da kamen die Männer des Königs. Ezirs Soldaten haben nicht gekämpft, sie sind einfach vor der Übermacht geflohen. Komm, meine Liebe.«
»Des Königs?«, fragte sie, ohne zu begreifen. »Was für ein König?«
»König Oka«, erklärte Jamai. »Oka wirft alle Fürsten hinaus, die Zukata ihm zugeteilt hat. Er entfernt sie wie Flöhe aus seinem Pelz … Komm, Mino. Jetzt, bevor ich auch noch hier einfriere. Sie haben ein Feuer angezündet, siehst du es dort durch die Bäume? Kroa ist verletzt, er braucht dich so schnell wie möglich.«
Dieser Satz drang endlich durch ihre Erstarrung. Mino löste vorsichtig eine ihrer Hände vom Ast. Sofort rutschten ihre Füße über die eisüberzogene Rinde. Sie schrie auf, als sie fiel – und dann waren Jamais Arme da. Er lachte leise vor Erleichterung, während er sein Gewicht ausbalancierte. »Komm. Wir müssen da hinunter. Ich kann dich nicht tragen, dann fallen wir beide. Hier, setz deinen Fuß genau dorthin …«
Es dauerte lange, sehr lange, aber sie verbot sich zu zweifeln. Gehorsam folgte sie seinen Anweisungen. Er hielt ihre Hände fest, als er sie auf einen tiefer liegenden Ast hinunterließ. Während er ihr dabei in die Augen sah, sprach er mit seiner angenehmen tiefen Stimme beruhigend auf sie ein. Ihre Knie zitterten, als sie endlich festen Boden unter den Füßen spürten. Sie lehnte sich gegen Jamai und schloss die Augen.
»Mein Wintermädchen«, flüsterte er. »Schneemädchen. Meine Schneeeule.«
»Eule?« Sie öffnete die Augen wieder und sah sein Grinsen.
»Bist ihnen einfach davongeflogen.«
»Möwe, wenn ich bitten darf.«
Er lachte wieder, dann nahm er ihre Hände in seine und rieb sie sanft. »Komm. Bist du in der Lage, nach Kroa zu sehen? Und ein paar von den Männern des Königs sind reichlich angeschlagen.«
Auf dem Weg zurück hielten sie den Schritt Abstand zwischen sich nicht ein, den sie sich auf ihren Märschen angewöhnt hatten. Kroa, der blass und nach Luft ringend im Wachhaus lag, hob vielsagend die Brauen, als er die beiden Hand in Hand hereinkommen sah.
»Nun?«, fragte Mino betont munter. »Wo tut es weh?«
»Mir tut alles weh«, beschwerte Manina sich, als sie am Abend von den Pferden stiegen. Wieder waren sie einen ganzen Tag fast ununterbrochen unterwegs gewesen. Die Prinzessin schwankte und stützte sich gegen ihre Freundin.
»Es tut mir leid, Euch Unannehmlichkeiten zu bereiten«, sagte Erion steif.
»Ach ja?«, fragte Maja. »Und warum müssen wir dann so rasch voran? Ihr könntet auch eine Kutsche bestellen und die Schwester des Kaisers angemessen reisen lassen. Eure nichtssagende Höflichkeit macht mich krank!«
Immer wieder brach der Zorn aus ihr heraus. Am Anfang hatte Manina versucht, sie zu beruhigen, indem sie ihr die Hand auf den Arm legte und sie um Mäßigung bat. Aber falls Erion sich über die aufbrausende Art der Arimerin ärgerte, ließ er es seine Gefangenen nicht spüren. Er war stets zuvorkommend und unerbittlich.
»Der Winter steht vor der Tür«, erklärte er. »Falls Ihr diesen Ritt schon als unangenehm empfindet, dann wartet, bis es erst richtig kalt wird.«
»Zukata hätte die Prinzessin ja auch im Frühling zu sich bitten können.«
»Kaiser Zukata bittet nicht«, entgegnete Erion.
»Lass gut sein«, murmelte Manina, die es nicht leiden konnte, wenn Maja mit ihm stritt. Als Erion den Besitzern des Hauses, vor dem sie hielten, mitteilte, dass sie es für diese Nacht dem Kaisergänger und seinen Leuten zur Verfügung stellen mussten, wandte sie sich an ihre Mitgefangene. »Er führt nur Befehle aus. Du solltest ihm nicht so zusetzen.«
»Ach, er ist nur ein armer, bedauernswerter Diener, wie? Ha!« Maja wollte sich nicht länger anhören, wie Manina immer wieder versuchte, Erion zu verteidigen. »Für jemanden wie ihn solltest du dir wirklich keine Entschuldigung ausdenken. Nur weil Erion nicht grob zu uns ist, heißt das noch lange nicht, dass er ein freundlicher Mensch ist. Er müsste das nicht tun. Das weißt du so gut wie ich. Er könnte uns auch laufenlassen, wenn er wollte.«
»Du verstehst das nicht«, sagte die ehemalige Kaiserin. »Du bist immer frei gewesen. Aber ich weiß, wie es zugeht bei den Mächtigen. Wenn man Befehle erteilt, die nicht jedem schmecken, und trotzdem erwartet, dass sie ausgeführt werden. Wir sind nicht seine Gefangenen, sondern Zukatas. Also hör endlich auf, ihm böse zu sein. Was tut er denn schon? Er bringt mich zu meinem Bruder, damit ich bei ihm im Palast lebe. Das ist zwar nicht das, was ich mir ausgesucht hätte, aber wenn er das verlangt, habe ich doch keine Wahl.«
Maja schüttelte den Kopf. »Wie kann es sein, dass ich mehr über Zukata weiß als du? Haben sie dir nie erzählt, wie er ist?«
»Was meinst du damit?«, fragte Manina scharf. »Ich war es schließlich, die von ihm entführt wurde. Und ich habe ihn auch als Erwachsene getroffen.« Sie würde niemals den Todestag ihres Vaters vergessen. Den Augenblick, als aus der brüderlichen Umarmung des Riesen, den sie für Keta hielt, der brutale Griff eines Feindes wurde.
Maja schüttelte nur den Kopf.
»Meine Damen.« Erion öffnete ihnen die Tür des Hauses, als gehörte es ihm. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Die Soldaten hinter ihnen, wie immer mit unbeweglichen Gesichtern, als ginge sie das Ganze nichts an, ließen ihnen keine andere Möglichkeit. Drinnen waren eine ältere Frau und zwei Mädchen damit beschäftigt, Speisen aufzutragen. Manina bemerkte den Schweiß auf ihrer Stirn, die zitternden Hände, während die drei sich um das leibliche Wohl