Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


Скачать книгу
ist die Fiktionalität der Erzählung ganz offensichtlich.90 Der Text siedelt die Erzählung in einer den Lesern fernen Vergangenheit an: in den Tagen von Ahasveros (1,1). Er enthält Elemente, die durchaus glaubwürdig klingen, aber auch eine Reihe historisch unplausibler Einzelheiten. So gibt es in der persischen Geschichte keine Belege für Königinnen namens Ester oder Waschti. Die Hauptfrau von Xerxes I. ist bekannt und heißt Amestris.91 Darüber hinaus findet sich kein Hinweis auf einen Bürgerkrieg, an dem Juden im Perserreich beteiligt gewesen wären. Zudem lassen sich verschiedene Unwahrscheinlichkeiten feststellen, wie zum Beispiel, dass ein Gouverneur so dumm ist, ein Pogrom elf Monate im Voraus anzukündigen, als wolle er es der Zielgruppe ermöglichen, ihre Verteidigung vorzubereiten (9,3).92

      Schließlich lädt der „romanhafte“ Charakter der Erzählung geradezu dazu ein, sie als literarische Fiktion zu betrachten. Die Handlung ist völlig schlüssig, die Sequenzen werden gut eingeführt, und es gibt immer wieder neue Entwicklungen, Karikaturen, Übertreibungen und Humor. Man findet keine Brüche bei den Ereignissen, keine zusammenhanglosen Episoden und auch keinen zwangsläufig komplexen und wenig strukturierten Erzählfaden, wie er für Beschreibungen der Wirklichkeit typisch ist, etwa in historiografischen Erzählungen bei Esra/Nehemia oder im Zweiten Makkabäerbuch.

      2.2. Verschiedene Textfassungen

      Die Existenz der verschiedenen Textfassungen macht die Diskussion der Datierung kompliziert. Diese Fassungen (zumindest A.-T., MT, LXX) müssen je für sich datiert werden, ebenso wie die verschiedenen Redaktionsstufen und -schichten.

      Der MT, der in mehreren Stufen erstellt wurde, entstand in verschiedenen geschichtlichen Perioden.

      2.3. Linguistische Argumente

      Die Sprache im Buch Ester könnte bei der Datierung helfen (vgl. unten, C.3. Sprache und Stil des MT), doch leider bringt die Auswertung der Befunde kein sicheres Ergebnis. Einerseits bedeutet das Vorkommen von Aramaismen und Persianismen, dass eine Entstehung am Ende der Perserzeit nicht ausgeschlossen werden kann, andererseits aber spricht die Ähnlichkeit zwischen dem Hebräisch des Esterbuchs und dem Hebräisch der Mischna für eine spätere Datierung in die hellenistische oder römische Zeit.

      2.4. Die Kenntnis biblischer Texte

      Biblische Texte, die im Buch Ester zitiert oder erwähnt werden, sowie Texte, die auf Ester verweisen, sind wichtige Hinweise für die Datierung. Wir werden weiter unten (C.4. Anspielungen und Verweise auf andere biblische Texte) sehen, dass Ester auf Passagen in den Samuel- und Königsbüchern anspielt oder sie zitiert; dasselbe gilt für die Josefsgeschichte (Gen 37–46), für das Buch Exodus, die Kapitel 2–6 im Buch Daniel und für Nehemia 8,10–12. Diese Zitate und Anspielungen treten hauptsächlich in jenen Abschnitten von Ester in Erscheinung, die von den protomasoretischen Redaktoren gestaltet wurden. Diese Redaktoren gingen demnach ans Werk, als der Großteil der biblischen Literatur bereits vertraut war; denn die Königsliteratur und die späten Schichten des Pentateuchs wurden in der Perserzeit fertiggestellt, und das Buch Daniel kann nicht in eine Zeit vor der hellenistischen Periode datiert werden.93 Aber auch wenn Esters protomasoretische Redaktoren die biblischen Texte gut kannten, wusste der Rest der Bibel nichts von Ester. Man findet im TaNaCh keinerlei Anspielung oder Verweis auf das Buch Ester oder auf irgendwelche seiner Charaktere. Auch Jesus Sirach erwähnt in seinem Lobgesang auf die Väter weder Ester noch Mordechai, während zahlreiche andere biblische Namen angeführt werden. Erst in der Hasmonäer- und Römerzeit wird der Text von Ester eindeutig bezeugt.94 Diese Beobachtungen erlauben keine genaue Datierung, deuten jedoch auf die hellenistische Epoche für die protomasoretische Redaktion des Buches hin.

      2.5. Ester und die hellenistische Literatur über Persien

      Einer der wesentlichen Hinweise darauf, dass der Redaktionsprozess von Ester in einer stark von der hellenistischen Kultur geprägten Zeit stattfand, ist die Tatsache, dass das Buch eine ganze Reihe von griechischen „Klischees“ und Motiven über das achämenidische Persien als bekannt voraussetzt. Das Buch kennt auch mehrere Narrative über Ereignisse in der persischen Welt, die in der griechischen Literatur belegt sind.95 Die Autoren von Ester kannten also die griechische Literatur oder zumindest deren Klischees.

      Um diese Hypothese zu untermauern, werden wir zeigen, dass die griechische Literatur sich mit der persischen Welt stark beschäftigt hat, dass die Art und Weise, wie das Buch Ester diese Welt darstellt, ganz mit griechischen Darstellungen von Persien im Einklang ist und dass die Erzählungen von Ester einigen griechischen Erzählungen über Persien recht ähnlich sind. Wir werden zu dem Schluss kommen, dass das Buch Ester durchaus den „Persika“ der griechischen Literatur vergleichbar ist.

      2.5.1. Persische Geschichte und ihre Quellen

      Wir kennen zwar Archive und königliche Inschriften aus der persischen Welt96 sowie einige babylonische und ägyptische Dokumente darüber, doch letztlich bieten uns die griechischen und lateinischen Quellen die reichhaltigsten Informationen über die Geschichte des persischen Achämenidenreichs.97 Seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts v. u. Z. wurden die griechischen Städte anlässlich der medischen Kriege massiv mit dem Persischen Reich konfrontiert, das in der Folge zu einem viel diskutierten Thema wurde. So ist Persien im fünften und vierten Jahrhundert v. u. Z. in den Werken der Geschichtsschreiber Herodot, Thukydides und Xenophon sehr präsent.98 Ktesias von Knidos, ein griechischer Arzt, der am Hofe von Artaxerxes II. lebte, schrieb darüber seine sehr erfolgreichen Persika.99 Auch mehrere andere Persika waren in der griechischen Welt im Umlauf: die von Dionysios von Milet, Hellanikos von Lesbos, Charon von Lampsakos, Herakleides von Kyme und Dinon von Kolophon.100 Gleichermaßen präsent ist Persien im Werk von Philosophen wie Platon oder (Pseudo-)Aristoteles.101 Auch nach dem Untergang des Perserreichs spielte das Land weiterhin eine beträchtliche Rolle in der griechischen und dann in der römischen Geschichtsschreibung. Man findet Hinweise darauf bei Diodoros, Plutarch und Strabon sowie in der lateinischen Literatur, beispielsweise den Historiae von Quintus Curtius Rufus oder Iustinus. Im dritten Jahrhundert u. Z. taucht Persien erneut bei Athenaios und Ailianos auf.102

      In der griechisch-römischen Literatur fehlt es den Darstellungen von Persien nicht an „Stereotypen“ oder „ideologischen Motiven“, die nicht immer der historischen Realität entsprechen.103 Dennoch sind die griechischen Darstellungen von Persien reich an interessanten Details.104

      2.5.2. Verbindungen zwischen Ester und der griechischen Literatur105

      Die Darstellung der Welt des persischen Königshofs im Buch Ester ist durchaus mit den Darstellungen in der griechischen Literatur vergleichbar und an diese anschlussfähig. Leser und Leserinnen, die von der hellenistischen Kultur geprägt sind, werden nicht auf Anachronismen stoßen.

      Die Wortverbindung „Persien und Medien“ ist, wenn vom Herzstück des Königreichs die Rede ist (vgl. Est 1,3 sowie 1,14.18.19; 10,2), typisch für griechische Darstellungen des Achämenidenreichs; die Erwähnung der „127 Provinzen“ eines Herrschaftsgebiets, das sich „von Indien bis Kusch“ (vgl. Est 1,1) erstreckt, erinnert an Herodots Darstellung des Steuerwesens im Perserreich. Auch die Beschreibung der Architektur des königlichen Palastes, der luxuriösen Materialien im Inneren und in seinen Gärten ähnelt der von bestimmten griechischen Texten (vgl. Est 1,5–8). Ebenso erwähnen die Werke griechischer Autoren das leistungsfähige persische Postwesen, die mehrsprachigen königlichen Erlasse oder die als „Satrapien“ bezeichneten großen Verwaltungseinheiten (vgl. 3,12–15 sowie 1,22; 8,8–10). Die Figuren der Höflinge von Ahasveros stimmen gut mit den griechischen Darstellungen des persischen Hofs überein. Eunuchen verwalten den Harem, betreuen die königlichen Frauen (Est 1,10.12.15; 2,3–15; 4,1–5) und verschwören sich gegen den Herrscher (2,21–23; 6,2). Der Topos der Siebenzahl von Fürsten oder hohen Untergebenen (Est 1,13–15; 1,10; 2,9) ist ebenfalls in der griechischen Literatur bekannt. Und schließlich haben auch die höfischen Gepflogenheiten


Скачать книгу