Die Frau im Schatten. Bodil Mårtensson
sah er die Tote fast entschuldigend an, als schämte er sich der Charakterisierung, die er ausführen wollte.
»Sie war selbstverständlich äußerst adrett, gepflegt und ohne Zweifel wohlhabend.«
Hill hörte weiterhin zu.
»Aber Bonbonpapier im Auto auf den Boden werfen, das tat sie wie jede andere nachlässige Schlampe«, schloss Anderberg ein wenig puritanisch.
Hill kümmerte sich nicht um die abschließende Wertung, sondern hielt sich entschlossen an die Fakten. »Du hast also Bonbonpapier auf dem Boden gefunden?«, fragte er.
»So ist es. Ein paar sind offensichtlich alt, wurden festgetreten und in die Gummimatte gedrückt. Aber es sind auch ganz neue dabei. Welche, die gerade erst ausgewickelt und nicht zertreten aussehen.«
Hills Augen leuchteten mit einem Mal neugierig, obgleich sich seine Zehen zu diesem Zeitpunkt bereits schmerzhaft erfroren anfühlten. Genau in dem Moment knirschte es auf dem frostüberzogenen Bürgersteig hinter ihnen, und Ulf Gårdeman kam mit neuen Zeugenaussagen über die Tote zurück.
Erst hatte natürlich der Mann, der sie gefunden hatte, seine Geschichte noch einmal erzählt. Aber dann wurden es immer mehr Menschen, die glaubten, etwas berichten zu können. Wie abgeschirmt und zurückgezogen die Leute auch zu leben versuchten – es fand sich doch immer jemand in der Umgebung, der mehr über sie wusste, als sie selbst ahnten.
Für die Fahnder kam es nur darauf an, sie ausfindig zu machen.
Und sie zum Reden zu bringen.
Ein Fall für Gårdeman, der so etwas wie ein sprachliches Chamäleon war. Er liebte es, sich mit den Leuten zu unterhalten, und hatte vertrauliche Gespräche schon fast zu einer der schönen Künste erhoben. Konnte sich innerhalb von Sekunden in die jeweils vorherrschende Stimmung versetzen, Dialekt und Jargon anpassen, um unmittelbar Vertrauen zu gewinnen. Auf diese Weise öffnete er Türen, die andere mit Dynamit hätten sprengen müssen.
Nur dieses Mal hatte es leider keine erhellenden Hinweise gegeben. Gårdeman klappte den Notizblock zu, stopfte ihn zusammen mit dem Stift in die Innentasche und blies den warmen Atem auf seine vom Schreiben erstarrten Fingerspitzen.
»Sie war Single«, teilte er kurz mit.
»Single?«
»Ja. Single in der Stadt.«
»Aber einen Typen muss sie doch wohl gehabt haben?«, insistierte Hill. »Ich meine...«
Für ihn ging die Gleichung nicht ganz auf.
Eine attraktive, schwangere Frau...
»Ich verstehe, was du meinst«, versicherte Gårdeman. »Ich dachte dasselbe. Aber die Zeugen, mit denen ich gesprochen habe, stimmen überein. Sie wohnte da hinten, und sie wohnte allein.«
Er zeigte die idyllische kleine Vorortsstraße hinauf, die sich weiter durch den Ort bis hin zum Strandstreifen am Sund schlängelte.
»Hatte ein kleines Reihenhaus ganz für sich allein«, setzte er hinzu. »Keine Kinder außer dem, das sie erwartete.«
»Hmm«, schnaubte Hill verlegen, »aber einer muss doch in jedem Fall der Vater... dieses Kindes sein!«
»Wer weiß«, seufzte Gårdeman, »vielleicht John Blund, vielleicht ein nächtlicher Schatten...?«
Er schaute sie an, wie sie so vollkommen unberührt blieb von den Mutmaßungen über ihr Liebesieben. Sie starrte nur weiterhin in den unendlichen blauschwarzen Kosmos, als wäre sie ein ätherischer Teil von ihm.
Aber nicht einmal ihre vornehme Schönheit konnte ihn an eine Jungfrauenempfängnis glauben lassen. Hill hatte natürlich Recht, vollkommen Recht – der Schatten war ohne Zweifel aus Fleisch und Blut, und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie ihn fänden.
»Wie heißt sie eigentlich?«, wechselte Hill das Thema.
»Das wussten sie nicht.«
»Und was arbeitete sie? Hast du das herausbekommen?«
Als er die Frage stellte, fiel ihm ein, dass sie vielleicht überhaupt keinen Beruf gehabt hatte. Sie schien viel zu wohlhabend dafür zu sein. War vielleicht eher mit einem silbernen Löffel im Mund geboren?
»Nein, nichts«, antwortete Gårdeman.
Hill bückte sich ein wenig und schaute sie fragend an. Als hoffte er, dass sie ihm selbst eine Antwort würde geben können.
Doch ihre Rätselhaftigkeit war vollkommen und auf ewig.
Der silbergraue Leichenwagen des Bestattungsunternehmens kam langsam die Straße hinaufgeschlichen. Er parkte unauffällig am Straßenrand und wartete auf seinen Einsatz.
»Okay, wir sind jetzt fertig«, teilte Anderberg mit und kletterte vorsichtig vom Rücksitz des Mitsubishi. »Ich glaube, wir haben alles gesichert, was in diesem Stadium möglich ist. Den Rest müssen wir morgen im Labor untersuchen. Du kannst jetzt ihre Tasche inspizieren, Hill.«
Es war eine zweifelhafte Ehre, die Kriminalkommissar Hill damit zugefallen war, und sie gefiel ihm gar nicht.
Als ob das Dämmerlicht des Irrealen die Tragödie nur verhüllte, so lange die nächtliche Ungewissheit noch vorherrschte. Als würde der Name des Opfers nicht zur Tatsache, bevor er nicht laut und deutlich ausgesprochen wäre.
Und er, Hill, war zur offiziellen Ausübung des Rituals ausersehen worden – derjenige, der ihr Schicksal besiegeln sollte, indem er ihre Identität preisgab.
Eine höchst zweifelhafte Ehre.
»Eines frag ich mich«, sagte Gårdeman halb zu sich selbst und lehnte sich mit dem Ellenbogen gegen die offene Autotür. »Was machte sie eigentlich an einem saukalten Abend wie diesem hier draußen...?«
»Was macht man an einem Abend wie diesem draußen?«, fragte Hill zurück.
»Ich meine, wenn sie schwanger war und so?«, setzte Gårdeman unberührt hinzu.
Hill fragte sich eigentlich dasselbe, doch er hatte keine passende Antwort.
War sie unterwegs gewesen, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen? Aber warum war sie dann hier sitzen geblieben?
Die Tasche lag noch auf dem Beifahrersitz, dicht neben der Toten und halb unter ihrer rechten Hüfte eingeklemmt. Die Techniker hatten sich damit begnügt, sie zu fotografieren.
Vorsichtig zog er sie hervor und nahm sie an sich. Echtes Kalbsleder, tippte er. Dunkles, teures Kalbsleder.
Die Tasche war schick und exklusiv, genau wie die Besitzerin selbst es gewesen war. Er öffnete sie und suchte in unzähligen Reißverschlussfächern, bis er endlich in einem seidengefütterten Fach die Brieftasche zusammen mit ihrem Filofax fand. Den würde er später durchgehen, doch die Brieftasche öffnete er sofort.
Auf dem Bild des Führerscheins war sie schmerzlich schön. Hübsch, lebendig und fröhlich. Er war vor sieben Jahren ausgestellt worden. In dieser Zeit hatte sie sich von einem vor Lebenslust sprühenden jungen Mädchen in eine sehr feminine Frau verwandelt. Der nächste Führerschein hätte ein anderes Bild der Inhaberin gezeigt, dachte er. Doch er würde nie erneuert werden.
Er studierte die Angaben auf dem Ausweis, bis es keinen stichhaltigen Grund mehr gab, seine traurige Pflicht länger hinauszuschieben. Keine richtig gute Ausrede, sie nicht – mithilfe der Angaben, die alle interessierten – auf die ewige Reise zu schicken.
»Anne Smitt«, sagte er müde und klappte die Brieftasche mit einem leisen Schnappen zu. »Ihr Name war Anne Smitt.«
17:39:02
Sahlman fühlte sich wie ein Idiot – weil es absolut idiotisch war, hier oben im Kärnan zu stehen und Erörterungen über das Geschlecht eines Gespenstes anzustellen.
»Und warum glauben Sie, dass es sich um einen... ihn handelt?«, wollte er wissen.
»Ich weiß nicht«, gab Linda Persson ein wenig