Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion. Urs Brunner
weinende Inga beschimpfte daraufhin ihren Mann als wildes Tier: „Er behandelt mich schamlos (…) eines Tages bringt er mich noch um.“185 Ein Jahr später, am 29. Dezember 1942, nahm sich Inga Ley das Leben.186 Hitler ignorierte die im Selbstmord endenden ehelichen Streitigkeiten der Familie Ley gänzlich. In einem Kondolenzschreiben behauptete er, dass die jahrelange Krankheit den Lebenswillen der jungen Frau gebrochen hätte. Nach dem Tod seiner Gattin fand der trauernde Witwer Ley rasch Trost bei der noch minderjährigen Estländerin Madeleine Wanderer. Aber auch diese nach nationalsozialistischen Grundsätzen moralische wie rechtliche Verfehlung wurde von Hitler und seiner Justiz wohlwollend geduldet.187 Und nicht nur das, Hitler amüsierte sich über Leys exorbitante und zügellose Auftritte. Augenzeugenberichten zufolge erschien der völlig betrunkene Ley eines Tages in den Modellräumen der ihm nicht ressortzuständigen Stadtplanung im piekfeinen Maßanzug mit Handschuhen und Strohhut und gab den Architekten Anweisungen zum Bau von Bordellen: „Ich bebaue hier den ganzen Block (…) und Nutten brauchen wir auch! Viele, ein ganzes Haus, ganz modern eingerichtet. Alles werden wir in die Hand nehmen, ein paar Hundert Millionen für den Bau, das spielt keine Rolle!“188
Abb. 8: Reichsorganisationsleiter, „Reichstrunkenbold“ und „Schürzenjäger“ Robert Ley mit seiner jungen Frau, der Sopranistin Inga Ley im Wiener Raimundtheater am 16. November 1938
Sah Hitler in jemandem einen politischen Nutzen, so existierte für ihn weder die NS- noch sonst irgendeine Moral. Er duldete Fehltritte, tolerierte Korruption ebenso wie Verbrechen und lachte herzlich über die sexuellen Ausschweifungen und Anekdoten seiner wichtigsten Männer. Angesichts dieser offen zur Schau gestellten Laisser-faire-Haltung des „Führers“ wiegten sich die NS-Bonzen allerdings in trügerischer Sicherheit. Denn so manche Verfehlung eines unbequemen Politikers oder Parteigenossen wurde, wenn die Zeit dafür reif war und Hitler es so wollte, ans Tageslicht gezerrt.189
Die legalisierte Willkür Hitlers, dass jeder Bürger bestraft werden durfte, der „nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“190, wurde auch auf die Sexualmoral seiner politischen Gegner ausgedehnt. Dies bekam beispielsweise Kriegsminister Werner von Blomberg zu spüren. Als bereits 59-Jähriger verliebte sich der Minister in die junge Stenotypistin Eva Gruhn, eine Frau mit einer gewissen Vergangenheit. Die um 35 Jahre jüngere Auserwählte hatte im Alter von 18 Jahren für Nacktfotos posiert und als registrierte Prostituierte, die zudem gelegentlich ihre Kunden bestahl, gearbeitet.191 Weil Blomberg die junge Schönheit heiraten wollte, ersuchte er Hermann Göring192 um Rat. Der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe riet dem Minister, der zudem Hitlers Kriegspläne behinderte, mit ruhigem Gewissen zu heiraten, und Göring half außerdem, Blombergs Nebenbuhler ins Ausland zu vertreiben. Während Hitler und Göring als Trauzeugen bei der Hochzeit im Januar 1938 auftraten, bearbeitete die Gestapo bereits den Fall Blomberg-Gruhn und sammelte Beweismaterial gegen den Kriegsminister. Als ein Foto auftauchte, das die junge ehemalige Prostituierte beim Geschlechtsverkehr mit einem jüdischen Tschechen zeigte, reagierte Hitler offiziell entgeistert, war insgeheim aber erleichtert, seinen unliebsamen politischen Gegner nun auf diese Weise loszuwerden. Hitler informierte Blomberg kurz nach dessen Hochzeitsreise, dass er für sein Amt als Minister untragbar geworden sei, und forderte seinen Rücktritt.193
Auch Joseph Goebbels überspannte den Bogen und erreichte Hitlers Toleranzgrenze. Der Propagandaminister galt als Weltmeister im Seitensprung. Dass seine zahlreichen Liebesabenteuer – die Goebbels in seinen Tagebüchern verewigte – auch in der Öffentlichkeit bestens bekannt und berüchtigt waren, war dem „Edlen Bock von Babelsberg“194, dem „Hahn von Schwanenwerder“195 selbst − und wohl auch dem „Führer“ − eher gleichgültig, solange seine amourösen Eskapaden nicht seine politische Stellung gefährdeten.196 Sein starker Drang zum weiblichen Geschlecht war Goebbels schon als 28-Jährigem durchaus bewusst. Am 15. Juli 1926 schrieb er in sein Tagebuch:
Jedes Weib reizt mich bis aufs Blut. Wie ein hungriger Wolf rase ich umher. Und dabei bin ich schüchtern wie ein Kind. Ich verstehe mich manchmal selbst kaum. Ich müßte heiraten und ein Spießbürger sein! Und mich dann nach acht Tagen aufhängen! Gute Nacht!197
Abb. 9: Reichspropagandaminister und „Kaulquappe“ Joseph Goebbels und seine tragische Geliebte, die Schauspielerin Lída Baarová, als Gäste bei der Uraufführung des Films „Olympia“ von Leni Riefenstahl im Berliner Ufa-Palast am 20. April 1938
Ein „Spießbürger“ wurde er dann schließlich aber doch, als er im Dezember 1931 Magda Quandt heiratete und Hitler selbst als Trauzeuge seinen Segen zu dieser Ehe gab.198 Doch neben seinen ungefährlichen, flüchtigen Liebschaften lernte der Reichspropagandaminister 1936 die damals 19-jährige tschechische Schauspielerin Lída Baarová kennen. Die Liebesaffäre der beiden wurde schnell zu einem öffentlichen Skandal. Weil Goebbels sich weigerte, seine Geliebte aufzugeben, ließ seine Ehefrau Magda Beweismaterial gegen ihren Mann sammeln. Karl Hanke, Unterstaatssekretär im Propagandaministerium, half ihr dabei und erstellte eine Liste von Goebbels‘ insgesamt 36 Ehebrüchen, darunter fanden sich viele Schauspielerinnen und Damen der Gesellschaft. Erst als Hitler von Magdas Scheidungsabsichten erfuhr, beschloss er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, weil er Goebbels‘ Frau sehr schätzte.199 Er erteilte seinem Minister den Führerbefehl, den Kontakt zu Lída Baarová umgehend einzustellen, welchen Goebbels schließlich widerwillig befolgte.200 Doch Magda hatte sich in der Zwischenzeit in Hanke – den Unterstaatssekretär ihres Mannes – verliebt und wollte ihn sogar heiraten. Aber nun war es Goebbels selbst, der eine erzwungene Versöhnung unbedingt durchsetzen wollte.201 Hitlers Kommentar dazu: „Bei Frauen ist Goebbels ein Zyniker.“202 Der Propagandaminister hatte später weiterhin zahlreiche sexuelle Abenteuer, die allerdings seine Ehe nicht gefährdeten und für Hitler harmlos genug waren, um nichts gegen ihn zu unternehmen.203
Auch bei den exzessiven Frauengeschichten von Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), drückte Hitler wohl beide Augen zu. Es werden möglicherweise nicht zuletzt Heydrichs zahlreiche Bordellbesuche gewesen sein, die ihn angeblich später auf die Idee brachten, ein eigenes NS-Edelbordell in Berlin zu eröffnen. Seine Ehe mit Lina Heydrich war alles andere als glücklich und so suchte er wohl oft Ablenkung in Berliner Bars und Nachtlokalen. Gerüchteweise war ihm keine sexuelle Praktik abartig genug und Ehefrau Lina wusste von seinen ausgefallenen „horizontalen Bedürfnissen“.204