Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion. Urs Brunner
einen einzigen Zweck der Sexualität, nämlich den „der Familie, der Ehe; das ist der, dem Volk gesunde Kinder zu schenken und sie zu gesunden, anständigen deutschen Frauen und Männern zu erziehen“160. Frauen wurden systematisch aus speziellen Berufsgruppen gedrängt161, denn das Ideal einer (linien) treuen deutschen Ehefrau sah nach den Moralvorstellungen der Nationalsozialisten folgendermaßen aus: Sie hatte sich um ein schönes Zuhause und um ihren arischen Nachwuchs zu kümmern. Um diesem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, hatte bereits ab August 1933 jede deutsche verheiratete Frau, die ihren Job aufgab, Anspruch auf eine staatliche Förderung, ein sogenanntes Ehestandsdarlehen, von dem ihr bei jeder Geburt eines Kindes 25 Prozent der Rückzahlung erlassen wurden.162 Besonders kinderreiche Mütter mit mindestens vier Sprösslingen wurden später sogar mit dem „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“ ausgezeichnet.163
Abb. 7: Ehrenkreuz der Deutschen Mutter. Trägerin und Übergabedatum sind unbekannt.
Auf die männliche Bevölkerung war der Druck von außen, möglichst viele Kinder zu zeugen, um nichts geringer: Beamte ohne Nachwuchs galten als Saboteure und eine Lehrstelle war oft nur in Verbindung mit dem Versprechen einer Heirat am Ende der Ausbildungszeit zu ergattern.164 Werte wie Liebe und geistige Gemeinschaft zwischen Eheleuten wurden dem primären Zweck der Fortpflanzung und Nachwuchssicherung untergeordnet.165 Der Familienrechtsausschuss der Akademie für deutsches Recht formulierte 1936 den Begriff Ehe als
(…) die von der Volksgemeinschaft anerkannte, auf gegenseitige Treue, Liebe und Achtung beruhende dauernde Lebensgemeinschaft zweier rassegleicher, erbgesunder Personen verschiedenen Geschlechts zum Zweck der Wahrung und Förderung des Gemeinwohls durch einträchtige Zusammenarbeit und zum Zweck der Erzeugung rassegleicher, erbgesunder Kinder und ihrer Erziehung zu tüchtigen Volksgenossen.166
Geburtenförderung und Gebärverbot gingen demnach Hand in Hand, denn dass sich die Fortpflanzung lediglich auf die arische Bevölkerung beziehe, das formulierte Hitler unmissverständlich in „Mein Kampf“: „(…) als ob die Behandlung seines Körpers jedes einzelnen Sache selber wäre. Es gibt keine Freiheit, auf Kosten der Nachwelt und damit der Rasse zu sündigen.“167 Eine Vermischung mit „Nicht-Ariern“, „Asozialen“ oder „Degenerierten“ bringe nur „unwerten“ Nachwuchs und war strengstens untersagt.168
Ganz unumstritten war Hitlers Sexualmoral jedoch selbst unter seinen engsten Gefolgsleuten nicht. Während manche Nazis die Ehe als zwingende Voraussetzung für die so dringlich gewünschte Vermehrung der arischen Rasse sahen169, bezeichneten sie andere – darunter Reichsführer SS Heinrich Himmler − sogar als „satanisches Werk der katholischen Kirche“170 und somit als Hemmschuh der sexuellen Fortpflanzung. Klar definierte sexuelle Verhaltensregeln für den arischen Bürger gab es nicht. „Sitte und Moral wurde zwar oft zitiert, aber nie definiert“171. Inmitten der Wirren um die Sexualreform ergriffen somit viele Nationalsozialisten aus der Führungsriege selbst die Initiative, um ihre eigenen Bedürfnisse − und nicht selten exzessiven Fantasien − verwirklichen zu können. Kaum ein Vertreter der NS-Elite hielt sich an die dem Volk gepredigten moralischen Floskeln wie etwa: „Bescheiden, ehrlich und treu stehst du am Webstuhl des neuen Deutschlands.“172 Ganz im Gegenteil: Hinter den Kulissen lebten die Parteibonzen in Saus und Braus, gleichsam in einem „NS-Sündenbabel mit Doppel- und Dreifachmoral“173. Propagandaminister Joseph Goebbels‘ Spitzname war bezeichnenderweise „Kaulquappe“, denn es hieß, er bestehe nur aus Kopf und Schwanz.174 SS-Chef Heinrich Himmler vergnügte sich neben seiner Ehefrau auch mit seiner Sekretärin175, Reichsleiter Martin Bormann zeugte zehn eheliche Kinder und hielt sich – mit Einverständnis seiner Gattin176 − eine Nebenfrau. Extreme, maßlose und übertriebene Sexualvorstellungen wurden von der Nazi-Oberschicht ausgelebt und ehebrecherische Eskapaden standen auf der Tagesordnung − und das alles „Mit Wissen und Billigung Hitlers (…)“177. Es wurde nach zweierlei Maß gemessen. Was für die Masse bestimmt war, galt nicht für die Elite. Sie war durch nichts gebunden, weder durch ihr eigenes politisches Programm noch durch Weltanschauung oder ethische Normen178, urteilte der frühe Parteigänger und erste prominente Abtrünnige des Nationalsozialismus, Hermann Rauschning179, aus eigener Erfahrung.
In diesem bunten Treiben war auch der sonst eher „verklemmte“180 „Führer“ alles andere als ein „Spaßverderber“:
Ich hasse diese Prüderie und Sittenschnüffelei (…) Ich werde keinem meiner Leute ihren Spaß verderben. Wenn ich von ihnen das Aeußerste verlange, so muß ich ihnen auch freigeben, sich auszutoben wie sie wollen, nicht wie es alten Betschwestern paßt. Meine Leute sind, weiß Gott, keine Engel, und sollen es nicht sein. Sie sind Landsknechte und sollen es bleiben. Ich kann Duckmäuser und Tugendbündler nicht brauchen. Ich kümmere mich nicht um ihr Privatleben, so wie ich es mir verbitte, daß man hinter meinem Privatleben herschnüffelt.181
Prinzipiell kümmerte sich Hitler nicht um Moral oder Unmoral seiner wichtigsten Paladine, solange diese nicht seine Pläne durchkreuzten. Wo Hitlers Toleranzgrenze lag, wusste allerdings niemand so genau und so lebte die NS-Elite wie unter einem Damoklesschwert, denn nur der „Führer“ selber bestimmte, wann und wer seine ungeschriebenen Moralvorschriften verletzte und daraufhin bestraft werden sollte.182
Jede Menge Spielraum gewährte Hitler beispielsweise seinem Reichsorganisationsleiter Robert Ley. In der Öffentlichkeit nur selten nüchtern, erhielt er den Spitznamen „Reichstrunkenbold“183 und auch seine hemmungslosen Affären – vorwiegend mit sehr jungen Mädchen – sorgten im Reich für ausreichend Gesprächsstoff. Drei Jahre lang hatte der allseits als „Schürzenjäger“ bekannte Ley ein Verhältnis mit Inga Spilker, der Tochter des Opernsängers Max Spilker. Als seine Geliebte schwanger wurde, ließ Ley sich 1938 von seiner herzkranken Frau Elisabeth scheiden und heiratete noch im selben Jahr die um 26 Jahre jüngere Sopranistin. Sogar Hitler war auf seiner Hochzeit zu Gast. Aber auch diese Ehe hielt Ley von sexuellen Abschweifungen nicht ab. Von ihrem Ehemann ständig betrogen, verfiel die junge Künstlerin dem Alkohol und wurde depressiv.184 Himmlers Masseur Felix Kersten erlebte im Hause Ley,