Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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(8,8ff.) und dessen Inhalte in Zusatz E wiedergegeben werden.

      Ob die VL einen griechischen Text überarbeitet, der nahe an der LXX ist, oder ob sie einen verlorenen griechischen Text übersetzt, bleibt weiter offen. Es ist jedoch klar, dass die VL keine der Besonderheiten des A.-T. aufweist und daher aus der Reihe der LXX-Texte stammen muss.

      2.7. Die Vulgata

      Zu Beginn des 5. Jahrhunderts u. Z. ändert die Vulgata, die lateinische Übersetzung des Hieronymus, das Verhältnis zum alten lateinischen Text radikal. Der Inhalt der Kapitel 1,1–10,3 der Vulgata entspricht aufs engste einigen Freiheiten, die der MT sich nimmt.30 Die sechs Zusätze wurden an das Ende des Texts verlegt und erscheinen nun in den Kapiteln 10,4 bis 16,24 (Zus. F = 10,4–11,1; A = 11,2–12,6; B = 13,1–7; C = 13,8–14,19; D = 15,4–19; E = 16,1–24). Die lateinische Übersetzung der Zusätze scheint in der Vulgata auf einer Fassung zu basieren, die nahe an der der LXX ist.31 Die Vulgata führt somit einen „hybriden“ Text ein, der für 1,1–10,3 vom MT abhängt, aber für die Zusätze von der LXX.

      2.8. Andere antike Versionen

      Die Texttradition der syrischen Peschitta ist relativ einheitlich und weicht kaum vom MT ab.32 In der aramäischen Texttradition sind zwei Targumim zum Buch Ester erhalten (Tg. Est I und II); beide sind abhängig von einer Textfassung in großer Nähe zum MT und bestehen überwiegend aus Paraphrasen und Auslegungen nach Art von Midraschim. Die koptisch-sahidischen, äthiopischen und armenischen Versionen hängen weitgehend vom griechischen Text der LXX ab.33

      3. Der Redaktionsprozess des Werks

      Die großen Unterschiede zwischen dem MT, den beiden griechischen Übersetzungen (LXX und A.-T.) und den lateinischen Übersetzungen erfordern eine genauere Untersuchung der Entstehung dieser Textfassungen und der von ihnen abhängigen Versionen.

      Einige Punkte dürften als gesichert gelten. Abgesehen von den sechs Zusätzen handelt es sich beim Text der LXX um die Übersetzung eines hebräischen Originals, das dem MT sehr nahe kommt34 und anhand seines Kolophons auf das Ende des zweiten oder Anfang des ersten Jahrhunderts v. u. Z. datiert werden muss.35 Die sechs Zusätze, die im MT fehlen, waren nicht Teil der ursprünglichen Erzählung, sondern wurden zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Werks hinzugefügt.

      Andere Punkte werden immer noch diskutiert (siehe unten): die Beziehung zwischen dem Alpha-Text (A.-T.) einerseits und MT und LXX andererseits; die Frage, ob die ursprüngliche Form der Erzählung bereits dem uns bekannten Handlungsfaden folgte; die Herkunft der Zusätze und die Ursprünge der Vetus Latina (VL).

      3.1. Der Alpha-Text als späte Revision in Abhängigkeit von LXX und/oder MT

      Eine der Strömungen der Ester-Forschung geht davon aus, dass der A.-T. aus einer Umarbeitung innerhalb der Mehrheitstradition entstanden sei, die in LXX und MT ihren Niederschlag gefunden hat. In der „gemeinsamen Erzählung“ ist der A.-T. wesentlich kürzer als LXX und MT, was darauf schließen lasse, dass der Redaktor des A.-T. das Werk gekürzt habe.

      Frühe Forschungen sahen im A.-T. das Ergebnis einer lukianischen Revision des griechischen Alten Testaments.36 Heute wird diese Auffassung kaum noch geteilt, da die charakteristischen Merkmale der lukianischen Revision im A.-T. fehlen.37 Die Unterschiede zwischen A.-T. und LXX gehen weit über eine einfache Überarbeitung hinaus, sodass die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, für die der A.-T. von der LXX abhängig ist, im Allgemeinen eine starke Umarbeitung annehmen.38 In einer wichtigen Monographie39 analysiert Kristin de Troyer den letzten Teil des A.-T. und seine Parallelen im MT sowie in der LXX und gelangt zu dem Schluss, dass der A.-T. von 7,14–41 eine Neufassung darstellt, die ausschließlich auf der LXX von 8,1–17 basiert. De Troyer datiert diese Neufassung auf die Zeit von Agrippa, um ca. 40–41 u. Z.40 Die Erkenntnisse aus dem Vergleich von 7,14–41A.-T. und 8,1–17LXX überträgt de Troyer schließlich auf den Rest dieser beiden Texte und folgert, dass auch die Gesamtheit des A.-T. eine Umarbeitung der LXX sei. Diese Extrapolation aber ist problematisch, denn sie erklärt nur unzureichend, dass der A.-T. am Ende des Textes und in den Zusätzen häufig griechische Formulierungen verwendet, die mit denen der LXX identisch sind, während er seine griechischen Formulierungen im Rest des Buches jedoch nicht aus der LXX zu beziehen scheint.

      Deshalb denken manche, dass der A.-T. eine neue Übersetzung eines hebräischen Texts ist, der demjenigen ähnelt, den die Übersetzer der LXX benutzten, und damit auch dem MT der „gemeinsamen Erzählung“. André Lacocque41 nimmt an, dass die hauptsächlichen Unterschiede zwischen dem A.-T. und dem Inhalt des MT – vor allem hinsichtlich der „Leerstellen“ des A.-T. – durch die apologetische Absicht des A.-T.-Übersetzers erklärt werden könnten, eine Textfassung, die dem MT nahekommt, so zu korrigieren, dass die Erzählung für eine nichtjüdische Leserschaft annehmbarer wird. Sein Argument, das in erster Linie auf den unterschiedlichen Themen basiert, die im A.-T. und im MT in den Vordergrund gerückt werden, erklärt allerdings nicht, warum LXX und A.-T., abgesehen vom Ende des Werks und den Zusätzen, keine gegenseitige Abhängigkeit zu zeigen scheinen. Laut Emanuel Tov42 handelt es sich beim A.-T. um eine Überarbeitung der LXX, die auf der Grundlage eines anderen hebräischen Texts erstellt wurde, nicht auf der des MT. Dieser Text wäre im Bereich der „gemeinsamen Erzählung“ relativ nahe am MT geblieben, aber eine hebräische Fassung der Zusätze A, C, D und F wäre hinzugefügt, der Schluss jedoch gekürzt worden.

      3.2. Der Alpha-Text als Spiegelung eines vormasoretischen hebräischen Proto-Ester-Texts

      Eine starke Strömung innerhalb der Ester-Forschung betrachtet den A.-T. als Übersetzung eines hebräischen Texts, der älter ist als der MT, eines Texts, den wir im Folgenden als „Proto-Ester“ bezeichnen werden. Dieser Proto-Ester-Text wäre demnach wesentlich kürzer gewesen als der MT im Hauptteil der Erzählung (Kap. 1–7), und ihm hätte der Schluss gefehlt, der das Massaker an den Feinden der Juden und die Einsetzung des Purimfests beschreibt. Er hätte keine Zusätze enthalten. Der MT wäre aus einer auf Proto-Ester basierenden redaktionellen Überarbeitung entstanden. Dies ist das Modell, das wir bevorzugen.

      Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben mehrere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen grundlegende Beobachtungen gemacht, die dieses Modell stützen. Abgesehen von den Zusätzen und dem Schluss sind die beiden griechischen Textzeugen allzu unterschiedlich, um unmittelbar voneinander abhängige Rezensionen zu sein. Es muss sich also um eigenständige Übersetzungen zweier hebräischer Vorlagen handeln, die einander nur teilweise ähnlich sind. Charles Torrey43 geht davon aus, dass die Kapitel 1–7 des A.-T. die Übersetzung eines semitischen Texts sind, der die älteste bekannte Form der Erzählung darstellt.44 Carey Moore45 hebt hervor, dass die wenigen „Extras“46 und die zahlreichen „Leerstellen“ des A.-T. in Bezug auf MT und LXX einen hebräischen Vorgänger voraussetzen, der älter als der MT ist. Herbert Cook47 schließt sich an Moores Überlegungen an, kommt jedoch zu dem Schluss, der Übersetzer der Kapitel 1–7 des A.-T. habe mit einem dem MT ähnlichen hebräischen Text gearbeitet, von dem er eine Reihe von Abschnitten weggelassen habe.48

      David Clines49 greift diese unterschiedlichen Beobachtungen auf und entwickelt ein Modell, wonach die hebräische Vorlage der Kapitel 1,1–7,16 des A.-T. ein Text war, der dem ältesten vormasoretischen Ester-Text (dem Proto-Ester-Text in unserer Terminologie) sehr nahe ist. Der vormasoretische Text hätte sich demzufolge in zwei Stufen entwickelt, bevor er eine Form erreichte, die dem MT glich. Zunächst wäre der Hauptteil des Texts umgebaut worden, insbesondere durch die Einfügung einer ganzen Reihe von „Extras“, und dann wären die Kapitel 9 und 10 hinzugefügt worden. Die LXX hätte die dem MT nahe Textfassung übersetzt, während der A.-T. eine dem vormasoretischen Text nahe Fassung übersetzt hätte. Michael Fox50 führt den Ansatz von Clines weiter und kommt zu einem ähnlichen Modell. Der Proto-A.-T., ein griechischer Text, der sich von Kapitel 1,1 bis


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