Hasi. Christoph Straßer
klar, alles klar«, lachte Rainer und hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin schon weg. Dann wünsche ich dir eine ruhige Schicht.«
»Ja, ja …«, sagte ich und sah meinem Kollegen nach, wie er Richtung Ausgang ging. Kurz davor stoppte er und drehte sich noch einmal zu mir herum.
»Hast du eigentlich meinen USB-Stick in den Müll geworfen?«
»Den mit den super Kackliedern aus dem scheiß Radio? Nein, warum?«
»Na ja, weil der im Papierkorb lag.«
Ich lächelte und zuckte mit den Schultern.
»Ist mir ein schleierhaftes Rätsel.«
»Tja, dann …«, sagte Rainer und schnappte seine Tasche. »Dann mach ich mich mal auf den Heimweg.«
»Tu das.«
Rainer ging aus dem Shop, und auf einem der Monitore konnte ich erkennen, wie er das Gebäude verließ. Auf nach Hause zur Katze und dem Ein-Zimmer-Apartment mit Kochnische.
»Inuit …«, murmelte ich. »So ein Quatsch.«
Jetzt hatten sogar schon die Schneeaffen eine politisch korrekte Bezeichnung. Aber es passte zu Rainer, sich für so einen Unfug zu interessieren. Wenn man sich ausschließlich mit Bus und Bahn fortbewegte, wie es Penner, Studenten, Greta-Jünger und eben Rainer taten, dann hatte man viel Zeit, um sich mit derlei Krempel zu befassen. Aus dem Fenster zu starren war eben nicht besonders aufregend.
Ich drehte eine kleine Runde durch den Shop, in dem es totenstill war. Rainer hatte den Lärm, den er als Musik bezeichnete, entweder gar nicht erst ein- oder kurz vor meiner Ankunft ausgeschaltet. So oder so war es mir nur recht. Ich lehnte mich an eine Säule, an der billige Kunstlederpeitschen und andere Kinkerlitzchen aufgehängt wurden und auf Käufer warteten, die nie kamen.
Ich zog den Brief für meinen mir unbekannten Nachbarn Martin Koch aus der Tasche und öffnete ihn. Dem armen Kerl verweigerte man für einige Monate ein Drittel seines Hartz IV-Satzes, da er seinen Job selbst gekündigt und sich so selbstverschuldet in die Hilfebedürftigkeit begeben hatte, wie es in dem Schreiben hieß. Der Spinner konnte froh sein, wenn er überhaupt noch etwas bekam. Das Recht auf freie Berufswahl und das Handaufhalten beim Steuerzahler passten nun einmal nicht zusammen. Wäre es so leicht, hätte ich bereits vor Jahren ein entspanntes Leben auf der Couch meinem Jetzigen vorgezogen. Ich ging zur Theke, beugte mich über sie und warf das zerknüllte Schreiben in den Abfalleimer. Der gute Martin würde schon noch früh genug von seinem Glück erfahren, spätestens, wenn er am Automaten Geld abheben wollte, das er gar nicht besaß.
Ich hockte mich auf die Theke und legte den Kopf in den Nacken. Langsam wurde ich etwas munterer, auch wenn ich mich im Angesicht von sieben Stunden absoluter Zeitverschwendung nicht darüber freuen konnte. Aber mir war irgendwann aufgefallen, dass es mir hier in diesem Laden am besten ging, natürlich in rein körperlicher Hinsicht. Draußen in der richtigen Welt hatten alle Termine und ständig die Uhr im Auge. Jeder war pausenlos auf dem Weg irgendwohin. Zur Arbeit, nach Hause, zum Sport, zum Friseur, zum Supermarkt, zur Kneipe, zu Freunden … Alle waren unterwegs. Immer. Nur hier drin schien die Zeit still zu stehen. In einer Wüste, die nicht aus Sand, sondern aus Zeitpartikeln bestand, wirkte dieser Sexshop wie eine Oase. Aber wenn er einen erst einmal in den Fängen hatte, dann entpuppte sich diese Oase sehr schnell als eine Gruft. Hier bewegte sich gar nichts, überhaupt nicht. Und hier schien auch niemals die Sonne.
Dass ich mich ausgerechnet hier am wohlsten fühlte, gab mir zu denken. Vielleicht verwandelte ich mich gerade in eine Art Reptil, das immer dann am zufriedensten war, wenn man es auf einen Stein unter Kunstlicht legte. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Unter Kunstlicht befand ich mich tatsächlich pausenlos, viel künstlicher als unter den unsagbar billigen Neonröhren ging es praktisch gar nicht.
Fehlte lediglich ein Stein. Ein Stein hatte in meinem Leben bisher noch keine Rolle gespielt. Aber das konnte ja noch werden.
Eine Bewegung auf einem der Monitore neben mir riss mich aus meinen Gedanken. Ich beugte mich ein Stück nach hinten, um besser sehen zu können, und blickte direkt in Dustins feistes Gesicht, das breit in die Kamera grinste. Was machte der denn hier?, dachte ich.
Für gewöhnlich kam er bereits vormittags, sodass ich ihn praktisch nie zu sehen bekam. Dustin erschien hier neuerdings einmal in der Woche, um die Videokabinen zu leeren. Im Gegensatz zu Rainer und mir befreite er die Dinger aber nicht von Sperma und Taschentüchern, nein, Dustin holte das Geld. Normalerweise war das eine Aufgabe, die Kurt niemandem übertrug und gewissenhaft selbst erledigte, da ihm das Kabinengeld heilig war und er niemanden auch nur einen Blick darauf werfen ließ. Warum ihn neuerdings sein hässlicher Neffe vertreten durfte, wusste ich nicht.
Ich beobachtete auf dem kleinen Bildschirm, wie Dustin sorgsam die Tresore, die sich im Innern der Kabinen befanden, öffnete und das Papiergeld in eine silberne Geldbombe legte, während er die Münzen in einen alten Stoffbeutel rasseln ließ, auf dem noch in verblassten schwarzen Lettern Deutsche Bundespost zu erkennen war. Als Dustin nach einigen Minuten den letzten Tresor wieder geschlossen hatte, zwinkerte er noch einmal der Kamera zu, verschwand aus dem Gebäude und somit aus meinem Blickfeld.
Das dicke Schwein. Wenn ich mit 10.000 Euro oder mehr unter dem Arm durch die Gegend fahren könnte, hätte ich wahrscheinlich genauso gute Laune. Das war immerhin eine Menge Geld und lief dazu noch vollständig an der Steuer vorbei. Wer wusste schon, wie viel Geld so eine Wichskabine machte? Der Fiskus ganz sicher nicht, und mein Chef würde es ihm auch nicht verraten.
Seit ich hier arbeitete, und das waren inzwischen beinahe fünf Jahre, hatten die Läden bereits dreimal den Besitzer gewechselt. Meinen Arbeitsvertrag hatte ich bei einem kleinen, alten Wichtel namens Johnny unterschrieben. Johnny hieß eigentlich Hans-Werner, aber da ihn alle Johnny nannten, sollte ich es ebenso machen. Dieser Typ war noch einer von der alten Garde gewesen, der Anfang der 80er Jahre durch Videotheken und Sexshops reichgeworden war. Als er irgendwann merkte, dass eine Erfindung namens Internet ihm in nicht allzu ferner Zukunft Ärger machen würde, stieß er die Läden alle vollständig ab. Die drei Sexshops erwarb ein Typ namens Michael. Und genauso einfallsreich wie seine Eltern bei der Namensgebung waren, so clever war Michi in kaufmännischen Dingen. Seine erste Idee war gewesen, die Videokabinen abzuschaffen, weil er sie ekelhaft fand.
Viel lieber hätte er stil- und geschmackvolle Erotik-Boutiquen aus den Läden gemacht. Ich musste mit einigem Nachdruck auf ihn einreden, bis er endlich begriff, dass zumindest in dem Laden, in dem ich arbeitete, nur gehirnamputierte Neandertaler einkauften und das Einzige, was noch ein bisschen Geld abwarf, eben jene ekelhaften Videokabinen waren.
Glücklicherweise wurde Michi einige Tage nach Übernahme der Geschäfte von einem Auto angefahren und war körperlich derart im Arsch, dass er aufgrund seiner Erwerbsunfähigkeit die Läden gleich wieder verkaufen musste. Mit riesigen Verlusten, versteht sich. Vor zwei Jahren dann übernahm Kurt die Läden. Er war ein Chef, wie man ihn sich gar nicht besser wünschen könnte: Er hielt sich aus allem heraus, schien nichts verändern zu wollen und machte sich nicht einmal die Mühe, sich bei Rainer und mir vorzustellen. Seit er den Laden übernommen hatte, habe ich ihn nur drei- oder viermal persönlich getroffen.
Zum ersten Mal, als er schon über einen Monat offiziell der Besitzer war. Ich hatte auf einem der Monitore einen bulligen Kerl mittleren Alters entdeckt, der sich an den Tresoren der Videokabinen zu schaffen machte. Aus dem Personalraum hatte ich mir den Baseballschläger geholt, der dort schon seit Jahren gestanden hatte, und war damit in der Hand in den Gang mit den Kabinen gestürmt. Als ich vor dem Kerl stand, der gerade dabei gewesen war, mit dem Schlüssel einen weiteren Tresor zu öffnen, riet ich ihm dringend, mir das Ding zu geben und sich zu verpissen, wenn er nicht wollte, dass der Schläger auf seinem Schädel Polka tanzte. Der Kerl hatte mich völlig unbeeindruckt angesehen und dann gesagt, dass sein Name Kurt war, ihm der Laden gehörte und ich mich jetzt besser verziehen sollte, wenn ich nicht wollte, dass der Schläger in meinem Arsch Polka tanzte. Die Art, wie Kurt das gesagt hatte, ließ mich keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung zweifeln.
Wie auch Dustin heute, so hatte Kurt in aller Seelenruhe die Tresore geleert, behutsam das Geld verstaut und war