Ester. Jean-Daniel Macchi
der dortigen Diasporajuden. Mehrere Motive erscheinen sowohl bei Ester als auch bei Daniel180: Die Helden begleiten den König von Juda bei der Deportation (Dan 1,2ff.; Est 2,5–6); die Juden tragen Doppelnamen (Dan 1,7; Est 2,7); סריס („Eunuchen“) treten auf (Dan 1); die Helden gewinnen die Anerkennung von Nichtjuden (Dan 1,9; Est 2,9.15.17; 5,2); die persischen Könige bestimmen über die Tagesrationen (Dan 1,5ff.; Est 2,9); die Trunkenheit des Königs kann sich katastrophal auswirken (Dan 5,1–2; Est 1,10–11); der König verleiht einem jüdischen Höfling einen hohen Rang (Dan 2,48; 5,29; Est 6,8–11; 8,2.15; 10,3); Nichtjuden erkennen den Vorrang der Juden an (Dan 2,46–47; 3,28–33; Est 6,13); Juden verweigern die Niederwerfung (Dan 3; Est 3,2ff.)181; und der Held „sitzt am Tor des Königs“ (Dan 2,49; Est 2,19.21 usw.).
Die Episode in der Löwengrube (Daniel 6) weist wichtige Ähnlichkeiten mit dem Buch Ester auf: Eine jüdische Figur mit hohem Status (Daniel – Mordechai) wird von einem oder mehreren hochrangigen persischen Funktionären (Ministern und Satrapen – Haman) in Gefahr gebracht; der König wird dazu gebracht, eine Anordnung zu erlassen, die er nicht widerrufen kann; den Juden wird vorgeworfen, persische Gesetze missachtet zu haben; die Anordnung in Daniel 6 befiehlt die alleinige Verehrung des Königs – eine unannehmbare Verpflichtung für einen Juden, wie es auch die Niederwerfung vor Haman ist. Die Feinde der Juden werden schließlich getötet. Auch wenn das Buch Daniel auf Aramäisch abgefasst ist, tauchen in Daniel 6 Begriffe und Ausdrücke auf, die nahe am MT von Ester sind; die Unwiderruflichkeit der persischen Gesetze wird in ähnlicher Weise zum Ausdruck gebracht (Est 1,19; 8,8; Dan 6,9.13.16)182; der Ausdruck „die Gesetze der Perser und Meder“ ist in Dan 6,9.13.16 und in Est 1,19 ähnlich; und die Wendung „der Schlaf floh den König“ findet sich in Dan 6,19 und Est 6,1 in ähnlicher Form.183 Des Weiteren fastet – wie Ester und die Juden (Est 4,16) – auch Dareios (Dan 6,19), während er auf die Auflösung der Geschichte wartet.
Gleichwohl weist die Erzählung von Daniel 6 auch signifikante Unterschiede zu Ester auf. Das Übernatürliche ist explizit vorhanden, als Gott Daniel rettet. Der König wird in Daniel wohlwollender dargestellt: Von Anfang an ist er Daniel gegenüber freundlich gesinnt, bekehrt sich schließlich und verordnet die Gottesfurcht seinem ganzen Königreich (Dan 6,27–28). Darüber hinaus befasst sich Daniel 6 mit dem Thema jüdischer religiöser Praktiken (Dan 6,11), das in Ester weniger explizit vorkommt.
Auch wenn die Verbindungen zwischen Ester und Daniel weniger auffällig sind als die zur Josefsgeschichte184, ist es wahrscheinlich, dass Daniel den Autoren von Ester bekannt war. Die protomasoretischen Redaktoren scheinen davon inspiriert zu sein, als sie die Unwiderruflichkeit der persischen Gesetze und Esters Fasten behandeln.
4.5. Das Buch Ester und die Bücher der Makkabäer und Judit
Esters Bezüge zur makkabäischen Literatur werden oft vernachlässigt.185
1/2 MakkabäerDie Erzählungen des Ersten und Zweiten Buchs der Makkabäer, die die Unterdrückung und den Widerstand der Juden zum Thema haben, weisen zahlreiche Parallelen zum Buch Ester auf.
Bei Ester wie bei 1/2 Makkabäer leiden die Juden unter vergleichbaren Angriffen. Wie in Est 3,8–9 geht es auch beim makkabäischen Konflikt um eine Reichsgesetzgebung, die die jüdischen Gebräuche ablehnt (1 Makk 1,41–64; 2 Makk 6,1–11 usw.) und darauf zielt, alle Juden zu vernichten (1 Makk 7,26; 2 Makk 8,9). Darüber hinaus ist es nach 2 Makk 6,6 verboten, „sich zu seinem Judentum zu bekennen“ – ein Motiv, das der Gefahr, sich als jüdisch zu erkennen zu geben, wie sie Est 2,10.20MT andeutet, nahe verwandt ist.
Der Konflikt zwischen den Juden und ihren Feinden in Est 9,1–19 weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit der Beschreibung der makkabäischen Schlachten auf, insbesondere mit der des Nikanor-Tags (1 Makk 7,39–50; 2 Makk 15).186 Die Juden werden angegriffen, siegen aber, nachdem sie viele ihrer Feinde ums Leben gebracht haben (2 Makk 15,27; Est 9,16), am 13. Adar (1 Makk 7,43.49; 2 Makk 15,36). Die Leichen von Nikanor und Haman werden zur Schau gestellt (2 Makk 15,32–35; Est 7,10). Das Thema der Beute spielt in Ester eine so wichtige Rolle wie in den Kriegen der Makkabäer (Est 9,10.15.16; 1 Makk 3,12; 4,18 usw. sowie 2 Makk 8,27–28). Darüber hinaus wird die Vorstellung, Juden in die Sklaverei zu verkaufen, um die Staatskasse zu füllen, sowohl Nikanor als auch Haman zugeschrieben (2 Makk 8,10; Est 7,4). Und wie Judas Makkabaios in 1 Makk 3,25 erweckt Mordechai Angst in Est 9,3. Was das massive „Judaisieren“ in Est 8,17 angeht, so kann sie als Umkehrung der „Entjudaisierung“, von der die Bücher der Makkabäer sprechen, angesehen werden. Auffällig ist die Parallele zwischen der Einführung der Feste und Gedenktage. Die Ereignisse von Purim und dem Nikanor-Tag feiern die Leute schon, bevor eine offizielle Entscheidung das Gedenken festlegt (Est 9,23.27; 1 Makk 7,48–49; 2 Makk 15,36). Bei Chanukka wie bei Purim (Est 9,20–21) erfolgt die Einsetzung durch einen an alle Juden gerichteten Erlass (vgl. 2 Makk 10,8 und die beiden Festbriefe, die das zweite Makkabäerbuch eröffnen).
Verweise und Anspielungen auf 1/2 Makkabäer finden sich nur in den Abschnitten, die der protomasoretischen Redaktion von Ester zugerechnet werden (insbesondere Kap. 9). Sie legen den Schluss nahe, dass die protomasoretischen Redaktoren eine Erzählung von der makkabäischen Krise kannten, auch wenn wir nicht wissen, über welchen Text der Makkabäerbücher sie verfügten.187
3 MakkabäerDas 3. Buch der Makkabäer erinnert an die Zeit von Ptolemaios IV. Philopator (220–205 v. u. Z.). Es erzählt von dem gescheiterten Versuch eines Pogroms gegen die Juden von Alexandria.188 Diese Erzählung weist ebenfalls einige Ähnlichkeiten mit dem Esterbuch auf.189 Die Zusätze verstärken die Nähe der beiden Texte zueinander noch. Gebete stacheln zur Rettung an (Est, Zus. C; 3 Makk 2,2–20; 6,2–15), und zwei königliche Erlasse werden ebenfalls zitiert (Est, Zus. B und E; 3 Makk 3,12–29 und 7,1–9). Es ist aber unwahrscheinlich, dass der MT von Ester von 3 Makkabäer abhängig ist.190 Dagegen legen die Ähnlichkeiten zwischen den Zusätzen B und E von Ester und den königlichen Erlassen von 3 Makkabäer eine direkte Abhängigkeit nahe.191
JuditWie Ester handelt das Buch Judit von einer jüdischen Heldin, die die Juden rettet, indem sie bei einem Gastmahl im fremden Land eingreift (Jdt 12,10–13,10) und einen militärischen Konflikt auslöst (Jdt 13,11–15,7). Judits Auftreten vor Holofernes ähnelt den Zusätzen C und D.192 Vor ihrem Eintreffen trägt sie Sackleinen, fastet (8,6; 9,1) und betet, gebraucht Argumente, die denen von Zusatz C vergleichbar sind (bes. Jdt 9,8–14). Sie zieht sich um und legt herrliche Gewänder an (Jdt 10,1–5; Est, Zusatz D,1–5). Die Erzählung von ihrer Begegnung mit Holofernes (Jdt 10,22–11,4) ist aufgebaut wie Esters Auftreten vor dem König in D,6–16. Schließlich spielen, wie in Zusatz C,28, Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme eine wichtige Rolle im Buch Judit.193
4.6. Fazit
Die Redaktoren von Ester, vor allem jene, die für die protomasoretischen „Extras“ des Werks verantwortlich sind, sind ausgezeichnete Kenner der biblischen Kultur. Auf ihr Konto gehen zahlreiche Anspielungen und Verweise auf biblische Werke.194 Wenn sie Esters Schicksal behandeln, beziehen sie sich auf weibliche Figuren, die mit den Königen aus der Gründungszeit Israels verbunden sind. Wenn sie vom Leben in der Diaspora sprechen, spielen sie auf andere Diaspora-Erzählungen an, zum Beispiel auf die von Josef und Daniel. Wenn sie die Rettung des Volkes thematisieren, beziehen sie sich auf den Exodus. Und wenn sie schließlich von einem bewaffneten Konflikt sprechen, ziehen sie das Beispiel des makkabäischen Konflikts heran.
5. Themen
Im MT von Ester kommen mehrere Themen zur Sprache. Diese helfen, die Perspektive der protomasoretischen Redaktoren besser zu verstehen, die, wie die diachrone Analyse zeigt, den Inhalt und die Form des MT stark beeinflusst haben.
5.1. Der Blick auf das Reich und das Verhältnis dazu
Die Ester-Erzählung kann gelesen werden als Reflexion über die gesellschaftspolitischen Bedingungen, denen Juden in einem fremden Reich ausgesetzt sind, und über die wünschenswerten Maßnahmen, die sie ergreifen sollten. In Wirklichkeit