Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen

Der Thron des Riesenkaisers - Lena Klassen


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an der nächsten Grenze«, schlug er vor, »machen wir es wieder so. Wenn ihr mir sagt, wohin ihr zieht, werde ich euch einholen.«

      »Das tun wir ganz gewiss nicht«, meinte Toris trotzig, »wir lassen nie einen von uns im Stich.«

      Und da war es wieder, das Glück. Einer von uns. Als wäre er wirklich ein Zinta, für den das galt, was jedem von ihnen zustand: der Schutz der Gemeinschaft.

      »Wir sollten es ihnen mitteilen, bevor sie ungeduldig werden«, drängte Sorayn. Er konnte geradezu fühlen, wie die Soldaten ihre Macht genossen. Es würde ihm sehr schwer fallen, nicht sofort loszuschlagen, sondern sich in ihre Hände zu begeben, bis die Sippe in Sicherheit war.

      »Und, was ist bei euren Überlegungen herausgekommen?«, fragte einer der Soldaten höhnisch.

      »Wir werden nicht …«, begann Toris, aber Sorayn unterbrach ihn: »Sucht euch einen aus für euren Herrn.«

      Die beiden Soldaten musterten die kleine Gruppe, zu der noch ein paar ältere Männer und Frauen und einige Halbwüchsige gehörten. Man musste kein Hellseher sein, um zu erraten, wen von ihnen sie ihrem Fürsten mitbringen würden.

      »Du!« Der Soldat zeigte mit dem Finger auf den großen Kerl, der aussah, als könnte er gut mit anpacken. »Du bleibst hier. Die anderen können gehen.«

      Sorayn verkniff sich ein Lächeln, das sie vielleicht misstrauisch gemacht hätte. Er nickte Toris zu, der, so wie auch die anderen Ziehenden, ein glaubhaft entsetztes Gesicht machte. »Bis bald«, formte er mit den Lippen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie sich in Kürze wiedersehen würden, und dann verriet ihm sein Schwiegervater hoffentlich, wo er Maja finden konnte.

       4. Kein Entrinnen

      E I NG U TG E Z I E L T E RSchneeball traf Kroa voll ins Gesicht. Er schüttelte sich und prustete und spuckte. Die Soldaten lachten laut auf. Der nächste bückte sich und formte eine Kugel. Er drückte den Schnee zusammen, bis er hart war wie ein Stein.

      »Er ist ein alter Mann«, flüsterte Mino. »Ich kann das nicht länger mit ansehen.«

      »Warte noch einen Moment.« Jamai legte seine Hand auf ihre.

      Sie hockten in einem Gebüsch, dicht am Haus der Soldaten. Als Jamai in dieser Nacht erwacht war und feststellen musste, dass Kroa verschwunden war, hatte er nicht lange herumgerätselt, sondern sofort Mino geweckt. Inzwischen schneite es nicht mehr und Kroas Fußabdrücke konnten die Feinde jederzeit zu ihrem Versteck führen. Mit einem Tannenast hatten sie alle Spuren verwischt, so gut es ging, und waren in einem weiten Bogen zum Wachhaus zurückgekehrt. Als sie Kroa im Baum entdeckten, durchfuhr es Mino kalt. Doch dann erblickten sie die Soldaten, die sich damit vergnügten, ihr Opfer zu quälen. Sie hatten den kleinen Mann an den Füßen in die Äste gehängt und bewarfen ihn vorerst mit nichts Schlimmerem als Schnee, doch allein daran, dass Kroa verbissen schwieg, erkannte sie, dass es ihm nicht gut ging. Ein anderer Kroa, jünger und stärker, hätte die Feinde als das verhöhnt, was sie waren, als Feiglinge. Der Kroa von früher hätte sich hochgeschwungen und die Fesseln gelöst. Doch dieser Gefangene, den sie dort verspotteten, tat gar nichts. Vielleicht wollte er vermeiden, Mino und Jamai herzurufen. Dabei hätte er wissen müssen, dass sie ihn niemals im Stich lassen würden.

      Diesmal war es ein Stein. Sie hatte es genau gesehen. Mino ächzte leise, so sehr fühlte sie den Schmerz mit.

      »Warte«, flüsterte Jamai dicht an ihrem Ohr.

      Worauf denn?, hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Das können wir doch nicht zulassen!

      Sie waren nur zu zweit, und hier trieben sich mindestens zwanzig Soldaten herum. Um es mit einer solchen Übermacht aufzunehmen, hätte man ein Riese sein müssen. Und sie hatten nicht einmal mehr ihre Waffen. Um einen genialen Plan zu entwerfen, blieb keine Zeit. Noch spielten die Feinde wie eine Katze mit der Maus, aber Mino machte sich keine Illusionen darüber, was sie vorhatten. Sie ging davon aus, dass Kroa bereits verletzt war, sonst hätten die Männer ihn gar nicht gefangennehmen können.

      Sie zwang sich, den Blick von dem grausamen Schauspiel zu lösen. Was konnten sie anderes tun, als sich in einen aussichtslosen Kampf zu stürzen, in dem sie alle sterben würden? Keinen Moment zweifelte sie daran, dass es so kommen musste, wenn ihnen nichts anderes einfiel.

      »Wir müssen schnell sein«, flüsterte Jamai. »So schnell wie nie. Das ist unsere einzige Chance.«

      »Was soll ich tun?«, fragte Mino leise.

      »Du lenkst sie ab«, sagte er, und sie konnte sich gut vorstellen, wie schwer es ihm fiel, das vorzuschlagen. »Bring sie dazu, dich zu verfolgen. So viele wie möglich. So weit weg wie möglich. Ich muss da hochklettern, um Kroa loszuschneiden. Ich brauche Zeit.«

      »Die verschaffe ich dir«, versprach sie, ohne irgendeine Ahnung davon zu haben, was sie tun würde.

      Das Bündel, das im Baum hing, wimmerte. Nur ein Laut, doch er fuhr ihr durchs Herz. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat aus der Deckung.

      Die Steine, die Mino immer bei sich trug, fanden wie von selbst den Weg in ihre Hände. Sie sprangen hoch in die Luft und kamen anhänglich zurück zu ihr.

      »He, was will die denn hier?« Der erste Soldat hatte sie bemerkt.

      Sie sagte nichts. Still und geheimnisvoll trat die weißhaarige Frau zwischen die Männer, nichts bei sich als die tanzenden Steine. Drei waren es, nein vier, dann sogar fünf, sie verwirbelten vor den Augen der Zuschauer. Einen Moment lag ein Zauber über ihnen allen, in einer Schneewelt des Schweigens, dann streckte der Erste die Hand nach ihr aus.

      Sie warf. Hart. Schneller, als man zusehen konnte, zielgenau, mit einer Sicherheit, die von innen heraus kam, die nichts zu tun hatte mit der Angst um den Zwerg im Baum und ihrer Wut auf die grausamen Männer. Fünf Steine. Und fünf Soldaten fielen, niedergestreckt. Dann drehte sie sich um und rannte.

      Tausende schienen nach ihr zu greifen, unzählige Arme streckten sich nach ihr aus. Mino tauchte unter ihnen hindurch, stieß einen Soldaten beiseite, huschte gewandt zwischen den zupackenden Händen des nächsten hindurch und verschwand im Wald. Sie drehte sich nicht um, sie zählte nicht, wie viele sie auf ihre Spur gelockt hatte, wie viele sie von Kroa wegführte. Es interessierte sie nicht, wie groß ihre Chance war, ihnen zu entkommen, ohne Vorsprung, ohne sich hier auszukennen, nichts als ein Wild, gehetzt von der Meute. Das Leben, das sie führte, hatte sie gestählt, stark und ausdauernd gemacht und gewiss kam sie nicht so bald außer Atem, aber ihre Verfolger waren kräftige, im Kampf geübte Männer und voller Wut.

      Ihr einziges Heil lag in der Flucht. Sie sprang durch Büsche, unter Ästen hindurch, sprang wie ein Reh, schlug Haken wie ein Kaninchen, und hörte die Feinde doch immer noch hinter sich. Es blieb ihr nichts übrig, als zu rennen, in die Nacht, durch den Schnee. Nicht einmal die Hoffnung war ihr vergönnt, die Soldaten im Schutz der Dunkelheit abschütteln zu können, denn schon zog im Osten der Morgen herauf. Ihre Spuren waren im Schnee deutlich zu erkennen. Die Schnellsten waren so dicht hinter ihr, dass ihr sowieso keine Zeit blieb, sich zu verstecken. Dafür verbarg die dicke weiße Schicht alle Wurzeln, Löcher und Äste, über die man stolpern konnte. Mino strauchelte, rappelte sich nach Atem ringend auf, sah plötzlich auch von der anderen Seite einen Mann auf sich zukommen. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an einen Baumstamm stieß.

      »Nun haben wir dich«, sagte einer, und das Ganze kam ihr vor wie ein Traum, in dem man laufen will, laufen, nur laufen, aber die Füße versinken im Schnee und es gibt kein Entrinnen.

      Sie blickte ihnen entgegen, dann wandte sie sich um und sprang hoch, bis sie den nächsten Ast greifen konnte. Von dort aus zog sie sich weiter nach oben, und schließlich blickte sie keuchend auf die Soldaten hinunter, die sich unter dem Baum versammelt hatten.

      »Die hole ich da runter«, versprach einer, aber ein anderer lachte: »Lass sie. Von da aus kann sie uns nicht entwischen. Ein falscher Schritt und sie rutscht aus und bricht sich das Genick. Bewacht den Baum. Wir kehren zu den anderen zurück.«

      Zu den anderen.


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