Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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ob göttliches Eingreifen hinter diesem oder jenem Ereignis auszumachen ist und, vor allem, ob Gott durch die Taten von Frauen und Männern handelt.

      A. Textfassungen und Redaktionsstufen

      Das Buch Ester ist in sehr unterschiedlichen Textfassungen bezeugt. Der Inhalt des hebräischen masoretischen Texts (MT) weicht beträchtlich von den antiken griechischen und lateinischen Übersetzungen ab, welche sechs lange zusätzliche Abschnitte enthalten. Diese werden fortan als „Zusätze A bis F“ bezeichnet. Diese Zusätze ergänzen die Erzählung um einen Traum Mordechais, um Gebete und um den Inhalt von Erlassen. Zudem existieren nebeneinander zwei recht unterschiedliche antike griechische Übersetzungen: die Septuaginta (LXX) und der Alpha-Text (A.-T.). In jenen Teilen, die sie mit der Erzählung des masoretischen Texts gemeinsam haben – fortan „gemeinsame Erzählung“ genannt – ist die griechische Fassung der LXX recht nahe am MT, während der Alpha-Text deutlich kürzer ist. Die lateinischen Übersetzungen weisen ebenfalls einige charakteristische Merkmale auf. Die Vetus Latina (VL) weicht vom hebräischen und griechischen Ester-Text sowohl in der „gemeinsamen Erzählung“ als auch in den Zusätzen ab. Die Vulgata (Vulg.) beginnt mit einem Text, der dem MT ziemlich treu ist, endet aber mit der Anfügung der sechs Zusätze.

      1. Der Umgang mit der Textvielfalt von Ester in diesem Kommentar

      In einem kritischen exegetischen Kommentar zum Buch Ester wirft die Vielfalt der Textzeugen mindestens zwei zentrale Fragen auf: Welche Textfassung soll den Gegenstand dieses Kommentars bilden? Und wie können die Textvielfalt und der komplexe Entstehungsprozess des Werks erklärt werden?

      Der hebräische masoretische Text als Basis der DiskussionDer hebräische masoretische Text (MT) ist die Grundlage dieses Kommentars. Er ist die einzige Textfassung, die in der Originalsprache bezeugt ist. Die anderen antiken Textfassungen des Werks sind direkte oder indirekte Übersetzungen hebräischer Vorlagen, von denen manche mehr und manche weniger Varianten gegenüber dem MT aufweisen.

      Die übrigen TextfassungenDie nichtmasoretischen Textfassungen von Ester, insbesondere die beiden wichtigsten griechischen Fassungen, verdienen eigene Aufmerksamkeit. Die Septuaginta spiegelt den Text von Ester, der in der katholischen Welt bevorzugt wird. Der Alpha-Text kann wiederum helfen, die redaktionellen Schritte des MT besser zu verstehen, denn ohne die sechs Zusätze stellt dieser wahrscheinlich die griechische Übersetzung eines hebräischen Texts – Proto-Ester – dar, der älter als der masoretische Text ist.

      Dieser Kommentar wird die nichtmasoretischen Textfassungen folgendermaßen einbeziehen: Bei der Diskussion der „gemeinsamen Erzählung“ werden die wichtigsten Varianten der LXX – und ebenso die der VL und der Vulgata – in den Anmerkungen zum Text des MT analysiert. Darüber hinaus widmet sich nach dem Hauptkommentar ein eigenes Kapitel den sechs Zusätzen in LXX, A.-T. und anderen Fassungen.

      Der A.-T. wird in den Abschnitten diskutiert, die sich am Ende jedes Kapitels mit dem Redaktionsprozess des Werks befassen. Eine Übersetzung und Analyse von Proto-Ester, basierend auf dem A.-T., werden geboten, bevor dieser vormasoretische Text mit dem MT verglichen wird: So soll deutlich werden, wie die Redaktoren gearbeitet haben, um schließlich den Text der masoretischen Familie herzustellen.

      2. Die Textzeugen

      2.1. Der hebräische masoretische Text (MT)

      Der MT des Esterbuchs ist vom Mittelalter an in mehreren großen Codices enthalten. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts verwenden die kritischen Ausgaben der Hebräischen Bibel den Text des Codex Leningradensis (Signatur B 19A der Russischen Nationalbibliothek) aus dem Jahr 1009 u. Z. Auch BHS und BHQ verfahren so.1 Die begrenzte Anzahl von Textvarianten im Leningradensis und in anderen großen masoretischen Handschriften zeigt, dass der tiberiensische Text des Buchs recht stabil ist.

      Der masoretische Text bietet eine recht ironische Sicht der persischen Welt. Auf ihn geht auch die ungewöhnliche Eigenart zurück, göttliches Handeln nicht explizit zu erwähnen.

      2.2. Ester in Qumran?

      Die Manuskriptfunde von Qumran enthalten keinerlei Fragmente des Buchs Ester.2 Diese überraschende Feststellung muss insofern präzisiert werden, als einige Passagen in Qumran-Handschriften Redewendungen enthalten, die Anklänge an Ester sein könnten.3 Das Fehlen von Ester-Zitaten in Qumran könnte ein Hinweis darauf sein, dass dieses Buch nicht als erstrangig betrachtet wurde4, doch es könnte auch einfach der Zufälligkeit der Textfunde geschuldet sein.5

      Obwohl die masoretische Textfassung in Qumran nicht bezeugt ist und die ältesten masoretischen Handschriften aus dem Mittelalter stammen, ist es erwiesen, dass der masoretische Texttyp in der Antike weithin bekannt war, wie Material aus den Midraschim und Targumim sowie aus griechischen, syrischen und lateinischen Übersetzungen zeigt.

      2.3. Der griechische Mehrheitstext: die LXX

      Der LXX-Text von Ester erscheint in großen Unzialen, fragmentarisch im Papyrus 967 (3. Jahrhundert u. Z.) und in ungefähr dreißig Minuskelhandschriften. Die Ausgabe von Robert Hanhart6 gebraucht das Sigel o’ für den griechischen Mehrheitstext. Die handschriftliche Überlieferung der LXX von Ester ist nicht völlig einheitlich. Im Allgemeinen geht man davon aus7, dass der Codex Vaticanus und Papyrus 967 den ältesten Text bieten, dass die wichtigsten Minuskeln zwei geringfügigere Revisionen bezeugen und dass eine hexaplarische Revision durch einen Korrektor des Codex Sinaiticus bezeugt ist, wie auch durch einige weitere Zeugen.8

      Bei den Abschnitten, die Parallelen im hebräischen Text haben, ist man sich im Allgemeinen einig, dass die LXX eine relativ freie Übersetzung einer hebräischen Vorlage darstellt, die dem MT nahekommt.9 Gleichwohl legen mehrere Unterschiede zwischen MT und LXX nahe, dass die hebräische Vorlage, die die Übersetzer der LXX benutzten, nicht völlig identisch mit dem hebräischen Text war, der zum Konsonantentext des MT führte. Auch nachdem die LXX fertiggestellt war, wurden dem hebräischen Text noch Glossen hinzugefügt.10

      Das Vorliegen der sechs Zusätze (A bis F) ist der bedeutendste Unterschied zwischen der masoretischen Überlieferung und der LXX. Diese Zusätze finden sich in fast allen griechischen Fassungen von Ester und in den von ihnen abhängigen Versionen.11 Sie enthalten insgesamt 105 Verse, die zu jenen 167 Versen mit Parallelen im MT hinzukommen. Die sechs Zusätze führen eine ganze Reihe von Elementen ein, die im MT nicht vorkommen. Mit Hilfe der Erzählung von Mordechais Traum (Zus. A1) und seiner Deutung (Zus. F), der Wiedergabe der Gebete von Mordechai und Ester (Zus. C) sowie der Schilderung von Esters Auftreten vor dem König (Zus. D) stellen sie die theologische Dimension der Ereignisse heraus, betonen explizit das Eingreifen Gottes und die Frömmigkeit der jüdischen Protagonisten. Darüber hinaus unternehmen es die Inhalte des Erlasses zur Vernichtung der Juden und des Gegenerlasses (Zus. B und E), einen antisemitischen Diskurs bloßzustellen. Außerdem zeigen die Zusätze die Loyalität der Juden und Jüdinnen gegenüber dem Persischen Reich – zu entnehmen der Erzählung von den Anschlagsplänen der Eunuchen, die Mordechai aufdeckt (Zus. A2). Ein Kolophon (Zus. F,11) führt zuletzt die Identität des Autors des Manuskripts und ihr Datum an.

      2.4. Der griechische Minderheitstext: der Alpha-Text (A.-T.)

      Der Alpha-Text, eine griechische Version des Esterbuchs, die sich sehr von der LXX unterscheidet, ist in vier Handschriften aus der Zeit zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert u. Z erhalten.12 Dieser Minderheitstext wurde gelegentlich als „lukianisch“ bezeichnet.13 Hanharts kritische Ausgabe und mehrere andere14 benutzen deshalb das Sigel L. Die Bezeichnung „Alpha-Text“, die von neueren Autoren häufiger benutzt wird, ist dem vorzuziehen.

      Die Verszählung des A.-T. variiert je nach Ausgabe. Der vorliegende Kommentar verwendet die folgende Ordnung im Anschluss an Hanhart.15

MT
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