Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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ist eine Spätform des biblischen Hebräisch.159 Das Vokabular und die Syntax weisen Aramaismen und andere Züge auf, die dem Hebräisch der Mischna und der Midraschim nahekommen. Der austauschbare Gebrauch der Präpositionen אל/על (vgl. 1,17; 2,3; 4,5 etc.) zeigt den Einfluss des Aramäischen; der ursprünglich persische Ausdruck דת („Erlass“) ist oft in aramäischen Passagen der Bibel (Dan 2; 6; Esra 7) wie auch im nachbiblischen Hebräisch zu finden; der Ausdruck מאמר („Befehl“; 1,15; 2,20; 9,32) ist ein Aramaismus (vgl. Dan 4,14; Esra 6,9). Die Mischna verwendet גזר für „erlassen“ (2,1)160; die Wurzel קום/קים im Piel anstelle des Hifil in (9,21.27.29.31[dreimal].32) ist ein Kennzeichen des Späthebräischen161; das Verb ישׁט im Hifil für „entgegenstrecken“ (4,11; 5,2; 8,4) ist typisch für die Mischna. Schließlich kennzeichnet auch der „Infinitivus absolutus“ + ו, der den Zeitwert der vorhergehenden Verbalform annimmt, das Späthebräische162 (2,3; 3,13; 6,9; 9,1.6.12.16–18).

      4. Anspielungen und Verweise auf andere biblische Texte

      Wie wir gesehen haben, sind die Parallelen zwischen Ester und der hellenistischen Literatur Teil des kulturellen Gepäcks der Autoren. Gleichzeitig sind diese Autoren in der kulturellen Welt des Judentums zu Hause, wie die Anspielungen und Verweise auf jüdische Texte, insbesondere auf die Bibel, belegen.

      Das Feststellen von Anspielungen und Verweisen kann manchmal subjektiv sein, doch wiederholte Anspielungen auf denselben biblischen Text untermauern den Eindruck, dass die Autoren von Ester wirklich darauf verweisen wollten.163 Einzelne Anspielungen und Verweise werden im Kommentar besprochen.

      4.1. Ester, Mordechai und die Könige Israels

      Das Buch Ester bezieht sich auf Gründungsfiguren der israelitischen Monarchie, Saul, David und Salomo, die in den Samuel- und Königsbüchern beschrieben werden.

      Ester wird mit König David und seinen Frauen verglichen. In 1,19 geht Esters Ankunft das Wort voraus: „Gib ihr Königtum einer anderen, die besser ist als sie“, und dies ähnelt der Ankündigung der Ersetzung Sauls durch David (1 Sam 15,28).164 Der Eintritt Esters ins Königshaus in Kapitel 2 und ihre Begegnungen mit dem König in Kapitel 5 und 7 erinnern wiederum an die Wahl der Frau aus Schunem für König David (1 Kön 1,2–4) sowie an das ungebetene Auftreten Batsebas bei Salomo (1 Kön 2,19–25).165 Schließlich gemahnt die Art und Weise, wie Abigajil ihr Haus vor Davids Zorn rettet (1 Sam 25), gleichermaßen an Esters Handeln.166

      Nach der hier vorgelegten Analyse bleiben in Proto-Ester die Anspielungen auf diese biblischen Episoden vage; erst die protomasoretischen Redaktoren heben die Anspielungen auf das Leben Davids deutlicher hervor und lassen Wendungen direkt aus den Quellentexten einfließen.167 Diese Verweise auf die Ursprünge des israelitischen Königtums bewirken, dass sich die Erzählung „biblischer“ ausnimmt. Sie verankern Ester in der großen monarchischen Tradition Judäas, auch wenn sie manchmal auf eher dunkle Episoden anspielen (vor allem auf Batseba in 1 Kön 2,19–25).

      So wird Mordechai ausdrücklich als Angehöriger der Gruppe vorgestellt, die den König von Juda ins Exil begleitet (2,6). Der MT vergleicht ihn mit Saul.168 Er ist benjaminitischer Abstammung, und seine Vorfahren haben Namen mit saulidischen Konnotationen (2,5). Sein Feind Haman ist nach dem MT ein Agagiter, was sich auf König Agag von Amalek bezieht, den Saul in 1 Samuel 15 bekämpft.169 Dieser Bezug wird noch durch das masoretische Motiv der Beute verstärkt, die die Juden nicht anrührten (Est 9,10.15.16). Das heißt, sie wiederholen nicht den Fehler von Saul, der Amalek nicht dem Bann unterwirft und dadurch die göttliche Gunst verliert (1 Sam 15,18ff.). Diese Verweise auf Saul legen nahe, dass Ester und Mordechai den Kampf gegen Amalek, den uralten Feind Israels, mit mehr Erfolg führen als der erste König Israels.170 So wird es möglich, die Bedrohung der Juden von Susa als Fortsetzung eines tausendjährigen Kampfes gegen die Feinde der Juden zu verstehen.171

      In Proto-Ester wie auch in der hebräischen Vorlage der LXX fehlt die Verbindung zum Konflikt zwischen Israel und Amalek. Sie wurde infolge eines Schreibfehlers172 erst spät eingetragen und stellt eine späte Neuinterpretation der Erzählung dar, die aber kein wesentlicher Interpretationsfaktor ist.

      4.2. Die Josefsgeschichte und das Buch Ester

      Das Buch Ester spielt häufig auf die Josefsgeschichte an (Genesis 37–45).173 Im Herzen eines fremden Königreichs geraten jüdische Helden in Gefahr, erlangen eine herausgehobene Stellung und retten ihr Volk. In beiden Geschichten wird göttliches Handeln selten oder gar nicht erwähnt, und sie haben mehrere Motive gemeinsam: verborgene Identität (2,10.20; Gen 42,7 etc.), Kleidung als Zeichen der gesellschaftlichen Stellung (Est 4,1–4; 6,10; 8,15; Gen 37,23–35; 39,10–20; 41,42), Menschenhandel (Est 7,4; Gen 37,27–28) und die Erlangung der Anerkennung durch Nichtjuden (Est 2,9.15.17; 5,2; Gen 39,4.21).

      Manche Aspekte des Buchs Ester beziehen sich auf konkrete Episoden der Josefsgeschichte (Details im Kommentar). Est 2,2–4 verwendet Ausdrücke aus Gen 41,34–37, um den Kontrast deutlich zu machen zwischen den weisen Ratschlägen, die ein Jude wie Josef einem Herrscher zu geben in der Lage ist, und den sinnlosen Empfehlungen der persischen Berater. Est 2,21–23 beschreibt die Verschwörung zweier Eunuchen und ihr Geschick, indem es die Episode vom Mundschenk und dem Bäcker in Genesis 40 in Erinnerung ruft. Die Ehrung, die der Pharao Josef zuteil werden lässt (Gen 41,42–43), inspirierte die Redaktoren des Esterbuchs, als sie die Ehrung, die Mordechai erfährt (6,8–11; 8,15), und das Geschenk des Rings durch Ahasveros (8,2) beschreiben. Und noch weitere Ausdrücke wurden von der Josefsgeschichte in das Buch Ester übernommen.174

      Die Josefsgeschichte ist eindeutig Teil des intellektuellen Gepäcks der Autoren von Ester. Wie die Verweise auf die davidische Monarchie wurden Anspielungen auf Episoden im Leben Josefs von den protomasoretischen Redaktoren verstärkt, indem sie Ausdrücke aus dem Text ihrer Quellen übernahmen.175

      Diese Verweise auf Episoden aus der Josefsgeschichte tragen Ester und Mordechai in die Tradition der großen biblischen Helden ein. Ester und Mordechai stehen jedoch einer persischen Welt gegenüber, die absurder und unkontrollierbarer ist als die ägyptische Welt in der Josefsgeschichte. Darüber hinaus ist die Anwesenheit in einem fremden Land voller entschlossener Judenfeinde ein Motiv, das in Genesis 37–45 nicht vorkommt. Der Blick des Buches Ester auf die fremde Welt ist daher viel schärfer als der der Genesis-Erzählung.

      4.3. Ester und Mose

      Es gibt mehrere Ähnlichkeiten zwischen den Büchern Ester und Exodus.176 Wie das Kind Mose wird Ester adoptiert und lebt an einem ausländischen Königshof. Die Wendung „Mordechai hatte sie als seine Tochter angenommen“ (Est 2,7) ähnelt der Beschreibung von Moses Adoption durch die Tochter des Pharao (Ex 2,10). Mordechais Versuch, „zu erfahren, […] was mit ihr geschähe“ (Est 2,11) erinnert an die Besorgnis von Moses Schwester in Ex 2,4. Das geplante Massaker an den Juden anstelle ihres Verkaufs als Sklaven (Est 3,9 und 7,4) zeigt, dass Hamans Maßnahmen schlimmer sind als die des Pharao in Ex 1,8–14. Esters Zögern in Kapitel 4 ruft das Zögern von Mose in Ex 3 und 4 ins Gedächtnis.177 Im MT nehmen die Daten der Ereignisse, die zur Rettung der Juden in Ester 4–8 führten, die Daten des Exodus auf, der mit dem Pessachfest vom 13.–16. Nisan gefeiert wird.178 Darüber hinaus geschieht die Rettung der Juden, wie sie in Ex 13–14 geschildert wird, um den Preis des Todes zahlreicher Feinde. Zuletzt aber werden Feste eingeführt, um die Rettung der Juden im Exodus (Pessach) und während der im Buch Ester beschriebenen Ereignisse (Purim) zu feiern.

      Die Exodus-Erzählung gehörte also ebenfalls zum intellektuellen Gepäck der verschiedenen Redaktoren des Buchs Ester. Wie im Fall der Josefsgeschichte und der Anspielungen auf die davidische Monarchie waren es auch hier die protomasoretischen Redaktoren, die am meisten dazu beigetragen haben, Bezüge zum Exodus herauszustellen.179 Diese Anspielungen stellen die Ereignisse im Esterbuch in die große biblische Tradition der Befreiung Israels.

      4.4.


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