Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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den MT erstellt. Der Proto-A.-T. wäre zudem auch von der LXX überarbeitet worden, wobei insbesondere die sechs Ergänzungen zum A.-T. hinzugefügt worden wären. Die Thesen von Clines und Fox sind weltweit akzeptiert und wurden von mehreren Kommentaren, Artikeln und Monographien aufgegriffen.51

      Karen Jobes52 weicht aufgrund statistischer Daten leicht von Clines und Fox ab. Abgesehen von den sechs Zusätzen ist der A.-T. ihrer Ansicht nach die Übersetzung eines hebräischen Texts, der dem MT ziemlich nahekommt53 – selbst in Bezug auf den Schluss aus den Kapiteln 8–10. Ihr zufolge hätte sich dieser griechische Text – nach der ersten Übersetzung vom Ende der Perserzeit, die dem A.-T. zugrunde lag – autonom entwickelt, und die sechs Zusätze wären hinzugefügt worden. Parallel dazu hätte sich auch der hebräische Text ein wenig weiterentwickelt. Die LXX wäre demnach in der Zeit der Hasmonäer entstanden: konzipiert als griechische Übersetzung mit größerer Treue zum hebräischen Text; die sechs Zusätze wären ihr aus dem A.-T. hinzugefügt worden.

      Nach Ruth Kossmanns redaktionsgeschichtlichem Modell54 ist der MT die Umarbeitung eines hebräischen Texts – Kossmann nennt ihn Proto-A.-T. –, dessen griechische Übersetzung der A.-T. von Zusatz A,11–16 und der Kapitel 1,1–7,41 (ohne die anderen Zusätze) ist. Die Umarbeitung, die zum MT führte, hätte die auf das Judentum bezogenen Themen hervorgehoben – wobei insbesondere das Motiv eines Gegenerlasses eingeführt worden wäre, der es den Juden ermöglichte, sich selbst zu verteidigen. Ebenso wären Purim, sein Datum und die damit verbundenen Festlichkeiten vorgestellt worden. Dieser Aspekt von Kossmanns Modell steht Clines und Fox in Vielem nahe.

      Charles Dorothys Redaktionsmodell ist nicht unvereinbar mit der Existenz eines Proto-A.-T. (bei Dorothy als Proto-L bezeichnet). Bei ihm ist Proto-L allerdings Teil eines Modells, das davon ausgeht, dass eine säkulare semitische Vorlage die Quelle für den späteren MT gewesen wäre und dass eine Umarbeitung mit dem Ziel der Einführung religiöser „Motive“ den griechischen Texten von Ester als Vorlage gedient hätte.55 Das von Lisbeth Fried entwickelte Modell56 kommt dem ziemlich nahe; Fried nimmt an, dass die Vorlage des A.-T., genannt „Proto-A.-T.“, eine leichte Überarbeitung eines älteren Texts von Ester war, die sie als „Prä-Proto-A.-T.“ bezeichnet. Die Gottesbezüge wären in die Vorlage des A.-T. hinzugefügt worden, und der ursprüngliche Schluss, der dem MT von 9,1–5.20.21a.22 entspricht, wäre entfernt worden. Auch Ernst Haag rekonstruiert eine vormasoretische Schicht, jedoch ohne sich auf die Inhalte des A.-T. zu beziehen. Er rekonstruiert außerdem drei aufeinanderfolgende Redaktionsstufen.57

      Die Argumente, die im vorliegenden Kommentar vorgetragen werden, schließen sich eng an Fox’ Modell an. Anders als Jobes gehen wir davon aus, dass ein Proto-Ester-Text, der dem MT nahekommt, unwahrscheinlich ist. Und schließlich macht nach unserer Auffassung die Rekonstruktion eines Proto-Ester-Texts, der sich von der Vorlage des A.-T. und des MT unterscheidet, das Modell unnötig komplex.

      3.3. Die Quellen der Narrative

      Die Komplexität der Ester-Erzählung kann den Eindruck erwecken, dass mehrere voneinander unabhängige Handlungsstränge vorliegen. So versucht Haman einerseits, das jüdische Volk per Erlass zu eliminieren, und andererseits, Mordechai hängen zu lassen. Er sieht sich mit zwei unterschiedlichen Gegnern konfrontiert, die ihn auf unterschiedliche Weise besiegen: mit Ester während des Gastmahls und mit Mordechai, als sich der König daran erinnert, dass dieser ihm von einer Verschwörung berichtet hatte. Die Erzählung von Waschtis Vertreibung scheint nur lose mit dem Erzählstrang der folgenden Kapitel verbunden und ist für deren Logik jedenfalls nicht nötig. Diese Beobachtungen überzeugten mehrere Exegeten davon, dass das Buch Ester eine Mischung aus ursprünglich unabhängigen Erzählungen sei.

      Henri Cazelles58 unterscheidet zwischen einer liturgischen Quelle, die mit dem Purimfest in Verbindung steht, und einer Erzählung über politische Konflikte, die Mordechais Sieg über Haman zum Thema hat. Jürgen-Christian Lebram59 geht davon aus, dass in der Makkabäerzeit eine alte persische Legende über eine Jüdin, die ihr Volk rettet, mit einer in Palästina entstandenen Erzählung über Mordechai und Haman verschmolzen wurde. Elias Bickerman60 sieht im Buch Ester eine Kombination von zwei höfischen Erzählungen, wobei die eine von der Konfrontation der Königin mit einem Höfling erzählt und die andere den Konflikt zweier Höflinge schildert. Hans Bardtke61 macht drei vorausgehende Traditionen aus: eine, die die Erzählung von Waschti enthält; eine, die den Konflikt zwischen dem Juden Mordechai und dem persischen Beamten Haman darstellt; und eine letzte, die von Esters Kampf für ihr verfolgtes Volk handelt.

      Die Debatte über die Textgeschichte des Esterbuchs überschneidet sich zwangsläufig mit der Debatte über ältere Ausgangstexte. Wenn der MT das Resultat einer redaktionellen Umarbeitung ist, die auf Proto-Ester fußt, dann muss die Identifizierung der verschiedenen vorherigen Erzählungen ebenso auf der Grundlage des Proto-Ester-Texts erfolgen. Logischerweise greift Clines deshalb Cazelles’ Vorschlag modifiziert auf, denn dieser hat Bedeutung für den Proto-A.-T. (= Proto-Ester), den er rekonstruiert.62

      Kossmann geht hier noch weiter.63 Nachdem sie, wie Clines, für die Existenz eines vormasoretischen Proto-A.-T. eintritt, nimmt sie an, dass dieser Text ebenfalls das Ergebnis der Umarbeitung einer „Prä-Ester“ ist. Kossmann zufolge wäre diese Prä-Ester auf der Grundlage dreier früherer Erzählungen entstanden: einer Geschichte von Waschti (dem Kern der Kap. 1–2 im A.-T.), einer Erzählung über Haman und Mordechai (dem Kern von Zusatz A und Kap. 6 im A.-T.) und einer Erzählung über Haman, Mordechai und die Königin (dem Kern der Kap. 3, 4, 5 und 7 des A.-T.). Diese hypothetische Prä-Ester, die in keinerlei Verbindung zum Judentum stünde, wäre dann von einem Redaktor mit dem Ziel umgearbeitet worden, diese alte Erzählung innerhalb der jüdischen Diaspora zu verorten.64

      Auch wenn die Identifizierung älterer Quellen der Handlung hypothetisch bleibt, lässt sich zusammenfassend sagen, dass in allen für Ester bezeugten Textfassungen die Erzählstränge von Ester, Mordechai und sogar Waschti sich auf kohärente Weise verbinden. Es ist die Mischung dieser Erzählstränge und der neuen Entwicklungen, die sie erzeugen, die dem Buch eine reizvolle und gut erzählte Geschichte bescheren.

      3.4. Die Zusätze in der LXX und im A.-T.

      Sowohl in der LXX als auch im A.-T. bringen die Zusätze A–F Themen zur Sprache, die in der übrigen Erzählung nicht vorkommen (einen Traum [Zus. A und F], Gebete [Zus. C], detaillierte Inhalte der Dekrete [Zus. B und E]), aber für den Fortgang der Erzählung nicht unbedingt notwendig sind. Es bestehen kaum Zweifel, dass sie erst spät einer Erzählung hinzugefügt wurden, die grosso modo der „gemeinsamen Erzählung“ von MT, LXX und A.-T. entspricht. Wie die sechs Zusätze A–F verfasst und in die griechischen Texte eingefügt wurden, wird weiterhin diskutiert.65

      Einige dieser Zusätze könnten zunächst unabhängig im Umlauf gewesen sein, bevor sie zu einem Teil der Erzählung wurden. Mordechais Traum (Zus. A und F) weist logische Spannungen gegenüber der Erzählung auf, was den Gedanken nahelegt, dass hier ein älteres Werk eingepasst wurde.66 Außerdem ist es möglich, dass Esters Gebete und die Inhalte der Erlasse (Zus. C, B und E) als eigenständige Texte zirkulierten, die Anspielungen und Bezugnahmen auf die Ester-Erzählung enthielten.67 Über die ursprüngliche Sprache der Zusätze wurde und wird diskutiert. Die Zusätze A, C, D und F enthalten Semitismen, was darauf hindeutet, dass sie ins Griechische übersetzt wurden, wohingegen das Griechisch der Zusätze B und E literarischer ist, was nahelegt, dass sie auf Griechisch verfasst wurden.68

      In LXX und A.-T. sind die Textfassungen der Zusätze sehr ähnlich.69 Man kann daraus schließen, dass sie von einem dieser Texte in den anderen eingefügt wurden. Bickerman, Moore, Clines und Fox70 denken, dass die Zusätze aus der LXX in den A.-T. übernommen wurden. Jedoch zeigen Jobes71 und vor allem Claire-Sybille Andrey72, dass eine Einfügung der Zusätze in die LXX aus dem A.-T. wahrscheinlicher ist. Wenn also einige Zusätze aus dem A.-T. in die LXX eingegangen sind, dann dürfte die entgegengesetzte Hypothese eher für den Zusatz E zutreffen, denn 7,35–38A.-T. setzt


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