Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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Sein Charakter wird sogar positiv dargestellt. In den Kapiteln 6 und 7 spricht er bedächtig und zeigt sich wohlwollend gegenüber Ester und Mordechai.228

      In Proto-Ester ist Mordechai kein königlicher Beamter. Zu Beginn der Erzählung verbergen Mordechai und Ester ihre jüdische Identität nicht. In dieser Version der Ester-Erzählung sind die Juden nicht von vornherein aufgrund ihrer jüdischen Herkunft bedroht, und die Frage der freiwilligen Assimilation jener Juden, die in der Nähe der Macht leben, wird nicht problematisiert.

      Bevor sie bedroht sind (Kap. 3), verhalten sich Ester und Mordechai ganz wie andere Mitglieder der persischen Gesellschaft. Proto-Ester spricht nicht davon, dass die Verbindung von Ester und Mordechai weiter besteht, nachdem sie Königin geworden ist. Mordechai scheint sich mit Esters Schicksal bei Hofe nicht zu beschäftigen, und niemand hat irgendeine Verschwörung zu melden.

      In Proto-Ester scheinen Ester und Mordechai etwas weniger entschlossen und „heroisch“ zu sein als im MT. Proto-Ester thematisiert ihre Gefühle und Ängste bei zahlreichen Gelegenheiten. Mordechai und Ester haben Angst, wenn sie Haman gegenübertreten müssen (4,16 und 7,2), und die Königin zögert, bevor sie ihn beim König anzeigt (7,6).

      Proto-Ester hebt göttliches Handeln und jüdische Rituale nicht besonders hervor, spricht aber dennoch deutlicher davon als der MT. Haman wendet sich beim Ziehen der Lose an seine Götter (3,7), und seine Frau sagt ihm zuletzt, dass Gott gegen ihn sei (6,22). Mordechai sagt Ester, dass Gott ihrem Volk helfen wird (4,9), und sie bittet ihn, zu beten und zu einer Gebetsversammlung aufzurufen (4,11). Der Allmächtige lässt den König an Schlaflosigkeit leiden (6,1), Mordechai wendet sich dem Herrn zu (6,16–17), und Gott schenkt Ester Mut. Schließlich spielt in Proto-Ester die Chronologie kaum eine Rolle, aber das Datum des 13. Nisan, das für das Massaker an den Juden gewählt wurde (3,7), ist dennoch eine Anspielung auf Pessach.

      2. Die griechischen Versionen: Aufbau und Themen

      Wie oben erwähnt229 teilt die LXX in der „gemeinsamen Erzählung“ den Aufbau und die Themen des MT, von dem sie weitgehend abhängig ist. Das Vorhandensein der Zusätze A–F in der LXX verändert aber den Aufbau im Ganzen und wirkt sich darauf aus, wie die Erzählung interpretiert werden kann.

      Die „theologische“ Dimension des Werks, die in der „gemeinsamen Erzählung“ mehr oder weniger am Rande stand, tritt durch die Zusätze A1, C, D und F entschieden hervor. Ester und Mordechai bekennen sich in ihren Gebeten zur göttlichen Souveränität über die Geschichte (C,1–4.23b) und bekräftigen, dass die Juden Gottes Erbbesitz sind (C,8a.9.16). Ester weist sogar darauf hin, dass die traurige Situation der Deportierten als Strafe Gottes verstanden werden kann (C,17–18). Das Gebet der beiden Helden (C,10.22–25.30b) drückt die Überzeugung aus, dass Gott am Werk ist, wenn die Juden gerettet werden. Mordechais ahnungsvoller Traum (A1) und seine Interpretation (F) setzen voraus, dass Gott Herr über die Ereignisse ist (F,6–9).

      Die Ergänzungen machen auch die Motivationen der Protagonisten und den Sinn ihrer Taten deutlicher. In der „gemeinsamen Erzählung“ (3,2–4) wird nicht gesagt, warum Mordechai es ablehnt, sich niederzuwerfen, aber sein Gebet erklärt, dass man sich nur vor Gott niederwerfen dürfe (C,7). In der „gemeinsamen Erzählung“ ist die Vorstellung, dass eine jüdische Frau Königin von Persien wird, weder etwas Positives noch etwas Negatives, aber Esters Gebet (C,26–29) erwähnt, dass sie angewidert ist, die Frau eines ausländischen Königs zu sein, und dass sie nicht an den Mahlzeiten der Heiden teilnimmt. Schließlich beschreibt Zusatz D das erste Vorsprechen der Königin vor dem König auf eine viel theatralischere Weise als der MT. Hervorgehoben werden dabei die Unsicherheit ihrer Lage und ihre Angewiesenheit auf Gott – beides Elemente, die das Herz des Königs milde stimmen (D,8).

      In den Zusätzen A1, C, D und F wird die nichtjüdische Welt sehr negativ gezeichnet in dem Sinne, dass jüdisches dort Leben fast unmöglich ist. Laut den Gebeten von Ester und Mordechai ist das Leben eines gläubigen Juden in der nichtjüdischen Welt kompliziert und mühsam.

      In den Zusätzen A2, B und E werden die Nichtjuden weniger kritisch gesehen. Für die beiden königlichen Erlasse trägt Haman die Verantwortung (E,5–6.10–14). Der Großkönig hingegen wird als weiser und gütiger Herrscher dargestellt, der von einem schlechten Berater getäuscht wurde (E,5–9). Wie schon in der Episode von der Intrige der Eunuchen in A,12–17 erscheinen die jüdischen Protagonisten als treue Untertanen des Königs (E,13), und die jüdischen Gesetze werden positiv beurteilt (E,15.19). Schließlich bekräftigt der persische König in seinem Erlass die alles überragende Macht des Gottes der Juden (E,16.21).

      Die griechischen Zusätze geben der Ester-Erzählung eine andere Tendenz, indem sie sie zu einer Geschichte machen, in der der allmächtige Gott die gläubigen Juden (A1, C, D und F) in einem Reich, das von einem weisen König regiert wird (A2, B, E), nachdrücklich beschützt.

      E. Perspektiven zu Raum und Zeit

      1. Die räumliche Aufteilung des Palasts

      Die Beschreibung der Stadt Susa und ihres Palasts entspricht ganz den Vorstellungen von einer orientalischen Hauptstadt in der Antike, und die verschiedenen Bereiche sind demgemäß angeordnet. Die Architektur besteht aus zahlreichen Gebäuden, Höfen (5,1; 6,4), Gärten, Pavillons (1,5; 7,7–8), Toren (3,3; 4,2) und Gemächern, von denen einige für Frauen reserviert sind (2,14). Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen kann kompliziert sein. Um den Palast zu betreten, ist laut MT angemessene Kleidung erforderlich (4,4). Vom Harem aus sind die königlichen Gemächer nicht leicht zu erreichen, da man den Innenhof passieren muss (2,14; 4,11; 5,1), während der Zugang vom äußeren Hof aus kein Problem darstellt (6,4).

      Schema des Palasts

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      Dieses Schema von Ahasveros’ Palast folgt den Beschreibungen orientalischer Paläste in der griechischen Literatur. Die königlichen Gemächer, mitsamt den Bereichen, die den Frauen vorbehalten sind, stellte man sich als riesige Irrgärten vor. Eine Abfolge von Hallen, Höfen und Toren führt von außen zu den privatesten Bereichen. Die Verständigung zwischen den einzelnen Gebäudekomplexen kann eine Vermittlung erforderlich machen, und die Höfe können als Wartebereiche dienen.230

      2. Die chronologische Ordnung im Buch Ester

      Die Zeitangaben im Text erlauben die Rekonstruktion eines in sich schlüssigen Ablaufs der Ereignisse, wobei bestimmte Ereignisse auf symbolisch bedeutsame Zeitpunkte fallen. Während Proto-Ester sich wenig für die Chronologie des Geschehens interessiert231, zeugen die zahlreichen chronologischen Hinweise im MT und in der LXX von einer viel weiter entwickelten redaktionellen Konstruktion. Diese Hinweise strukturieren die Erzählung und verleihen ihr eine tiefere Bedeutung, indem sie bestimmte Ereignisse mit dem liturgischen Kalender verbinden und reguläre Zeitdauern festlegen, in denen verschiedene Begebenheiten gleichzeitig stattfinden können.

      2.1. Die chronologische Ordnung im masoretischen Text

      Die Ereignisse fallen in die Zeit zwischen Ahasveros’ drittem und zwölftem Jahr. Einige absolute chronologische Angaben erwähnen das Jahr, den Monat und den Tag. Das Jahr ist immer das Jahr X der Regierungszeit von Ahasveros. Der Monat wird durch eine Kombination seiner Ordnungszahl und seines hebraisierten babylonischen Namens gekennzeichnet: „Im ersten Monat, dem Monat Nisan“ (Est 3,7).

      Des Weiteren macht der Text Angaben zur Dauer bestimmter Ereignisse232 sowie relative Zeitangaben, wonach ein Ereignis nach einem bestimmten Geschehen (2,1; 3,1) oder in unmittelbarer Folge auf ein anderes Ereignis (5,4; 6,1.10.14; 8,1) eintritt.

      Die chronologische Ordnung des MT von Ester ist vollkommen schlüssig. Um ihre Logik und damit die Art und Weise zu verstehen, wie die Redaktoren ihr System entwickelt haben, ist von drei Dingen auszugehen: 1. Wenn eine Angabe keinen Monat oder Tag erwähnt, muss sie sich auf den


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