Ester. Jean-Daniel Macchi
5,1–2
In 1,1–3,13 + 3,19–4,12 + 5,13–7,14 korrespondiert A.-T. recht gut mit der masoretischen Erzählung von 1,1–7,10 und mit ihrer Übersetzung in LXX (1,1–3,13 + 3,14–4,17 + 5,3–7,10LXX). Deshalb kann man von einer „gemeinsamen Erzählung“ sprechen, denn diese drei Texte erzählen ungefähr die gleiche Geschichte. Die Erzählsequenz des A.-T., die derjenigen von MT/LXX sehr ähnlich ist, ist lediglich etwas kürzer. Sätze und Satzteile im hebräischen MT haben keine Entsprechung im A.-T., doch in den übrigen Fällen scheint der A.-T. eine wörtliche Übersetzung des MT zu sein. Neben den zahlreichen Versteilen, die im A.-T. fehlen16, hat die Gesamtheit der Verse 1,17–18.22; 2,10–16.19–23; 3,12–14; 4,5–8a aus dem MT keine Entsprechung im A.-T. Außerhalb der Zusätze sind A.-T.-Passagen ohne Entsprechung im MT selten; sie erscheinen nur in den Kapiteln 6 und 7 (6,4–6a.13–18; 7,2.4b–7.14). Zwischen 1,1 und 7,14 ist der A.-T. um ungefähr 25 Prozent kürzer als seine Parallele im MT, und mehrere Motive des MT fehlen dort. Die Notwendigkeit, die eigene jüdische Identität am fremden Hof zu verbergen (V. 2,10–11.19–20MT), spielt im A.-T. keine Rolle, und der absurde Charakter bestimmter Gebräuche und des Hofzeremoniells wird weniger stark hervorgehoben. Zudem sollte beachtet werden, dass jene Verse oder Versteile des A.-T., die eine strenge Parallele zum MT darstellen, in einer sehr anderen Weise wiedergegeben werden als in der LXX, sodass eine direkte Abhängigkeit des einen griechischen Texts vom anderen bei diesen Abschnitten schwer zu verteidigen ist.17
Im Gegensatz zu dem, was in der „gemeinsamen Erzählung“ auszumachen ist, bietet der A.-T. die Zusätze A bis F in einer griechischen Fassung, die jener der LXX sehr nahe ist. Daraus lässt sich schließen, dass in diesen Abschnitten die griechischen Texte direkt voneinander abhängig sind.18
Der Schluss des A.-T. weist nicht die gleichen Besonderheiten auf wie die der „gemeinsamen Erzählung“. In 7,15–21.33–52A.-T. werden die Ereignisse der Kapitel 8 bis 10 des MT in einer viel knapperen und etwas anderen Form erzählt (die Unwiderruflichkeit der persischen Gesetze erklärt nicht das Massaker an den Feinden). Mehrere Dubletten tauchen auf.19 Was die Parallelen zu anderen Textzeugen angeht, ist festzustellen, dass nur 7,15–16 und 33–34 Konstruktionen aufweisen, die denen des MT ähnlich sind (8,1–2.5.8.10), und dass es nur thematische Gemeinsamkeiten sind, die 7,17–21A.-T. in die Nähe von 9,6–15MT und 10,1–3MT bringen. Der Rest des Schlusses des A.-T. enthält griechische Phraseologie, die nahe an der LXX ist. 7,35–38A.-T. ist nahe bei E,17–19LXX, und 7,39–52 bietet einen Text, der kürzer ist als 8,15–10,3LXX, aber sehr ähnliche griechische Konstruktionen enthält.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der „gemeinsamen Erzählung“ von 1,1–7,14A.-T. der A.-T. mit der generellen Ordnung des MT korrespondiert, aber einen kürzeren Text bietet, in dem das Griechische keine direkte Verbindung zur LXX zu haben scheint. Hinsichtlich der sechs Zusätze ist der A.-T. nahe an der LXX. Der Schluss von 7,15–21.33–52A.-T. ist heterogen: Einige Verse (V. 15–16, 33–34) rufen in Erinnerung, was in der „gemeinsamen Erzählung“ geschieht; andere sind mehr indirekt mit dem verbunden, was sich in MT/LXX (7,17–21) findet; und was übrig bleibt (7,35–52), ist kürzer als der LXX-Text von E,17–19 und 8,15–10,3LXX, doch das Griechisch darin weist phraseologische Verbindungen mit der LXX auf.
2.5. Flavius Josephus
In seinen Antiquitates Iudaicae (11,184–296) gibt Flavius Josephus die Geschichten wieder, von denen das Buch Ester erzählt.20 Seine Darstellung korrespondiert großenteils mit den Inhalten von MT/LXX. Die Zusätze finden sich bei Josephus jedoch nur zum Teil. Die Zusätze B, D und E sind vorhanden in einer Fassung, die dicht an LXX/A.-T. ist, die Inhalte von Zusatz C werden nur kurz berichtet, und die Zusätze A und F fehlen.
Es ist unklar, auf welchen biblischen Text sich Josephus für seine Nacherzählung von Ester gestützt hat.21 Seine Paraphrase der biblischen Quellen scheint eine Vorlage zu benutzen, die entweder der LXX oder dem MT oder beiden entspricht.22 Die wesentlichen Elemente, die den A.-T. von anderen Textzeugen unterscheiden, sind bei Josephus nicht auszumachen.23
Josephus’ Bearbeitung hat mehrere Besonderheiten.24 Ester und Mordechai leben in Babylon, und Ester ist königlicher Abstammung (Ant. 11,185.198.204). Waschtis Weigerung wird mit einem persischen Verbot erklärt (Ant. 11,191.205–206). Der König liebt Waschti weiterhin sehr, nachdem er sie verstoßen hat (Ant. 11,195). Die Versammlung der jungen Frauen besteht nur aus vierhundert Kandidatinnen (Ant. 11,200). Mordechai reagiert mit Eleganz, als Haman ihn suchen kommt (Ant. 11,257–258). Der Eunuch sieht den Galgen und findet heraus, was es damit auf sich hat (Ant. 11,261). Das Werfen der Lose wird weggelassen, ebenso die Nachricht, dass Ester dreißig Tage nicht mehr zum König gerufen wurde. Schließlich erwähnt Josephus – wie in der LXX – das Motiv des göttlichen Handelns und betont die Frömmigkeit der Juden und Jüdinnen (Ant. 11,227–233.237.268).
Josephus’ Bericht zeigt, dass die komplexe Vielfalt der Ester-Texte und ihrer Traditionen auch am Ende des 1. Jahrhunderts u. Z. noch Bedeutung hatte.
2.6. Vetus Latina (VL)
Der Ester-Text der Vetus Latina (VL) ist in nahezu zwanzig Handschriften vom Ende des 8. bis zum 15. Jahrhundert u. Z. belegt.25 Die kritische Ausgabe von Jean-Claude Haelewyck26 zeigt drei Hauptfamilien, von denen der in MS 151 bezeugte Text der ältesten fassbaren Textgestalt der VL (R) am nächsten kommen dürfte.
Wie LXX und A.-T. unterscheidet sich auch die VL vom MT durch das Vorhandensein von „Zusätzen“. Dabei ist bei den Zusätzen B, D, E und F eine Reihe relativ geringfügiger Unterschiede zwischen der VL und den griechischen Textzeugen festzustellen. Der zweite Teil von Zusatz A kommt in der VL nicht vor, wodurch die Doppelung der Verschwörung der Eunuchen in 2,21–23 vermieden wird. Die Gebete von Ester und Mordechai in Zusatz C sind kürzer. Und ein Gebet der Juden (Zusatz H), das Themen einführt, die zum Teil in den Gebeten von Ester und Mordechai vorkommen und sonst in der VL fehlen (C,3–5 und 17–21), erscheint in der VL am Ende von Kapitel 3.27
Sieht man von den Zusätzen ab, zeigt der Text der VL größere Verwandtschaft mit der LXX und dem MT als mit dem A.-T. Die meisten Abschnitte der LXX bzw. des MT, die keine Parallele im A.-T. haben, werden von der VL bezeugt, wogegen spezifische Merkmale des A.-T. in ihr nicht zu finden sind.28
Darüber hinaus besteht die VL auf bestimmten theologischen Themen. In Kapitel 4 berichtet sie detailliert vom Fastenritual, und in Kapitel 6 betont sie noch stärker als die LXX, dass hinter den erwähnten Heilsereignissen Gott am Werk ist.29 Der wichtigste Unterschied zwischen LXX und VL betrifft jedoch die Rachethematik am Ende des Werks: Sie fehlt in der VL weitgehend. Das Massaker an den