Die Frau im Schatten. Bodil Mårtensson

Die Frau im Schatten - Bodil Mårtensson


Скачать книгу
rasenden Crescendo kundzutun.

      »... Leben!!!«

      Etwas Scharfkantiges flog Sahlman an den Kopf.

      Obwohl der Stetsonhut das Gröbste abfing, tat es doch ziemlich weh. Gleichzeitig weckte ihn der Schmerz aus seiner alptraumhaften Trance.

      Er begriff, dass um ihn herum noch mehr von der Decke fiel, und stürzte in reinem Selbsterhaltungstrieb der Türöffnung entgegen.

      Er erreichte die Turmtreppe mit ein paar schnellen Sprüngen, blickte sich nicht um und preschte, so schnell er konnte, die schräg abgetretenen Treppenstufen abwärts.

      Er konnte sich definitiv nicht mehr um eine weitere Inspektion des Rittersaales oder der Küchenetage kümmern. Erst als er den Lichtschein von unten wahrnahm, hielt er inne und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen.

      Er lehnte sich erschöpft gegen das Gemäuer des Treppenhauses, während die Atmung in seinen Lungen rasselte und der Puls wie Urwaldgetrommel in seinen Schläfen hämmerte.

      Zu seiner Verwunderung merkte er, dass er sowohl die Pistole als auch die Taschenlampe noch immer bei sich hatte. In einem verzweifelten Versuch, die Kontrolle über sein Denkvermögen zurückzugewinnen, schüttelte er heftig den Kopf.

      Was zum Teufel war dort oben eigentlich geschehen?

      Er hatte keine vernünftige oder zumindest annehmbare Erklärung.

      Jetzt drangen Stimmen die gewundene Treppe hinauf, und im Stillen war er dankbar, dass es nur die der Museumsangestellten und des Direktors waren.

      »Wir sollten vielleicht...«, meinte der Direktor halbherzig vom Foyer aus.

      »Nie im Leben – ich gehe nicht eher da hoch, bis das hier geklärt ist!«

      Linda Persson klang noch immer äußerst bestimmt, und trotzdem war Sahlman innerlich froh, sie da unten sprechen zu hören.

      Er atmete mehrmals tief durch und räusperte sich, um zu kontrollieren, ob seine Stimme noch funktionierte. Dann rief er so selbstsicher wie möglich:

      »Es ist alles in Ordnung, ich bin jetzt auf dem Weg ins Erdgeschoss. Sie können sich beruhigen.«

      Die Worte galten ehrlicherweise ebenso gut ihm selbst. Er merkte tatsächlich, dass ihn seine Beine wieder sicherer trugen; also richtete er seinen Kamelhaarmantel und ging mit einstudierter Ruhe die letzten Stufen zum Eingangsbereich hinunter.

      »Da war nichts Merkwürdiges«, versicherte er, wurde aber gleichzeitig den Eindruck nicht los, dass ihre Blicke ihn durchschauten und seine hochtrabenden Lügen bloßstellten.

      Linda faltete die Arme über der Brust. »Nichts? Und was ist mit Ihrem Hut passiert?«, fragte sie.

      »Mit meinem Hut?« Er nahm den teuren Hut ab. Sah, dass er total ruiniert war und Blut am Schweißband klebte.

      »Sie bluten ja!«, stellte sie mit einem andeutungsvollen Unterton fest.

      »Äh... ich bin nur ausgerutscht und habe mich oben auf dem Dach gestoßen«, log er schwach. Er bürstete sich den Staub vom Mantel und schaltete wieder seine normale Beamtenstimme ein. »Wir werden morgen eine Streife schicken. Es schadet ja nichts, noch einmal bei Tageslicht zu gucken, aber, wie gesagt, ich habe nichts Merkwürdiges entdeckt.«

      Linda sah ihn sowohl ungläubig als auch enttäuscht an. »Na ja, aber hier ist ein Pflaster, für alle Fälle. Soll ich Ihnen helfen, es draufzukleben?«

      »Danke, das geht schon«, antwortete er und räusperte sich erneut ein wenig verlegen.

      Er vermied, ihrem Blick zu begegnen, und nahm das Pflaster dankend an. Vorsichtig betastete er die Stirn und drückte es auf eine unschön blutende Wunde. Die Stelle begann bereits ordentlich anzuschwellen, und er würde vermutlich genau auf Höhe des Hutbandes eine richtig reizvolle Beule davontragen.

      »Können wir denn jetzt schließen?«, fragte Bo Jernback.

      In seiner Stimme schwang Erwartung mit, und er war bereits dabei, die obersten Knöpfe seiner hellen Nappalederjacke zu schließen.

      Auch er wollte nach Hause.

      »Sicher, sicher!«, beeilte sich Sahlman zu antworten. »Doch es wäre vielleicht klug, die Touristen weiterhin zurückzuhalten, bis wir diese Sicherheitskontrolle hinter uns gebracht haben.«

      »Ach so«, sagte Linda und schaute den Kommissar jetzt noch ungläubiger an – warum eine Sicherheitskontrolle, wenn nichts gewesen war?

      »Ja, wie gesagt«, setzte Sahlman hinzu, »dann gute Nacht! Wir lassen morgen wieder von uns hören.«

      Draußen auf der Holztreppe sog er dankbar die feuchtkalte Abendluft ein und stieg vorsichtig die frostglatten Stufen herab. Hinter sich hörte er den Direktor und die Kassiererin, wie sie die Tür ins Schloss fallen ließen und ihre Schritte ihm die steile Treppe hinab folgten.

      Aber er wartete nicht. Wollte die Diskussion nicht unbedingt fortsetzen und damit eventuell riskieren, seine Lüge zu offenbaren.

      Es war spät geworden. Viel später, als Sahlman gedacht hatte, und es war unerträglich kalt draußen. Ja, selbst der Kamelhaarulster reichte kaum aus, um die Minusgrade abzuhalten.

      Er ließ die Festung und ihren Turm hinter sich. Ging eilends und fröstelnd die monumentalen Oscars trappor hinunter in Richtung Stortorget und überlegte, ob Utposten wohl heute Abend geöffnet hatte.

      Er brauchte wirklich dringend einen Drink.

      Nicht so sehr aufgrund der Kälte, sondern eher der beruhigenden Wirkung des Alkohols und wünschenswert netter Gesellschaft am Tresen wegen.

      Es wird doch wohl irgendwen geben, mit dem man ein bisschen Smalltalk halten konnte.

      Worüber? – das war ihm vollkommen gleichgültig. Über den Staatsminister und seine letzten Heldentaten vielleicht? Die Krise in der Altersfürsorge, die Vor- und Nachteile der vernetzten Gesellschaft und der Breitbandtechnik. Es war ihm völlig egal.

      Heute Abend war er willens, über alles zu sprechen. Nur nicht über Gespenster!

      Die Feuchtigkeit, die üblicherweise vom Sund herüberdriftete, nahm an diesem Abend bereits am Fähranleger Anlauf, glitt sachte hinauf über die Plätze, Straßen und Häuser und legte sich in Form von funkelnden Eiskristallen über alles, was ihr in den Weg kam.

      Mit einem mächtigen Gruß hüllte Väterchen Frost den winterkahlen Buchenwald von Pålsjö in ein wunderlich weißes Kleid, bevor er weiter zu den Industrie- und Wohngebieten in Richtung Osten zog.

      Er verzauberte alles, was seine nächtliche Route kreuzte.

      Wie mit einem magischen Zauberstab verwandelte er das mondäne Tågaborg, die Hochhaussiedlungen Drottninghög und Dahlhem ebenso wie die Industrieflächen von Berga in schöne Fantasielandschaften, die bei allen Kindern Entzücken auslösen würden, wenn sie sie am Morgen erblickten.

      Mietshäuser, Tankstellen, bunt erleuchtete Einkaufszentren und idyllische Einfamilienhäuser wurden der Reihe nach mit Frost überzogen und mit einem kristallenen Glitzern versehen. Schließlich legte sich selbiger in einer lebensgefährlichen Glasur auf den schwarzen Asphalt der Autobahnen E4 und E6 östlich der Stadt.

      Die Streufahrzeuge arbeiteten fieberhaft, um die Glatteisgefahr zu reduzieren, doch die ersten Wagen waren bereits von der Straße abgekommen, und unvorbereitete Autofahrer riefen in der lähmenden Kälte nach Hilfe.

      Sie hätten ebenfalls einen Drink nötig gehabt.

      Doch Sahlman benötigte mehr als einen. Er war schnell bei seinem dritten Gin Tonic im Kellerlokal Utposten. Bei der Bestellung Nummer drei hob der Barmann leicht die Augenbrauen, doch Sahlman selbst betrachtete seinen Alkoholkonsum in diesem Fall als unverzichtbare Gesundheitspflege.

      Rein logisch gesehen war das, was er erlebt hatte, völlig unerklärlich gewesen. Geradezu unwahrscheinlich – ja, um nicht zu sagen unmöglich.

      Rein theoretisch konnte


Скачать книгу