Ester. Jean-Daniel Macchi
priori für eine Tochterversion der LXX gehalten wird.
Haelewyck74 stellt diese Auffassung infrage. Nach seiner Hypothese ist die VL die Übersetzung eines (verlorengegangenen) griechischen Texts, der sowohl der LXX als auch dem A.-T. vorausging. Er nennt diesen Text La-griechisch III. Ihm zufolge wäre La-griechisch III die Erweiterung eines hebräischen Texts, der dem MT ähnlich ist. Dieser Text wäre durch die Streichung des Schlusses über das Massaker an den Feinden der Juden und durch die Einbeziehung der Zusätze abgeändert worden. Haelewycks Argument baut auf der Beobachtung auf, dass der Text der Vetus Latina logischer und kohärenter ist als der der LXX und des A.-T., und dass die Zusätze harmonischer integriert sind.75 Ihm zufolge wäre die LXX eine Erweiterung von La-griechisch III, die jedoch überarbeitet worden wäre, um besser mit dem MT übereinzustimmen. Die Wiederaufnahme der Erzählung vom Massaker an den Feinden der Juden hätte aber einige Spannungen hervorgerufen, die in der LXX zu spüren sind.
Diese These weist mehrere Schwierigkeiten auf: Die Existenz einer griechischen Vorlage der VL, die sich von der LXX unterscheidet, bleibt hypothetisch; die Spannungen in der LXX zwischen der Haupterzählung und den Zusätzen sind geringfügig und können durch die umständliche Integration von Zusätzen erklärt werden, die ursprünglich unabhängig waren; und schließlich erklärt eine Vorlage der VL, die den anderen Texten vorausginge, die Besonderheiten des A.-T. in der gemeinsamen Erzählung nicht.76
Demzufolge ist es immer noch wahrscheinlicher, dass der Übersetzer der Vetus Latina mit einem Text arbeitete, der nahe an der LXX war. Den Abschnitt in Kapitel 9, der vom Massaker an den Feinden der Juden erzählt, dürfte er gestrichen haben, um die Rachevorstellungen aus dem Werk zu entfernen und damit Nichtjuden keinen Anlass zur Feindseligkeit zu geben.77 Dieser Übersetzer hätte die Zusätze A1, B, und E verändert und das Datum vom 13. auf den 14. Adar korrigiert, damit es besser zum neuen Schluss des Buchs passte. Dubletten wären getilgt worden, vor allem A2, um den Text flüssiger lesbar zu machen.
4. Synthese und der hier vertretene Ansatz
4.1. Von Proto-Ester zum masoretischen Text78
Es erscheint allzu spekulativ, Quellen oder unabhängige Traditionen zu rekonstruieren, die zusammengefügt worden wären, um die Grundlage der Erzählung zu bilden, die wir kennen. Die älteste Fassung der Ester-Erzählung, die rekonstruiert werden kann, enthält die folgenden Handlungselemente: den Fall der Königin Waschti, den Aufstieg Esters, gefolgt von den Auseinandersetzungen, die von ihr und Mordechai geführt wurden, um ihr Volk vor der Bedrohung durch Haman zu retten. Wir werden diese älteste Form der Ester-Erzählung von nun an „Proto-Ester“ nennen. Auch wenn wir kein hebräisches Textzeugnis von Proto-Ester besitzen, ist eine griechische Übersetzung dieses Texts in den ältesten Teilen des Alpha-Texts auszumachen, nämlich im A.-T. ohne die sechs Zusätze und ohne den Schluss, der das Massaker an den Feinden der Juden und die Einführung von Erinnerungsfesten erwähnt. Proto-Ester entspricht der hebräischen Vorlage von V. 1,1–21; 2,1–18; 3,1–13.15; 4,1–4.6-12; 5,1–279.13–24; 6,1–23; 7,1–16.21bβ.33b.34a des A.-T.
Die hebräische Proto-Ester enthält in den meisten Fällen unvokalisierte Konsonantensätze, die man auch noch im MT ausmachen kann. Jedoch ist Proto-Ester viel kürzer als der MT (ungefähr halb so lang), denn um jene Textfassung von Ester zu erhalten, die dann zum MT wurde, wurde der Text von Redaktoren überarbeitet und ergänzt. Die Arbeit dieser „protomasoretischen Redaktoren“ dürfte in der Hauptsache darin bestanden haben, Proto-Ester eine ganze Reihe von „Extras“ hinzuzufügen. Diese „Extras“ setzen sich aus zahlreichen einzelnen Glossen zusammen, die in den gesamten Text eingefügt wurden, sowie aus redaktionellen Abschnitten, die von einigen Versen bis zu mehreren Kapiteln reichen. Die längsten „Extras“, die von den protomasoretischen Redaktoren eingefügt wurden, betreffen den Inhalt des MT von 1,17–18.22; 2,10–16.19–23; 3,12–14; 4,5–8a; 5,9.11; 7,7 und praktisch die ganzen Kapitel 8–10.80 Seltener haben protomasoretische Redaktoren Elemente von Proto-Ester weggelassen. Die wichtigsten Auslassungen von Proto-Ester aus theologischen Gründen sind die Verse 5,23a; 6,4–6a.13–18; 7,2.4b–7.14.
Die Identifizierung zahlreicher „Extras“ (wie auch einiger „Leerstellen“), die die protomasoretischen Redaktoren dem Text von Proto-Ester hinzufügten, erlauben uns zu unterscheiden, was zum ursprünglichen Rahmen der Erzählung gehört hat und was die Redaktoren eingeführt haben. So können wir die protomasoretische Redaktion, ihre literarischen Techniken, ihre Schwerpunktsetzung und die herausgearbeiteten Themen besser verstehen.
4.1.1. Die Rekonstruktion von Proto-Ester und die Identifizierung der protomasoretischen redaktionellen Abschnitte
Ein Vergleich der Kapitel 1–7 von A.-T. und MT ermöglicht die Rekonstruktion der hebräischen Inhalte von Proto-Ester und die Identifizierung der Abschnitte, die die protomasoretische Redaktion zu verantworten hat. In den meisten Fällen kann der griechische A.-T. als Übersetzung einer hebräischen Quelle verstanden werden, die – bis auf das Fehlen einiger „Extras“ – dem konsonantischen Inhalt des MT entspricht. Proto-Ester entspricht somit den Abschnitten des MT, von denen der A.-T. die Übersetzung zu sein scheint, während der von den protomasoretischen Redaktoren eingefügte Inhalt den im MT vorhandenen „Extras“ entspricht, welcher jedoch nicht im A.-T. enthalten ist. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.
Ester 1,4Der griechische Vers des A.-T. εἰς τὸ ἐπιδειχθῆναι τὸν πλοῦτον τῆς δόξης τοῦ βασιλέως καὶ τὴν τιμὴν τῆς καυχήσεως αὐτοῦ ἐπὶ ὀγδοήκοντα καὶ ἑκατὸν ἡμέρας (= sodass des Königs herrlicher Reichtum und die Ehre seiner Verherrlichung gezeigt werden konnten für die Dauer von 180 Tagen) ist eine Übersetzung aus dem hebräischen Proto-Ester-Text: בהראתו את־עשׁר כבוד מלכותו ואת־יקר תפארת שׁמונים ומאת יום (= Er stellte den herrlichen Reichtum seines Königreiches und die glänzende Pracht 180 Tage zur Schau), ein Satz, der dem masoretischen Konsonantentext dieses Verses entspricht, allerdings ohne die Worte גדולתו ימים רבים (= seiner Hoheit für viele Tage). Folglich stammt der MT von Ester 1,4 בהראתו את־עשׁר כבוד מלכותו ואת־יקר תפארת גדולתו ימים רבים שׁמונים ומאת יום, der hier übersetzt wurde als „Er stellte den herrlichen Reichtum seines Königreiches und die glänzende Pracht seiner Hoheit für viele Tage, 180 Tage, zur Schau“, aus der Wiederaufnahme der hebräischen Proto-Ester, von den protomasoretischen Redaktoren ergänzt um die Erwähnung von „seiner Hoheit“ und später mit der Glosse „für viele Tage“ versehen, was in der LXX fehlt. Zuletzt sollten wir daran denken, dass der Text im Mittelalter vokalisiert wurde.
Ester 2,18Der griechische Vers des A.-T. καὶ ἤγαγεν ὁ βασιλεὺς τὸν γάμον τῆς Εσθηρ ἐπιφανῶς καὶ ἐποίησεν ἀφέσεις πάσαις ταῖς χώραις (= und der König feierte Esters Hochzeit auf prachtvolle Weise, und er gewährte allen Provinzen eine Amnestie) kann eine Übersetzung aus dem hebräischen Proto-Ester-Text sein: ויעשׂ המלך משׁתה גדול לאסתר והנחה למדינות עשׂה (= Der König hielt ein großes Festmahl für Ester, und er gewährte den Provinzen eine Amnestie). Diese Übersetzung ist eine etwas freie Wiedergabe, denn sie interpretiert „Esters Festmahl“ als eine „Hochzeit“. Der Satz entspricht dem masoretischen Konsonantentext dieses Verses, jedoch ohne die unterstrichenen Hinzufügungen: ויעשׂ המלך משׁתה גדול לכל־שׂריו ועבדיו את משׁתה אסתר והנחה למדינות עשׂה ויתן משׂאת כיד המלך (= Der König hielt ein großes Festmahl für alle seine Fürsten und Diener, Esters Festmahl. Er gewährte den Provinzen eine Amnestie und bewilligte eine Schenkung, wie es sich für den König