Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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in Mesopotamien (2 Könige 25, Ez 1; 24; 33; Jer 24–29 usw.) und in Ägypten (Jer 40–44). Archäologische Funde aus der Ära der Achämeniden haben dies bestätigt.111 Seit der hellenistischen Zeit erreichten die jüdischen Diasporagemeinden eine präzedenzlose Zahl und Größe112 und wuchsen während der Römerzeit weiter.113

      Nach der Eroberung des Achämenidenreichs durch Alexander den Großen wurde die hellenistische Herrschaft im gesamten Mittelmeerraum, im Nahen und Mittleren Osten etabliert. Nach Alexanders Tod wurden konkurrierende Königreiche gegründet. Judäa und im weiteren Sinne die südliche Levante fielen ab 320/301 v. u. Z. unter die Verwaltung der ägyptischen Lagiden, die bis 200 v. u. Z. die Kontrolle behielten. Im Verlauf des Fünften Syrischen Kriegs nahm Antiochos III. Judäa in Besitz, das dann in die Hände der Seleukiden überging, die Syrien und Teile von Kleinasien und Mesopotamien kontrollierten.114 Während der lagidischen und zu Beginn der seleukidischen Herrschaft löste die hellenistische Verwaltung von Judäa keine größeren Spannungen aus.

      In dieser Zeit entwickelten sich jüdische Diasporagemeinden in Ägypten – vor allem in Alexandria, wo eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden außerhalb Judäas entstand –, in der Kyrenaika, in Syrien – insbesondere in Antiochia und Damaskus – und in Kleinasien.115

      Die Juden in den großen städtischen Zentren neigten dazu, sich in die hellenistische Kultur zu integrieren. Griechische Sprachkenntnisse waren unverzichtbar, und es kam zum Dialog zwischen hellenistischer und jüdischer Kultur. Viele Juden nahmen am sozialen und politischen Leben der Städte teil. Dennoch führte der Prozess der Integration nicht zu einer vollständigen Assimilation. Die Juden wurden nicht gezielt zu „Bürgern“ der Stadt, in der sie lebten, sondern blieben meist als ethnisch-religiöse Gruppen erkennbar. Manchmal kam es zu Spannungen mit anderen Gruppen, und ein polemischer Diskurs mit Blick auf die Juden, insbesondere im lagidischen Ägypten, zeichnete sich ab.116

      2.7.2. Synthese

      Proto-Ester als Produkt der alexandrinischen DiasporaWahrscheinlich entstand Proto-Ester während der lagidischen Herrschaft zwischen der Mitte des dritten und dem Beginn des zweiten Jahrhunderts v. u. Z. in der jüdischen Gemeinde von Alexandria.117 Anzeichen im Text deuten darauf hin, dass er in einer hellenistisch geprägten jüdischen Diaspora vor der makkabäischen Krise abgefasst wurde. Das macht Alexandria als Ort wahrscheinlich. Im alexandrinischen Judentum war der Hellenismus tief eingewurzelt. Zugleich ist es der Ort, an dem während der Lagiden-Herrschaft polemische Reden über den jüdischen Partikularismus aufkamen. Darüber hinaus wurde in Ägypten das Dritte Makkabäerbuch geschrieben, ein Text, dessen Themen denen von Ester sehr ähnlich sind.

      2.8. Der Entstehungskontext der protomasoretischen Version von Ester

      Die protomasoretischen Redakteure überarbeiteten und ergänzten Proto-Ester über weite Strecken und schufen auf diese Weise eine Textfassung, die dem MT sehr nahekam.118 Die protomasoretischen Überarbeitungen zeichnen ein viel schärferes und stärker ironisches Bild des Perserreichs. Dieses erscheint als zutiefst funktionsgestört. Nach dem überarbeiteten Text ist die Rettung der Juden nicht sicher, wenn man sich nur auf die Institutionen des Reichs verlässt. Es ist für Juden nutzlos, ihre Identität zu verbergen. Und die Nähe zum König zu suchen, um klug agieren zu können, ist noch keine Garantie für die Rettung der Juden. Die Hinzufügung der Kapitel 8 und 9 legt nahe, dass in einem derart dysfunktionalen Reich im Griff zu den Waffen die einzige Chance für das Überleben der Juden liegt.

      Wo Juden in einem fremden Reich in Frieden leben, sind solche Überlegungen sinnlos, und in einem Diasporakontext wären sie selbstmörderisch. Sie setzen einen radikalen Vertrauensbruch in Bezug auf die herrschaftlichen Institutionen voraus, und das war in der jüdischen Geschichte während der Makkabäerkrise der Fall. Die Ähnlichkeiten zwischen den Themen der protomasoretischen Redaktion und denen der makkabäischen Literatur sind auffällig. Der in Ester 9 beschriebene Konflikt erinnert besonders an den Sieg von Judas Makkabaios über Nikanor.119

      Es ist daher wahrscheinlich, dass der Text von Proto-Ester, der zuerst in der Diaspora vorgetragen wurde, von Redaktoren umgearbeitet wurde, die während der makkabäisch-hasmonäischen Ära in Judäa lebten.

      2.8.1. Judäa in der makkabäisch-hasmonäischen Zeit120

      Judäa befand sich während des gesamten dritten Jahrhunderts unter der Herrschaft der ägyptischen Lagiden, aber um 200 v. u. Z. ging es in die Hände des seleukidischen Herrschers Antiochos III. über. Die syrische Herrschaft der Seleukiden ließ vor dem Ende der Regierungszeit von Seleukos IV. (187–175) keine nennenswerten Spannungen entstehen. Dem Volk von Judäa, das sich um den Tempel von Jerusalem herum konstituierte, ging es allem Anschein nach unter den Seleukiden weiterhin gut, denn es verfügte über eine gewisse Autonomie, genoss den Schutz seines Kults und seiner Priesterschaft, die Möglichkeit der Observanz seines eigenen Gesetzes und eine maßvolle Besteuerung.121

      Unter Antiochos IV. (175–164) entwickelte sich in Judäa jedoch eine explosive Atmosphäre, die zum Makkabäeraufstand führte.

      Die Ursachen für die Spannungen waren vielfältig. Es kam zu Konflikten um die Nachfolge des Hohenpriesters. Finanzielle Schwierigkeiten der Seleukiden, die jetzt Schuldner Roms waren, veranlassten sie, die Abgaben auf die Tempelkasse zu erhöhen. Darüber hinaus gewann in der judäischen Gesellschaft, die jetzt multikulturell war, der Hellenismus stärkeren Einfluss auf die gesellschaftlichen und kulturellen Gepflogenheiten122 und führte zu schwerwiegenden Spaltungen. Jüdische Angehörige der gesellschaftlichen Elite, auch Priester, öffneten sich dem Hellenismus und riefen damit den entschiedenen Widerstand traditionellerer Gruppen hervor.

      Zwischen 168 und 167 v. u. Z. erließ Antiochos IV. eine Reihe repressiver Maßnahmen. Er ließ in Jerusalem eine Festung bauen (Akra) und eine Garnison errichten (1 Makk 1,29–40). Mit der Unterstützung lokaler Eliten wurde der Jerusalemer Kult hellenisiert, und traditionelle jüdische Riten wie die Beschneidung und die Observanz des Sabbats wurden verboten (1 Makk 1,41–64; 2 Makk 6,1–11).

      Unter der Führung der Makkabäer, einer Familie aus Modeïn, die zu den Begründern der Hasmonäer-Dynastie werden sollten, führte ein Aufstand im Jahr 164 zu einem ersten Sieg. Der Tempel wurde erneut geweiht und der traditionelle Kult wieder eingesetzt. An dieses Ereignis erinnert das Chanukka-Fest (1 Makk 4,36–59; 2 Makk 10,1–8).

      Die Spannungen ließen jedoch nicht nach. Im Jahr 161 errang Judas Makkabaios einen weiteren Sieg über die seleukidischen Truppen, die von General Nikanor angeführt worden waren. Nikanor starb in der Schlacht, und sein Kopf wurde in Jerusalem ausgestellt (1 Makk 7,39–50; 2 Makk 15,17–36). Die Kämpfe aber gingen weiter, und kurz darauf verlor Judas Makkabaios sein Leben bei der Niederlage gegen die von Bakchides angeführte seleukidische Armee (1 Makk 9,1–57). Dennoch nahm der Sieg von 161 einen zentralen Platz in der Erinnerung an die Makkabäerzeit ein. Er wurde lange Zeit am 13. Adar als „Nikanor-Tag“ gefeiert.

      Jonatan Makkabaios (160–143) wurde der Nachfolger seines Bruders Judas. Nach seinem Sieg über Bakchides im Jahr 157 kam es zu einer Periode relativer Ruhe. 152 wurde Jonatan zum Hohenpriester ernannt (1 Makk 10, bes. V. 21). Mit dieser Ernennung zum Priester erkannten die Seleukiden die Macht der Hasmonäer in Judäa an. Das rief aber Spannungen mit mehreren jüdischen Gruppen hervor, u. a. mit der Qumran-Gemeinschaft, mit bestimmten Priestergruppen und mit den Chassidim. In der Zeit, als Jonatan Judäa verwaltete, vergrößerte er die Gebiete unter seiner Kontrolle, insbesondere in der Küstenebene und in Samaria. Simeon Makkabaios (143–134), Jonatans Nachfolger, erweiterte seine Macht in Judäa. Er erreichte den Abzug der Garnison von der Jerusalemer Burg (1 Makk 13,49–53). Nach 1 Makk 14,25–49 gewährte ein Dekret der großen jüdischen Versammlung den Hasmonäern die Hohepriesterwürde.

      Simeon folgte sein Sohn Johannes Hyrkan (134–104). Hyrkan profitierte von der Schwächung der Seleukiden und der Unterstützung Roms und betrieb eine Politik der Unabhängigkeit. Die Hasmonäer begannen, eigene Münzen zu prägen.123 Hyrkan führte mehrere Feldzüge


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