Ester. Jean-Daniel Macchi

Ester - Jean-Daniel Macchi


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39, zählt Ester nicht zu den 22 kanonischen Büchern des Alten Testaments, aber zu jenen, die von Neulingen im Glauben gelesen werden können. Bei jenen christlichen Autoren zwischen dem vierten und dem Anfang des fünften Jahrhunderts, die Ester hingegen als kanonisch einstufen, kann unterschieden werden zwischen jenen, die nur die Bücher der jüdischen Bibel anerkennen, und jenen, deren Kanon weiter gefasst ist. Kyrill von Jerusalem (ca. 380)260, Epiphanios von Salamis (375 und 392)261, das Konzil von Laodicea (ca. 360)262, die Apostolischen Kanones263 und Rufinus von Aquileia264 führen Ester in einer kurzen Liste kanonischer Bücher. Als Teil eines umfangreicheren Kanons, der die Texte der LXX einbezieht, erscheint Ester in den wichtigsten griechischen Codices der Bibel (Vaticanus, Sinaiticus, Alexandrinus).

      In der lateinischsprachigen Welt265 halten sich die Beschlüsse der Kirchen Nordafrikas und Roms – Konzile von Hippo (393), Karthago (397 und 418)266 – sowie Augustinus267 an einen umfassenden Kanon, der nicht zwischen den Texten des jüdischen Kanons und jenen, die nur in der LXX enthalten sind, unterscheidet. An der Wende zum fünften Jahrhundert tritt in der lateinischen Kirche Hieronymus am entschiedensten für einen kurz gehaltenen Kanon ein. Die Kanonizität von Ester stellt er nicht in Frage, aber die sechs Zusätze der LXX verschiebt er in den Anhang.

      Da der Status von Texten, die im hebräischen Kanon nicht vorkommen, im frühen Christentum nicht endgültig festgelegt worden war, tauchte die Debatte darüber während der Reformation wieder auf.268 Im Anschluss an Luther geht der Protestantismus davon aus, dass das Alte Testament der jüdischen Bibel entspricht. Infolgedessen ordnen die protestantischen Bibeln die deuterokanonischen Texte meist zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ein. Diese Texte, zu denen die griechischen Ergänzungen von Ester gehören, gelten nicht mehr als kanonisch, obwohl ihre Lektüre immer noch als nützlich erachtet wird. Erst im 19. Jahrhundert veröffentlichen christliche Bibelgesellschaften Bibeln ohne die deuterokanonischen Schriften, da ihr Gebrauch in den Kirchen der Reformation immer mehr zurückging.

      Der Katholizismus hingegen unterscheidet nicht zwischen den Büchern des Alten Testaments, die im jüdischen Kanon enthalten sind, und jenen, die darin nicht vorkommen.269 Die Gegenreformation stufte beim Konzil von Trient im 16. Jahrhundert die biblischen Schriften nicht nach verschiedenen Graden der Kanonizität ein. Für das Buch Ester heißt dies, dass in den traditionellen katholischen Bibeln in Übereinstimmung mit der Vulgata die sechs Zusätze dem Buch an die Kapitel 10 (ab Vers 4) bis 16 angehängt sind.

      In den orthodoxen Kirchen entspann sich im 17. Jahrhundert eine Debatte, die mit dem, was in den Kirchen des Westens geschah, durchaus verglichen werden kann. Zusätzlich zu den Büchern des hebräischen Kanons wurde die Kategorie „zur Lektüre zugelassene Bücher“ eingeführt und darunter eine noch größere Zahl von Büchern270 gefasst als im katholischen Kanon.

      2. Ein Buch für das Purimfest271

      Seit das Buch Ester die im MT und in der LXX fixierte Form erreicht hatte – also spätestens zu Anfang des ersten Jahrhunderts v. u. Z. –, sah man es wahrscheinlich als Gründungsdokument der Purimfeiern an. Ester 9,20–32 hebt hervor, wie wichtig es sei, das Fest auf Dauer einzuführen, um den in der Erzählung beschriebenen Sieg zu feiern. Der Kolophon zu Ester in der LXX (Zus. F,11) scheint das ganze Buch mit dem in 9,20–32 erwähnten Brief zu identifizieren. Außerdem leiten sich rabbinische Traditionen in Verbindung mit Purim seit dem Ende des ersten Jahrhunderts u. Z. von Punkten ab, die nachweislich oder angeblich im Buch Ester selbst enthalten sind.

      Laut dem Buch wurde das Fest von den siegreichen Juden in Susa am 15. Adar, aber überall sonst am 14. Adar gefeiert. Die Mischna und die Talmude legen fest, dass Purim fortan am 15. Adar in Städten gefeiert werden muss, die zur Zeit Josuas befestigt worden waren – dies wird פורים שושן (Purim von Susa) genannt –, und am 14. Adar an allen übrigen Orten. Darüber hinaus bestimmen rabbinische Traditionen, dass in einem Schaltjahr, wenn es zwei Monate Adar gibt, am 14. Adar I ein „Kleines Purim“ (פורים קטן), ein halbfestlicher Tag, abgehalten werden soll und das reguläre Purimfest am 14. Adar II zu feiern ist.

      Die öffentliche Lesung der Esterrolle ist der wichtigste der mit Purim verbundenen Bräuche, die auch Mischna und Talmud verbindlich festlegen. Es gibt eine ganze Reihe von Vorschriften über die Art der zu verwendenden Schriftrolle, die Zeit, zu der die Lesung erfolgen muss, und Einzelheiten darüber, wie gelesen werden soll.272

      Nach Est 9,21–22 soll auch ein freudiges Festessen stattfinden. Der gegenseitige Austausch von Speisen zwischen Nachbarn und Freunden sowie Geschenke an die Armen gehören zum Fest dazu. Purim zeichnet sich durch eine festliche, sogar karnevaleske Atmosphäre aus. Der Babylonische Talmud ermuntert zudem zu lustigem Beisammensein und Trinkgelagen an Purim.273

      Verschiedene weitere Festbräuche sind mit Purim verbunden. Wenn heute in den Synagogen die Schriftrolle gelesen wird, macht die Gemeinde Lärm, sobald der Name Hamans erwähnt wird, um ihn zu übertönen, gemäß dem Gebot, die Erinnerung an Amalek zu tilgen (Dtn 25,19).274 Seit dem Ende des Mittelalters sind verschiedene Arten von ausgelassenen und karnevalesken Festen bezeugt. Im 15. Jahrhundert tauchte der Brauch auf, sich an Purim zu verkleiden. Im aschkenasischen Judentum entstand im 16. Jahrhundert die Tradition des Purimspiels. Anfänglich handelte es sich dabei um poetische Monologe, aus denen sich mit der Zeit echte burleske Theaterstücke über verschiedene, oft biblische Themen entwickelten. Manche jüdische Gemeinden pflegen besondere Bräuche wie das Verbrennen einer Haman-Puppe, das Werfen von mit Hamans Namen markierten Steinen oder das Zünden von Böllern am Vorabend von Purim.

      Die christlichen Karnevalsbräuche am Winterende dürften die Entstehung der Purimbräuche beeinflusst haben. Umgekehrt jedoch erklären der ironische Blick auf mächtige Individuen, das Thema des exzessiven Weingenusses sowie die Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung, die im Buch Ester ein Thema ist, warum Karnevalsbräuche leicht mit Purim in Verbindung gebracht werden können. Es wäre dennoch übertrieben, das Esterbuch als einen spezifisch karnevalesken Text zu lesen.275

      Zuletzt sei erwähnt, dass manche jüdischen Gemeinden in Entsprechung zur Feier der Rettung der Juden während der Zeit von Ahasveros „besondere Purims“ feiern, die an Vorkommnisse erinnern, als Juden vor besonderen Gefahren gerettet wurden.

      3. Ein inspirierendes Buch (zur Rezeption)

      Eine detaillierte Behandlung der Rezeption des Esterbuchs würde den Rahmen dieses Kommentars sprengen.276 Es kann jedoch sinnvoll sein, einige der großen Rezeptionslinien bis ins 18. Jahrhundert nachzuvollziehen.

      3.1. Ester im Judentum

      Das Buch Ester hatte im Judentum ein großes Echo.277 Dies ist zweifellos auf die Verwendung von Ester in der Purim-Liturgie und auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Themen des Buchs wichtige Anliegen der Juden zum Ausdruck bringen. Seine Bedeutung zeigt sich auch darin, dass die Geschichte unter den ältesten jüdischen ikonografischen Darstellungen aus dem 3. Jahrhundert, den Fresken der Synagoge von Dura Europos, einen wichtigen Platz einnimmt.278

      Auf literarischer Ebene spielt Ester eine wichtige Rolle in den beiden Hauptgattungen der antiken rabbinischen Exegese, Halacha und Aggada. Da sie die Purimrituale einführt, nimmt die Esterrolle logischerweise einen bedeutenden Platz in der Halacha, der rabbinischen Rechtsüberlieferung, ein. Der Mischna-Traktat Megilla (zehnter Traktat der Ordnung Moʿed) widmet sich den Riten von Purim. Wie die Mischna enthält auch die Tosefta den Traktat Megilla. Die Gemara des Babylonischen und des Jerusalemer Talmuds (6. Jahrhundert u. Z.) entfaltet ebenfalls den Inhalt des Mischna-Traktats Megilla.

      Darüber hinaus öffnete das Buch Ester in der Aggada – dem nichtrechtlichen Material des Talmuds und der Midraschim – die Tore zu einer eindrucksvollen Literatur legendenhafter narrativer Entfaltungen, die verschiedene Episoden der Erzählung ergänzen, sowie zu exegetischen und homiletischen Kommentaren zum Buch. In gewisser Weise können die sechs „Zusätze“ im A.-T., in der LXX und in den lateinischen Texten ebenfalls als antike midraschartige Entfaltungen


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