Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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An Bekundungen der Ehrerbietung211 schließt sich die Wertschätzung des Königs und seiner Bedürfnisse an.212 Außerdem lädt sie Haman allein mit dem König zum Gastmahl ein und stellt auf diese Weise indirekt dessen Hybris bloß, da sie ihn behandelt, als sei er ihrem königlichen Gatten ebenbürtig.213 Die Redaktoren machen deutlich, dass Ester während der zwei Gastmähler mit beiden Männern spielt.214

      Dank Esters Einfluss lässt der König Haman hinrichten und vertraut dessen Güter und seine Aufgaben Ester und Mordechai an (8,1–2). Mit List und Courage nutzt Ester die Gepflogenheiten des Imperiums, um gegen die Unterdrückung vorzugehen.215 Mittels der Figur Esters lädt das Buch seine Leser und Leserinnen dazu ein, Methoden anzuwenden, die Methoden von Frauen sind, denen es gelingt, sich mit Raffinesse, List, Charme und Mut zu verteidigen, obwohl sie in der Gesellschaft einen niedrigeren Rang als Männer einnehmen. Nicht umsonst spricht Sidnie Ann White von Ester als Handlungsmodell für die Diaspora.216

      5.2.5. Die Anwendung von Gewalt durch die Juden

      Die Anwendung von Gewalt ist der letzte Weg, um dem Imperium zu widerstehen. Nach der Hinrichtung Hamans schien die Situation geklärt zu sein, doch deutet 8,8 an, dass der Erlass zur Vernichtung der Juden nicht aufgehoben werden konnte. Unfähig zu handeln, fordert der König Ester und Mordechai auf, selbst einen königlichen Erlass an die Juden zu formulieren. Dieser „Gegenerlass“ (8,11–13) erlaubt es den Juden, sich zu verteidigen und diejenigen zu vernichten, die sie unterdrücken könnten (8,11). Angesichts der Unfähigkeit der persischen Macht, die Kontrolle über ihre eigenen Gesetze auszuüben, bildet sich eine Widerstandsarmee, und das Buch endet mit der Schilderung eines Blutbads, das den Triumph der Juden über ihre Feinde besiegelt (9,1–19), gefolgt von der Einführung der Feier zum Gedenken an diese Ereignisse (9,20–32).

      Diese Anwendung von Gewalt mag Anstoß erregen. Das Buch ist jedoch keine Apologie der Gewalt oder des jüdischen Nationalismus.217 Die Erzählung entschuldigt die Gewalt nicht, sondern reflektiert die Legitimität des Rückgriffs auf Gewalt. Gewalt erscheint hier als notwendiger Verteidigungsakt. Die kriegerische Handlung ist nur als letzter Ausweg legitim und trifft nur diejenigen, die versuchen, die Juden zu vernichten.

      Man könnte befürchten, dass die jährliche Feier dieser Gewalttaten eine gewalttätige und nationalistische Kultur fördert.218 Diese symbolische Erinnerung an einen Sieg könnte aber auch als Möglichkeit für das Judentum verstanden werden, unter schwierigen Umständen Hoffnung und Mut aufrechtzuerhalten.219

      5.3. Gottes An- und Abwesenheit im MT

      Der MT von Ester enthält keine expliziten Hinweise auf Gott oder auf Gottes Handeln. Des Weiteren fehlt offenbar auch die Ausführung der von der Tora vorgeschriebenen rituellen Gebote durch die Protagonisten. Man könnte das Buch Ester als ein weltliches Werk betrachten, das keine theologischen Gedanken enthält. Eine ganze Reihe von Hinweisen deutet jedoch darauf hin, dass die Redaktoren der Erzählung durchaus auf theologische und rituelle Fragen anspielen wollten.220

      Dazu gehören mehrere günstige Umstände, die sich nicht aus dem Handeln der Protagonisten ergeben. Damit es nicht zur Vernichtung der Juden kommt, muss allerhand geschehen: Eine jüdische Frau muss auf den Thron gelangen (Kap. 2); Mordechai muss seine Loyalität unter Beweis stellen können, indem er von einer Verschwörung erfährt (2,21–23); und das Werfen der Lose muss den Juden ausreichend Zeit verschaffen, um angemessen reagieren zu können (3,7). In Kapitel 6 führt der erste Rückschlag für Haman zu einer Reihe von Zufällen: Es muss einen königlichen Anfall von Schlaflosigkeit geben, die Lektüre der richtigen Passage aus den Chroniken und Hamans Eintreffen zum richtigen Zeitpunkt. Darüber hinaus legen die Worte bestimmter Charaktere nahe, dass sie glauben, günstige Umstände könnten durch göttliches Handeln erklärt werden. In 4,14b fragt sich Mordechai, ob Ester nicht gerade für die Rettung des Volkes Königin geworden ist, und in 6,14 interpretiert Seresch die Enttäuschungen, die Haman erlitten hat, als Zeichen seiner kommenden Niederlage in der Auseinandersetzung mit den Juden. Schließlich legt die Konversion von Nichtjuden, die der „Schrecken vor den Juden“ befallen hatte (8,17), nahe, dass diese Menschen aus anderen Völkern im Triumph der Juden die Kraft ihres Gottes erkannten.221

      Trotz der zahlreichen Andeutungen, dass Gott im Werk gegenwärtig ist, macht der MT dies nie explizit. Diese Beobachtung mag überraschen, denn Proto-Ester erwähnt Gott und jüdische Rituale ohne Umschweife.222 Da der MT aus einer Überarbeitung von Proto-Ester resultiert, müssen es somit die protomasoretischen Redaktoren gewesen sein, die explizite Hinweise auf göttliches Handeln aus der Erzählung entfernt haben.223

      Diese Verschleierung der göttlichen Gegenwart und des göttlichen Handelns macht aus Ester keineswegs einen profanen Text.224 Indem der MT nicht ausdrücklich auf göttliches Handeln hinweist, wendet er vielmehr eine literarische Technik an, die die Leserinnen und Leser anleiten soll, Gottes Willen und Handeln hinter den Ereignissen und dem menschlichen Handeln zu entdecken. Ein analoges Verfahren findet man in der Josefsgeschichte (Gen 37–45).225 Praktisch keine einzige Handlung Gottes wird ausdrücklich erwähnt. Doch über die zufälligen Ereignisse, die Josef widerfahren, wird berichtet, und auch seine Träume können als Ausdruck des Handelns Gottes verstanden werden. Erst am Ende der Erzählung wendet sich Josef an seine Brüder und interpretiert, was geschehen ist, ausdrücklich als Folge des göttlichen Willens: „Quält euch nicht damit, dass ihr mich hierher verkauft habt, denn es ist Gott, der mich vorausgesandt hat …“ (Gen 45,5). Das göttliche Handeln anzudeuten statt es offen zu erwähnen, ist klug, denn dies zwingt die Leser und Leserinnen, den Sinn der Erzählung und ihre theologische Bedeutung sich selbst zu erklären.

      Und auch wenn „glückliche Zufälle“ auftauchen, handelt Gott in der Erzählung nicht allein. Die Courage und das Handeln von Ester und Mordechai bleiben zentral. In dieser Erzählung, in der Gott nicht erwähnt wird, werden zwei theologische Ideen vorgebracht. Erstens: Rettung braucht das Mitwirken der Menschen. Ester und Mordechai können sich nicht mit der Hoffnung auf ein Eingreifen Gottes zufriedengeben, sondern müssen handeln. Und zweitens: Gottes Handeln und Wille sind nicht äußerlich sichtbar, sondern müssen in den Verhältnissen entdeckt werden.

      D. Literarische und thematische Merkmale der anderen Textfassungen von Ester

      1. Proto-Ester: Aufbau und Themen226

      Wie wir gesehen haben, bietet Proto-Ester einen Text, der den Kapiteln 1,1–8,2 des MT nahe, aber etwas kürzer ist. Die Anordnung der Episoden entspricht weitgehend den parallelen Abschnitten des MT. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Proto-Ester nach Hamans Hinrichtung nichts von Rückschlägen weiß: Der Erlass zur Vernichtung der Juden wird einfach aufgehoben.227 Somit kommt es in Proto-Ester weder zur Bekanntmachung eines Gegenerlasses noch zum militärischen Konflikt mit den Feinden der Juden noch zur Einführung eines Fests zur Feier des jüdischen Sieges.

      In Proto-Ester ist das persische Imperium reich, mächtig und gut organisiert. Als Erben der griechischen Vorstellungen von der persischen Welt berichten die Redaktoren von Proto-Ester von erstaunlichen Gepflogenheiten: Es werden luxuriöse Festmähler organisiert, und es gibt einige ungewöhnliche Gesetze wie etwa das Verbot des Vorsprechens beim König, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Proto-Ester betont jedoch die Lasten und Absurditäten der Gebräuche am Hof des Großkönigs deutlich weniger stark als der MT: Die Meinungen der königlichen Berater verraten weder persönliche Interessen noch burleske Züge hinsichtlich eines befürchteten Aufstands der Frauen (Kap. 1); das Vorgehen bei der Suche nach einer neuen Königin bleibt im Rahmen des Vernünftigen – es müssen nicht gleich sämtliche junge Frauen einbestellt und einem ganzen Jahr der Vorbereitungen unterzogen werden (Kap. 2); und Mordechai kann direkt mit Ester in Kontakt treten (Kap. 4).

      Proto-Ester insinuiert auch nicht, dass die Funktionsstörungen in der Verwaltung des Persischen Reichs eine maßgebliche Rolle beim Zustandekommen des Erlasses spielen, der die Juden in ihrer Existenz bedroht. Für Proto-Ester liegt die Verantwortung im Wesentlichen bei Haman,


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