Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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Maßnahmen zu greifen (3,6 usw.). Auch wenn das Herrschaftssystem des Reichs für das Unglück der Juden eine wichtige Rolle spielt, ist es Haman, der sich an der Wurzel der dramatischen Ereignisse befindet. Die späten Glossen des MT machen einen Angehörigen des Volks der Amalekiter zum Feind der Juden schlechthin.206

      Die DienerAuch andere Charaktere werden auf ironische und kritische Weise dargestellt. Memuchan ist der betrunkene Urheber einer absurden Rede (1,16–20); die Pagen schlagen ein ausuferndes Verfahren vor (2,2); und die Diener am Tor des Königs setzen Mordechai unter Druck, sich den Gebräuchen anzupassen, bevor sie ihn schließlich denunzieren (3,3–4).

      SereschHamans Frau Seresch unterstützt Haman in seiner verächtlichen Haltung (5,14), bestätigt am Ende jedoch den unausweichlichen Erfolg der Juden (6,13).

      Hegai Hatach HarbonaMehrere Nichtjuden unterstützen die Juden: der Eunuch Hegai (2,9ff.), Esters Dienerinnen, Hatach (4,5.6.9.16) und Harbona (7,9).

      WaschtiEs scheint, dass die Darstellung von Waschti sie auf die Seite der Guten bringt. Wie Mordechai widersetzt sie sich einem königlichen Befehl und wird wie er gerügt.

      Das VolkDie Mehrheit des Volks von Susa wird wohlwollend dargestellt. Sie sind bestürzt, vom Unglück der Juden zu erfahren (3,15b), und freuen sich über den Erfolg von Mordechai (8,15b). Die wahren „Feinde der Juden“ in Susa und im übrigen Reich bleiben im Vergleich zur Bevölkerung des Reichs (800 in Susa [9,12.15] und 75.000 anderswo [9,16]) in der Minderheit. Die überwiegende Mehrheit der Bewohner des Reichs sind keine glühenden Antisemiten. Einige unter ihnen werden sogar Juden (8,17b).

      5.2. Als Juden und Jüdinnen in einem fremden Land leben

      Das Buch Ester gebraucht den Begriff יהודי („Jude“) 58-mal als Bezeichnung für das Volk der beiden Helden.

      5.2.1. Jüdisch sein im Buch Ester

      Im MT ist das Volk von Mordechai eines von mehreren zerstreuten Völkern im Perserreich (3,8.13; 4,3; 8,5.9). Die Zerstreuung der Juden hinderte sie jedoch nicht daran, als eine mit einem geografischen Ort verbundene ethnische Gruppe angesehen zu werden.

      Jude – JudäerDer hebräische Begriff יהודי kann als „Jude“ oder als Bürger von Judäa, „Judäer“, übersetzt werden. Die Verbindung mit dem Königreich Juda wird in 2,6 ausdrücklich erwähnt, wonach Mordechai ein Nachkomme deportierter Judäer ist.

      VolkDarüber hinaus aber sind die Juden durch eine gemeinsame Herkunft verbunden: Sie sind ein עם („Volk“; vgl. 2,10; 3,6.8; 10,3) und ein זרע („Geschlecht“; vgl. 6,13; 9,27.28.31; 10,3). Das hindert Nichtjuden nicht daran, sich ihnen anzuschließen: מתיהדים („und viele aus den Völkern des Landes judaisierten sich“; vgl. 8,17). Und „alle, die sich ihnen anschlossen“ (הנלוים) – die Übergetretenen – beteiligten sich an den Ritualen von Purim (9,27).

      RechtssystemNicht zuletzt ist es ein eigenes Rechtssystem, das mit dem Judentum in Verbindung gebracht wird: „Ihre Gesetze unterscheiden sich von denen aller anderen Völker“ (3,8). Obwohl das Buch Ester weder den Sabbat, die Beschneidung, die Anbetung von JHWH noch die Kaschrut erwähnt, deuten einige Elemente des Buchs auf jüdische Gesetze hin. Als Jude gehorcht Mordechai dem Verbot der Niederwerfung (3,2.4), und auch die Riten von Purim sind spezifisch jüdisch (9,20–23.27–28). Und der MT spielt auf die Riten von Pessach an, indem er mit seiner chronologischen Ordnung die Ereignisse der Kapitel 3–8 in jene Zeit legt, in der Pessach gefeiert wird.

      EthnosJüdisch zu sein entspricht nach dem Buch Ester dem, was man in der griechischen Zeit als Ethnos bezeichnet: eine ethnische Gruppe, die mit einem Territorium verbunden ist und sich durch Bräuche auszeichnet, durch bestimmte Regeln, die mit gesellschaftlichen Beziehungen und der Religion in Zusammenhang stehen. Wenn sie sich außerhalb ihres Gebiets niederlassen, gelten die Angehörigen eines Ethnos weiterhin als Teil ihrer heimischen ethnischen Gruppe. Darüber hinaus können Einzelpersonen sich aber auch freiwillig dieser Gruppe anschließen.207

      5.2.2. Die eigene Identität verbergen oder enthüllen

      Zu Beginn der Erzählung hebt der MT hervor, dass Ester und Mordechai ihre Identität verstecken. Bei zwei Gelegenheiten hatte Mordechai Ester angewiesen, ihre Identität nicht offen zu zeigen (2,10.20). Dieser Hinweis, der von der protomasoretischen Redaktion stammt, deutet an, dass es gefährlich sein kann, sich in einem fremden Reich als Jude zu bezeichnen oder seine ethnische Zugehörigkeit bekannt zu machen. Deshalb kann es zu Beginn der Erzählung klug erscheinen, seine Identität zu verbergen, um die eigene Sicherheit und das Auskommen nicht zu gefährden. Als das Werk redigiert wurde, entsprach dies der Haltung jüdischer Gruppen, die versucht waren, sich der Hellenisierung anzuschließen.

      Auch wenn es wirklich riskant war, zeigt das Verhalten der jüdischen Helden im Rest der Erzählung, dass es in den Augen der Redaktoren auf die Dauer nicht haltbar ist, seine jüdische Identität zu verbergen. Mordechai weigert sich, sich niederzuwerfen und gibt den Dienern des Königs sein Jüdischsein preis (3,4). Und als der Erlass zum Massaker an den Juden verkündet ist, fordert er Ester auf, sich für ihr Volk einzusetzen (Kap. 4), was dazu führt, dass sie dem König enthüllt, welchem Volk sie angehört (7,4). In den letzten Kapiteln schließen sich alle Juden zusammen, führen ein Fest zur Feier ihres Sieges ein, und ihr Ansehen weckt überall Respekt (8,17). Ihre Identität bleibt nicht mehr im Verborgenen.

      5.2.3. Mordechai: Die Ablehnung von Normen des Imperiums208

      Die erste Strategie des Widerstands gegen die imperiale Herrschaft wird von Mordechai entwickelt. Er lehnt es ab, den inakzeptablen Anweisungen einer fremden Macht Folge zu leisten. Aufgrund seiner jüdischen Identität weist es Mordechai zurück, sich vor dem höchsten Minister niederzuwerfen (3,2–4). Die Weigerung, sich vor einem Menschen niederzuwerfen, ist eigentlich ein Kennzeichen der traditionellen griechischen Kultur. Sie wird in Ester aber als etwas typisch Jüdisches dargestellt.209 Aus der Perspektive der Redaktoren verweigert Mordechai die Niederwerfung aus den gleichen Gründen, wie die Gläubigen in den Büchern der Makkabäer es ablehnen, wegen der Bestimmungen des hellenistischen Imperiums ihre traditionellen Lebensgewohnheiten aufzugeben (2 Makk 6–7 usw.).

      In der Erzählung ruft diese legitime Ablehnung furchtbare Unterdrückung hervor. In der Konfrontation mit einer Macht, die ethnische Unterschiede nicht respektiert und gewaltsam unterdrückt, ist es notwendig, die eigene Identität zu bekräftigen und die Anpassung an Praktiken zu verweigern, die mit der jüdischen Kultur unvereinbar sind. Diese Weigerung führt jedoch dazu, dass das gesamte jüdische Volk von der Unterdrückungsmaschinerie des Imperiums mit der Vernichtung bedroht wird.

      5.2.4. Ester: Handeln mit Charme, Courage und List

      Ester enthüllt ihre Identität und setzt sich auf andere Weise als Mordechai für ihr Volk ein.

      Ester ist der Darstellung nach eine Schönheit und besitzt die Gabe, die Gunst ihrer Mitmenschen zu gewinnen (2,7.8.15.17). Ihr Auftreten vor dem König geht jedoch weit über den bloßen Einsatz weiblicher Reize hinaus.210 Nachdem sie sich entschlossen hat, ihr Leben zu riskieren (4,16), handelt sie unabhängig und wird zur Herrin ihres Schicksals. Anders als bei ihrem früheren Vorgehen (2,10.15.20) nimmt sie keine Anordnungen von den Männern in ihrer Umgebung mehr entgegen. Ihre Handlungsweise wird zugleich originell, unerwartet und scharfsinnig. Mittels einer List erreicht sie eine günstige Entscheidung des Königs. Als Ester ungebeten vor dem König erscheint und ihn zu einem Gastmahl einlädt (5,1–8), tut sie genau das Gegenteil von dem, was Waschti getan hat, als diese sich weigerte, zum Festmahl des Königs zu kommen. Sie kehrt sozusagen die Demütigung um, die der König durch Waschti erlitten hat. Ester ist klug und beherrscht die sozialen Codes am Hof. Das Gastmahl ist ein Ort theatralischer Machtkämpfe und Entscheidungen. Als sie den König einlädt, bringt sie sich in eine gute Position, ihn um einen Gefallen zu bitten. Mehr noch: Als sie den König (und Haman) ein zweites Mal einlädt (5,4–6.8), anstatt ihre Bitte sofort


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