Ester. Jean-Daniel Macchi
sie mit dem Motiv der zweiten Versammlung junger Frauen (2,19) und der siebzig Jahre bei Jeremia (8,9) spielten.
F. Kanonisierung, Gebrauch und Rezeption des Werks
1. Ein maßgebliches Buch238
Das Buch Ester ist heute im Judentum und in den verschiedenen Strömungen des Christentums – protestantisch, katholisch und orthodox – kanonisch.
In den hebräischen Bibeln befindet es sich unter den Ketuvim, dem dritten Teil des TaNaKh. Seine Platzierung ist indessen nicht überall gleich. Die älteste Ordnung (b. Baba Bathra 14b–15a) stellt Ester zwischen Daniel und Esra, aber in den kodifizierten Handschriften und gedruckten Bibeln steht Ester immer am Ende der fünf Festrollen, der Megillot.239 In den christlichen Bibeln ist das Buch Ester im Allgemeinen unter den „Geschichtsbüchern“ zu finden, in den protestantischen Bibeln an deren Ende und in den katholischen und orthodoxen Bibeln zwischen Judit und 1 Makkabäer.
Das Judentum liest Ester in der masoretischen Textfassung, wie es auch der Protestantismus tut. Die katholischen und orthodoxen Traditionen hingegen halten an der Langform des Buchs mit den sechs Zusätzen fest.
Der Status des Buchs im biblischen Kanon war das Ergebnis eines komplexen Prozesses. Jüdische Quellen nannten in den ersten Jahrhunderten nur wenige Gründe für seine Aufnahme oder Ablehnung. Vielleicht führte die enge Verbindung des Buches mit dem Purimfest zu seiner Anerkennung. Darüber hinaus könnte seine Darstellung von Juden, die in einer feindlichen Welt triumphieren, zu seiner Rezeption bei Juden, die mit vergleichbaren Situationen konfrontiert waren, beigetragen haben. Aus einer entgegengesetzten Perspektive könnte die Abwesenheit des Namens Gottes und die Tatsache, dass die Helden sich nicht an die Tora zu halten scheinen, eine jüdische Zurückhaltung in Bezug auf dieses Werk erklären.
Im frühen Christentum spielt Ester eine sehr untergeordnete Rolle. Das Motiv des gewaltig über den Antisemitismus triumphierenden Judentums war vielleicht ein Faktor bei seiner schwierigen Rezeption unter Christen. Der Hauptgrund dafür, dass das Buch im christlichen Kanon im vierten Jahrhundert akzeptiert wurde, war offensichtlich die Tatsache, dass es Teil des Kanons der jüdischen Schriften war, den die LXX überlieferte.
1.1. Kanonizität im Judentum
Die Frage des „Kanons“ der hebräischen Bibel ist komplex. Die Umstände, die dazu führten, dass sich eine Reihe von Büchern mit normativer Geltung herauskristallisierte, die zur jüdischen Bibel wurde, sind bislang nicht befriedigend geklärt.240 Wir wissen auch nicht in allen Fällen, welche Bücher kanonisch waren oder warum.241
Vor dem Ende des 1. Jahrhunderts war die Demarkationslinie der heiligen Schriften nicht einheitlich. Für bestimmte Gruppen wie die Samaritaner, die nur die Tora als kanonisch anerkennen, und ebenso für die Sadduzäer242 ist das Buch Ester nicht maßgeblich. Andere messen Ester keine große Bedeutung bei: die Gemeinschaft von Qumran, Philon von Alexandria und das Neue Testament.243
Andererseits zählt ein bedeutender Teil des rabbinischen Judentums seit dem Ende des ersten Jahrhunderts u. Z. das Buch Ester zu den 22 oder 24 maßgeblichen Büchern, auch wenn dies Fragen nach der Autorität oder dem inspirierten Charakter des Buches bis ins vierte Jahrhundert u. Z. nicht ausschließt. Ester gehört vermutlich zu den 22 inspirierten Büchern, die Flavius Josephus erwähnt.244 Rabbinische Traditionen betrachten Ester und Mordechai als Propheten (b. Meg. 14a–b und 15a). Am Ende des ersten Jahrhunderts u. Z. zählt der Autor von 4 Esra (14,37–47) Ester vermutlich zu den 24 heiligen Büchern, die zum öffentlichen Vorlesen bestimmt sind.245 Schließlich ist das Buch Ester in der LXX enthalten, und der hebräische Kanon, den Origenes beschreibt246, enthält 22 Bücher (wie bei Josephus), unter denen Ester ausdrücklich erwähnt wird.
Die rabbinische Literatur – Mischna, Midraschim und Talmud – spricht sich im Großen und Ganzen für den inspirierten und heiligen Charakter des Buchs Ester aus. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts widmet die Mischna einen umfassenden Traktat – Megilla – vor allem den Regeln von Purim, die auf dem Buch Ester basieren. Später rechnet b. Baba Bathra 14b–15a, wo der biblische Kanon erwähnt und kommentiert wird, Ester unter die 24 heiligen Bücher. Allerdings erwähnen einige Passagen im Talmud Diskussionen mancher Rabbinen über den Status des Esterbuchs bis ins fünfte Jahrhundert hinein.247
Eine Frage ist, ob die Ester-Schriftrolle „die Hände unrein macht“, d. h. ob die Schriftrolle ein heiliger Gegenstand ist, dessen Handhabung rituelle Vorkehrungen erfordert.248 Die Mischna spricht sich dafür aus, da Ester unter den im Traktat Jadajim 3,5 angefochtenen Büchern nicht erwähnt wird, und der Traktat Megilla 2,1 darauf besteht, dass das Lesen von Ester aus einem in Schriftform vorliegenden Text erfolgen muss.
Darüber hinaus wird die Einschätzung, dass Ester die Hände unrein macht, vor allem vom Talmud anerkannt.249 Die rituellen Vorschriften, die mit der öffentlichen Lesung der Esterrolle an Purim verbunden sind, implizieren, dass die Esterrollen den Status von heiligen Gegenständen hatten.250 Allerdings deuten zwei Positionen in b. Meg. darauf hin, dass der Heiligkeitsstatus der Esterrolle umstritten war. Megilla 7a gibt eine Bemerkung von R. Samuel wieder, in der er bestreitet, dass Ester „die Hände unrein macht“, ohne jedoch ihre Inspiriertheit infrage zu stellen.251 Sanhedrin 100a berichtet, dass zwei Rabbinen bezweifeln, dass die Esterrolle in ihrer Synagoge eine Hülle brauche, dieser Zweifel jedoch als Verstoß gegen ihre Heiligkeit abgelehnt wird. Die Tatsache, dass das Purimfest, anders als andere jüdische Feste, nicht aus der Zeit des Mose stammt, veranlasst die Rabbinen nicht, die Autorität des Buchs Ester zu verwerfen. Es führte sie vielmehr dahin, die auf Purim bezogenen Gebote mit denen der Tora in Verbindung zu bringen und so für ihre besonders hochrangige Bedeutung zu plädieren.252
1.2. Kanonizität im Christentum
Das antike Christentum entstand vornehmlich im hellenistischen Kontext und verwendet daher in erster Linie die griechische Bibel der LXX als „Altes Testament“. Die LXX enthält die griechische Übersetzung der Bücher der Hebräischen Bibel, aber auch andere Bücher, die in jüdischen Kreisen während der ersten Jahrhunderte zirkulierten, vom rabbinischen Judentum aber letztlich nicht beibehalten wurden.253 Es war lange nicht eindeutig, welche Texte das christliche „Alte Testament“ ausmachen. Zitate oder Anspielungen in der antiken christlichen Literatur beschränken sich nicht auf die Bücher, die in den rabbinischen Schriften als kanonisch gelten.254 Im Christentum wird vom zweiten Jahrhundert an die Frage nach dem Umfang des alttestamentlichen Kanons gestellt, und man unterscheidet zwischen den von Juden akzeptierten Texten und denjenigen, die nur in der LXX erscheinen. Man hält die Schriften der ersten Kategorie für wesentlicher; aber die der zweiten Kategorie, die deuterokanonische Literatur, werden nur selten völlig abgelehnt. In diesem Zusammenhang steht das Buch Ester auf der Grenzlinie. Es gehört zu den „kanonischen“ jüdischen Büchern, was es fest im christlichen Kanon verankern sollte, aber da die Ergänzungen in der LXX den Text stark verändern, konnte die griechische Fassung von Ester als deuterokanonisch wahrgenommen werden.
Jedenfalls wurde das Buch Ester von den Christen vernachlässigt, und sein kanonischer Status war nicht eindeutig. In den ersten drei Jahrhunderten wird Ester sehr selten zitiert.255 Das Buch erscheint nicht in der Liste der kanonischen Bücher des Melito von Sardes, eines Christen des zweiten Jahrhunderts (ca. 170), der wiedergibt, was in einer jüdischen oder judenchristlichen Gemeinde in Palästina zum Inhalt der Bibel gehörte.256 Origenes’ Standpunkt ist nicht eindeutig: In seinem Commentarius in Canticum ist Ester Teil seiner Liste der kanonischen Texte, aber in seinen Homiliae in Numeros 27,1 schreibt er, dass Ester zu jener Literatur gehört, die für Neueinsteiger ins Christentum bestimmt sei.257
Reichlicher fließen die Quellen zum christlichen Kanon ab dem vierten Jahrhundert, als die konstantinischen Gemeinden damit beginnen, biblische Schriften in einem einzigen Codex zusammenzufassen.
Manche Autoren aus dem Osten erkennen Ester nicht an. Das ist etwa der Fall bei Gregor von Nazianz258